Hohenfelde . 130 Menschen suchen während einer Schicht Hilfe. Ärzte schicken keinen weg. Aber längst nicht alle sind dringende medizinische Fälle.

Vor wenigen Minuten noch war die 77-jährige Frau K. ungeduldig und herrschte Krankenschwester Jantje an. „Warum bin ich eingesperrt?“, fragte sie. „Ich will aufstehen!“ Da hatte sie bereits Stunden allein in Raum 9 im grellen Licht auf der Krankentrage verbracht und etliche Untersuchungen hinter sich. Mittlerweile war sie ein wenig durcheinander und wütend, weil sie nach Hause wollte. Jetzt liegt sie im Schockraum, und ein Team von Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern kämpft um das Leben der alten Frau.

Mit Rückenschmerzen nach einem Sturz war sie gekommen, mit einer Lungenembolie endet ihr Aufenthalt in der Notaufnahme des katholischen Marienkrankenhauses in Hohenfelde. Sie ist eine von mehr als 130 Patienten, die an diesem Tag in die Notaufnahme kommen. Frau K. wurde hier das Leben gerettet. Andere kommen mit vergleichsweise leichten Erkrankungen, die beim Haus- oder Facharzt behandelt werden müssten. Diese Fälle belasten alle Hamburger Notaufnahmen teilweise dramatisch. Allein am Katholischen Marienkrankenhaus beträgt der Anstieg 20 Prozent in fünf Jahren. Das Abendblatt hat das Team der Notfallambulanz am Marienkrankenhaus eine ganze Schicht lang begleitet – zwischen Mandelentzündungen und Herzrhythmusstörungen.

Der Apparat läuft. Ein Apparat, der aus zwei, zeitweise drei Ärzten besteht, aus einem Pfleger und zwei Krankenschwestern: Von einer Minute auf die andere ist Frau K. kollabiert. Für die Patientin ein Ausnahmezustand, für das Team Routine. Jeder weiß, was zu tun ist. Ohne viele Worte greift hier im Schockraum, auch Reanimationsraum genannt, ein Zahnrad ins andere wie bei einem Uhrwerk. Einem gut funktionierenden Uhrwerk. Da werden schnell blaue Plastikhandschuhe übergezogen, Dr. Michael Wünning, Leitender Arzt, legt einen Tubus, ein Pfleger stülpt der Patientin die Sauerstoffmaske darüber, Schwester Jantje Bogensee, die nur Schwester Jantje genannt wird, legt einen Zugang für den Tropf, Frau K. bekommt Heparin. Körperfunktionen wie Atmung und Herzschlag werden technisch überwacht.

„Frau K. machen Sie mal die Augen auf!“, ruft einer der Ärzte immer wieder. „Frau K. kriegen Sie genug Luft?“ Die Sauerstoffsättigung liegt bei 49 Prozent. Normal sind 90 bis 100 Prozent. Von Hektik ist nichts zu spüren. Welch ein Kontrast: Später wird Dr. Wünning sagen, dass das eine lebensbedrohende Situation war und dass die Arbeit in der Notaufnahme wie ein Mannschaftssport ist. „In der Fußballmannschaft braucht man verschiedene Charaktere, der Trainer guckt von außen auf das Ganze und koordiniert das Team. Wie beim Sport arbeiten wir nach antrainierten Spielzügen.“

Für jeden Spielzug gibt es bestimmte Zeitfenster. „Und wichtig ist, dass einer auch mal Wege für den anderen geht.“ Das machen die Schwestern, Ärzte und Pfleger selbstverständlich. Schwester Jantje guckt nicht nur regelmäßig nach ihren Patienten, sondern auch nach denen ihrer Kollegen. Eine Mannschaftsleistung. Gegen den ärztlichen Rat wollte Frau K. das Krankenhaus verlassen. Dass das Schreiben des Arztbriefes einen Moment gedauert hat, hat ihr das Leben gerettet. Die Untersuchung im Computertomografen zeigt eine Lungenembolie, mit der die alte Dame sofort auf die Intensivstation gebracht wird.

Keine 15 Minuten später sind Pfleger und Ärzte schon wieder mit anderen Patienten beschäftigt. Eine Verschnaufpause gibt es für sie nicht. Tempo ist angesagt. Stillstand gibt es nicht. Schwester Jantje wird in ihrer Schicht lediglich in den Aufenthaltsraum gehen, um Wasser zu trinken und einen Snack zu essen. Ein Tag in der Notaufnahme verschlingt Zeit und Raum. Von der Welt draußen bekommt man nichts mit. Außer an besonderen Tagen, wie dem Schlagermove, wenn die verkleideten, alkoholisierten Schlagerfans hier landen. Oder an heißen Sommertagen, wenn besonders viele alte Menschen mit Kreislaufbeschwerden kommen. Auf eine Schwester, einen Pfleger, kommen zehn Patienten. Insgesamt besteht das Zentrum für Notfall- und Akutmedizin aus 55 Schwestern, Pflegern, Medizinischen Fachangestellten und Ärzten aller Fachrichtungen. Die vorgesehene halbstündige Pause werden weder Schwester Jantje noch ihre Kollegen machen können. Mal wieder nicht.

Denn dieser Tag hat es in sich, die Notaufnahme ist besonders voll. Das benachbarte Krankenhaus St. Georg hatte sich sperren lassen. Das heißt, dass dort für einen gewissen Zeitraum keine Notfälle aufgenommen werden. Für das Team im Marienkrankenhaus bedeutet das: Noch mehr Rettungswagen kommen, noch mehr Rettungsassistenten bringen immer wieder neue Patienten. So viele, dass sie schon eine Warteschlange bilden und es kaum noch Tragen gibt. Obwohl es elf Behandlungsräume gibt, liegen die Patienten teilweise auf Tragen im Gang.

Am Nachmittag meldet sich auch die Notaufnahme des Marienkrankenhauses eine Stunde für internistische Fälle aus der Notfallversorgung für Rettungswagen ab, weil es keine Räume mehr gibt, keine Tragen. Dann wird aufgeräumt, wie Dr. Wünning das nennt, und sich alle Patienten angesehen. Trotz einer solchen Sperrung läuft die Hintergrundversorgung weiter, auch Patienten, die zu Fuß ins Zentrum kommen, werden behandelt.

Heute sind viele pflegeintensive Patienten, alte Menschen, die häufig niemanden haben, der sie versorgt und die deshalb ins Krankenhaus kommen. Ganz allein. So wie die 91-Jährige mit Rückenschmerzen. Kein Notfall, sondern altersbedingte Beschwerden. „Wir leben nicht mehr in Zeiten, in denen Familien sich umeinander kümmern. Viele alte Leute sind allein“, sagt Dr. Wünning. Von den 31 Patienten um 16.30 Uhr sind drei in einem lebensbedrohlichen Zustand.

Die Patientin mit Atemnot geht vor die Tür zum Rauchen

Während das Team hinten in der Zentralen Notaufnahme um das Leben von Frau K. kämpft, während eine 73-Jährige mit Herzrhythmusstörungen eingeliefert wird, eine Frau Blut spuckt, und ein 51-Jähriger mit Hexenschuss vor Schmerzen schreit, sitzen im vorderen Bereich die „Fußgänger“ im Wartebereich und ärgern sich über die langen Wartezeiten. „Die sehen nicht, wie viele Rettungswagen gerade Patienten durch einen zweiten Eingang bringen“, sagt Dr. Wünning. Hier vorne sitzen diejenigen, die so fit sind, dass sie eigenständig in die Notaufnahme kommen und Wartezeiten von vier bis sechs Stunden in Kauf nehmen. Auch dann, wenn sie lediglich Kopf- und Halsschmerzen haben und damit genauso zum Hausarzt hätten gehen können.

Weggeschickt wird niemand, aber vorsortiert. Denn die Notaufnahme am Marienkrankenhaus ist in drei Abschnitte aufgeteilt, auch um die eher leichteren Erkrankungen von den echten Notfällen zu trennen: Es gibt die Akutambulanz, die einer hausärztlichen Notfallpraxis entspricht, die kurzstationäre Notfallmedizin und die klassische zentrale Notaufnahme.

An diesem Tag sortiert Schwester Nicole Sommer vorn in der Anmeldung, Cockpit genannt, bis 18 Uhr 22 Patienten für die Akutambulanz vor. Frau Sommer wählt nach Dringlichkeit, nicht nach dem Zeitpunkt des Erscheinens, triagieren nennt sich das – von grün (weniger dringend) über blau ansteigend bis orange und rot (sehr dringend). Dr. Wünning: „Brustschmerzen sind immer dringend, bis zum Beweis, dass es kein Herzinfarkt ist.“ Unter den weniger dringenden Fällen ist ein 39-Jähriger mit einer Mandelentzündung, der ein Antibiotikum verschrieben bekommt, ein fünfjähriges Mädchen, das sich krank fühlt, eine 22-Jährige mit einer Blasenentzündung und eine 35-Jährige mit Kopfschmerzen.

Ein Pärchen – sie mit Bauchschmerzen, er mit Kopfschmerzen – verbringt seinen Abend auf den Stühlen in der Notaufnahme statt auf dem Sofa zu Hause. Stundenlang sitzen sie dort mit ihren Schmerzen. Ein böses Wort wird über die Patienten nicht verloren, aber den Kopf schütteln Frau Sommer und ihre Kollegin schon manchmal. So wie über die Frau, die am Abend über Atemnot klagt und sich kurz abmeldet, um vor der Tür eine Zigarette zu rauchen. Sie wird von 30 Minuten auf 90 Minuten trangiert – es wird also noch ein wenig länger für diese Frau dauern, bis sie an diesem Abend einen Arzt sieht.

Dann sind da noch diejenigen, die tagelang Beschwerden haben, um dann in die Notaufnahme zu marschieren, wie der 43-Jährige mit Bronchitis. Manchmal wird aus solch verschleppten Krankheiten ein Notfall: Gunda Dreier dachte, dass sich ihre Harnwegsinfektion ohne Arztbesuch bessert. Nun liegt sie auf einer Trage inmitten anderer Notfallpatienten, hat 39 Grad Fieber und eine Nierenbeckenentzündung. Die Stimmung ist trotzdem gut: „Die haben hier ein ganz tolles, freundliches Team“, sagt Frau Dreier, ihre Mitpatienten nicken zustimmend. Mit dem Rettungswagen war die 59-Jährige gekommen. „Ich hatte keine Zeit für einen Hausarzt“, sagt sie.

Also rief ihre Tochter den Rettungswagen, den Frau Dreier aber unbequem fand. „Die könnten die Krankenwagen besser ausstatten. Die Fahrt tat ja richtig weh.“ Die nächsten Tage wird sie nirgendwo hin fahren, sondern auf Station im Bett liegen.

Dr. Google macht die Patienten ungeduldiger und unsicherer

Frau Dreier war zu lange sorglos mit ihrem Harnwegsinfekt umgegangen. Viele Patienten aber, die gern jederzeit, ob am Morgen, Mittag, Abend oder am Wochenende in der Notfallambulanz erscheinen, machen sich hingegen zu große Sorgen. „Die Menschen verlieren das Gefühl für ihren Körper“, sagt Dr. Michael Wünning. Sie recherchierten im Internet, läsen dort womöglich Erschreckendes und könnten dann häufig einen Arzttermin nicht mehr abwarten und kämen stattdessen in die Notfallambulanz.

Dr. Google mache ungeduldig, so Wünning. „Typisch ist die Aussage: Beim Hausarzt ist es zu voll.“ Diesen Patienten kommt der 24-Stunden-Service in der Notfallambulanz zugute. So wie dem 18-Jährigen mit Lungenschmerzen, der nachts um zwei vorbeikam, nach der Disco. Die Hemmschwelle, in die Notaufnahme zu gehen, ist gering.

Damit ist die Taktung der Patienten enger geworden. Das bekommen vor allem die Pflegekräfte zu spüren. Schwester Jantje arbeitet seit siebeneinhalb Jahren in der Notaufnahme. „Wir haben ein großes Spektrum an Patienten, denen man schnell helfen kann“, sagt die 37-Jährige. Sie mag die medizinische Puzzlearbeit. Kollege Joaquin steht mit 45 Dienstjahren kurz vor dem Ruhestand. Seinen Nachnamen hat er überklebt wegen möglicher Übergriffe, die zugenommen haben.

Er sagt: „Es gibt Leute, die wegen jeder Lappalie zu uns kommen und eine Anspruchshaltung an den Tag legen.“ Früher haben die Kollegen füreinander das Essen gekocht, das sei heute nicht möglich. Zu groß ist das Arbeitsaufkommen. Waren es mal 80 Patienten am Tag, sind es jetzt 130 – bei gleicher Mitarbeiterzahl. Ob er seinen Beruf wieder wählen würde? „Nein“, sagt er. Es sei zu anstrengend geworden.