Hamburg. Todesserie bei Großkatzen stellte den Tierpark im vergangenen Jahr vor Rätsel. Nun beginnt die Arbeit mit Leoparden und Tigern von vorn.

Zunächst einmal, das ist die gute Nachricht, liegt hinter Dr. Michael Flügger eine der größten Hoffnungsträgerinnen bei der Erhaltung einer seltenen Tierart: Sie heißt Mor und ist ein Nordchinesisches Leopardenweibchen. Andererseits, und das ist der schlechte Teil der Geschichte, liegt hinter dem Tierarzt auch eines der dunkelsten Kapitel seiner Karriere. Und weil beides eng miteinander zusammenhängt, kann er nicht von möglichen neuen Zuchterfolgen erzählen, ohne auf die Niederschläge der Vergangenheit einzugehen. Selbst wenn 2016 ein gutes Jahr für Hagenbecks Raubkatzenzucht werden könnte. Denn neben der Leopardendame ist auch bei den Sibirischen Tigern ein neues männliches Zuchttier in Aussicht gestellt.

Flügger, langjähriger Veterinär im Tierpark, sitzt im ausnahmsweise erfreulichen Wetter des Hamburger Winters. Doch um das alles der Reihe nach zu erzählen, reichen nicht mal ihm drei Sätze. Sonst ist der Mann ein Meister der lakonischen Antwort auf komplexe Fragestellungen. Aber nun referiert er schon seit zehn Minuten über bakterielle und virale Entzündungen, über Tierbauchnäbel und Meningitis, über Säuglingssterblichkeit und Reproduktionsraten, über Tod und Teufel. Auch ihm fällt es schwer, eine Erklärung für all das zu finden. Das vergangene Jahr sei „furchtbar“ gewesen. Sowohl für die seltenen Sibirischen Tiger als auch für die noch selteneren Leoparden.

Neu aus Berlin: Leopardenweibchen Mor
Neu aus Berlin: Leopardenweibchen Mor © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Hinter einem der bekanntesten Tierparks der Welt liegt ein mysteriöses Raubkatzensterben. Die Bilanz des Jahres 2015 liest sich wie eine Bilanz des Schreckens: Binnen weniger Wochen starben zwei Tigerbabys, ein Leopardenjungtier, ein adultes Tigermännchen und ein Leopardenweibchen. Die vielversprechenden Hamburger Ansätze im Europäischen Erhaltungszuchtprogramm (EEP) – auf einen Schlag dahingerafft. „So etwas habe ich in 24 Jahren auch noch nicht erlebt“, sagt Flügger. Einige witterten sogar dunkle Mächte, sprachen von einem Fluch.

Zur Erinnerung: Vom ersten Tigernachwuchs nach 13 Jahren im Tierpark war ein Jungtier schon nach wenigen Tagen aus ungeklärten Gründen gestorben. Mutter Maruschka hatte es aufgefressen, kein ungewöhnliches Verhalten bei Erstgebärenden. Das zweite Tigerjunge starb kurz darauf nach einer bakteriellen Nabelinfektion, die sich zu einer tödlichen Hirnhautentzündung ausgeweitet hatte. Und im Juni erkrankte auch Tigervater Lailek im besten Zuchtalter an einer Nervenentzündung. Er starb nach einer Not-OP an nicht eitriger Hirnhautentzündung.

Doch damit nicht genug: Auch die Nordchinesischen Leoparden, eine der seltensten Großkatzen weltweit, verloren ihren Nachwuchs nach einer bakteriellen Entzündung. Im Herbst musste dann das Leopardenweibchen Basja wegen Ausfallerscheinungen operiert werden. Dabei wurden dem Tier vier halb verweste Jungtiere aus dem Bauch geschnitten, es selbst überlebt den Eingriff nicht. „Verschleppte Geburt“, sagt Flügger. Macht fünf tote Raubkatzen in einem Jahr, wenn man die ungeborenen Leoparden dazu zählt: sogar neun. Für Flügger „der Super-Gau“.

Nach dem „furchtbaren“ Jahr 2015 blickt Tierarzt Dr. Michael Flügger nach vorn
Nach dem „furchtbaren“ Jahr 2015 blickt Tierarzt Dr. Michael Flügger nach vorn © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Bei dem sonst nüchternen Tierarzt geht eine solche Äußerung fast als Gefühlsausbruch durch. Tröstlich, wenn es im Schlechten etwas Gutes gebe, seien allein die nun vorliegenden Obduktionsergebnisse, wonach es keinen erkennbaren Zusammenhang bei der Todesserie gegeben hat. „Es gab weder einen Todeskeim noch einen Sabotageakt“, sagt der Tierarzt. 2015 war schlicht ein Katastrophenjahr für die Zuchtbemühungen des Tierparks. Denn im EEP geeigneten Ersatz für gestorbene Großkatzen zu bekommen, ist schwierig. Von den Sibirischen Tigern gibt es 260 Exemplare in europäischen Zoos und etwa 450 in freier Wildbahn, bei Nordchinesischen Leoparden sind es nur 70 in Gefangenschaft. Neue Tiere müssen vom jeweiligen Zuchtkoordinator auf Gene und Eignung geprüft werden. Ein langes Verfahren.

Der männliche Leopard hat den weiblichen Neuzugang aus Berlin akzeptiert

Da Flügger im Fall der Leoparden selbst die Zucht koordiniert, kann sich seine Miene allerdings schon wieder aufhellen. Mit Blick auf Neuzugang Mor, ein dreijähriges Weibchen aus dem Berliner Tierpark, steigen die Chancen auf baldigen Nachwuchs. Lotar, der schon 17 Jahre alte männliche Leopard, habe das neue Weibchen im Gehege akzeptiert. Ein gutes Zeichen bei sonst einzelgängerisch lebenden Großkatzen. Zumal Lotar die Zuchthoffnungen zusätzlich nährt. Der männliche Leopard habe eine „seltene Blutlinie“, sei deshalb enorm wichtig für den Erhalt der raren Unterart. Nur 20 Zoos halten Panthera pardus japonensis. Gerade bei den Nordchinesischen Leoparden ist unklar, wie viele Tiere es überhaupt noch auf der Welt gibt. Im chinesischen Verbreitungsgebiet gebe es kaum belastbare Zahlen, die Art gilt bei schrumpfendem Lebensraum als „stark gefährdet“.

Europaweites Programm

Der Tierpark Hagenbeck beteiligt sich an unterschiedlichen Europäischen Erhaltungszuchtprogrammen (EEP). Für die Onager und die nordchinesischen Leoparden hat Hagenbeck unter allen beteiligten Zoos auch die EEP-Koordination. Das Ziel dieser europaweiten Zucht besteht darin, die Tiere so nachzuziehen, dass sie sich von der wilden Population nicht unterscheiden. Deshalb gilt es, Inzucht, den Verlust der genetischen Vielfalt und eine unnatürliche Selektion zu vermeiden.

Der Zucht-Koordinator jeder einzelnen Tierart muss deshalb wissen, wer mit wem verwandt ist. Aus diesem Grund bekommt jedes Tier einen Mikrochip, sein „Stammbaum“ wird in den Zuchtbüchern vermerkt. Anhand der Abstammung und anderer genetischer Faktoren wird im Zuchtprogramm festgelegt, wer für Nachwuchs sorgen soll. Um möglichst erfolgversprechende Paarungen zu bekommen, tauschen die Zoos daher Tiere, die am EEP teilnehmen.

Mit den Europäischen (ESB) und Internationalen Zuchtbüchern (ISB) werden europa- beziehungsweise weltweit Daten von bedrohten Tierarten gesammelt und abgeglichen, für die es noch keine speziellen Zuchtprogramme gibt. Im Hamburger Tierpark werden auf diesem Weg unter anderem die Roten Riesenkängurus, die Asiatischen Kurzkrallenotter und die Kattas im ESB und die Sumatra-Orang-Utans, die Sibirischen Tiger oder die Mandschuren-Kraniche im ISB geführt.

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Und auch bei den Sibirischen Tigern, bewegt sich etwas. Dem Hamburger Tierpark wurde ein neues Männchen von der Londoner Zuchtkoordinatorin empfohlen. Noch im Frühjahr soll das neue Tier aus einem Zoo im kasachischen Almaty hier eintreffen. Mehr als 6000 Kilometer Luftlinie waren in diesem Fall nötig, um ein genetisch passendes Tier zu finden. „Der Tiger wurde im Juni 2013 geboren und gilt als wichtig im EEP“, sagt Flügger. Derzeit würden die Formalien geklärt und der Transport organisiert. Dann fehlt nur noch die Zuchterlaubnis aus London, und der Tierpark kann sich auch bei den Tigern der Zukunft zuwenden.