Im Feinkostladen mit Café von Jennifer Hinze wird bald auch Alkohol ausgeschenkt – zu feiern gibt es noch nichts. Teil fünf der Serie.

Der Laden ist leer. Es ist kurz nach zehn. Jennifer Hinze, 34, steht hinter dem Tresen und rührt Haferflocken mit heißem Wasser an. Sie schneidet einen Apfel in die Schüssel und isst im Stehen ein paar Löffel. Sie hat noch nicht gefrühstückt. So wie jeden Morgen, seit sie Anfang Dezember ihr veganes Feinkostgeschäft Grete Schulz mit angeschlossenem Café eröffnet hat. Seit sie jeden Tag um sechs oder halb sieben im Laden sein muss, um alles vorzubereiten. Seit sie ein Leben wie im Zeitraffer führt. Führte. Bis Jetzt.

Jetzt ist alles anders. Jetzt ist Januar. Und im Laden ist „krass wenig los“. Sagt Jennifer Hinze. Gefrühstückt hat sie trotzdem noch nicht. Vielleicht, weil es Gewohnheit ist. Vielleicht, weil sie sich zu viele Gedanken macht. Sorgen. Sie rührt in ihrem Müsli, dann legt sie den Löffel zur Seite. Erzählt, wie wenig Kunden kommen. Wie wenig sie kaufen. Und wie wenig Umsatz sie derzeit macht. Weniger, als sie kalkuliert hat. Weniger, als sie täglich braucht, um ihre laufenden Kosten zu decken.

Neue Internetseite und Postkarten sollen Laden bekannter machen

Sie weiß, dass das normal im Januar sein soll. Weil Anfang des Jahres viele periodische Ausgaben wie für Versicherungen anfallen und die Leute wieder mehr aufs Geld achten – „und auf die Figur“, sagt Jennifer Hinze und lacht. Dann wird sie wieder ernst. Der Januar sei eben der Monat der guten Vorsätze und des Verzichts. Und das merkt man auch bei ihr im Café. Ja, sie weiß, dass das normal sein soll und in ein paar Wochen wieder anders wird. Aber Gedanken macht sie sich trotzdem. Gedanken und Sorgen.

Wenn es besonders schlimm ist, setzt sie sich hin und überlegt, was sie tun kann. Was sie ändern kann. Wie sie neue Kunden bekommt. Den Umsatz steigert. Aus den roten Zahlen rauskommt. Sie hat sich vorgenommen, nicht die Nerven zu verlieren. Ruhe zu bewahren. „Es bringt ja nichts, sich verrückt zu machen“, sagt Jennifer. „Es gibt Faktoren, die ich gerade nicht beeinflussen kann. Damit muss ich leben.“ Sie will die Zeit zu nutzen. Um ihre Website aufzubauen, Werbung zu machen, Flyer zu verteilen, an ihrer eigenen Produktlinie zu arbeiten, neue Geschäftsideen zu entwickeln und erforderliche Anträge zu stellen.

Jennifer redet und redet. Blüht auf. Vergisst die Sorgen. Erzählt von ihrer Internetseite, die eine Grafikerin entworfen hat und die heute online geht. Von den zwei Domains, die sie sich hat sichern lassen, damit man sowohl über die Adresse www.greteschulz.de als auch über www.grete-schulz.de zu ihr gelangt. Von den Schlagworten auf ihrer Website, damit sie möglichst schnell über Google gefunden wird. Dann springt sie auf und zeigt die neuen Postkarten, die sie hat drucken lassen (1000 Stück für rund 30 Euro) und die sie in den nächsten Wochen an der U-Bahn verteilen will.

400 Euro musste Jennifer Hinze zahlen, um Alkohol ausschenken zu dürfen

Der Laden ist leer. Es ist kurz vor elf Uhr. Von ihrem Frühstück hat sie nur ein paar Löffel gegessen. Das kann warten. Jetzt geht es erstmal um ihren Laden. Und ihre Pläne. Sie plant, eine Cake-Party zu veranstalten, ein Kuchenbuffet mit Prosecco, und das Wochenend-Frühstück auch werktags anzubieten. Bisher gibt es unter der Woche nur fertig geschmierte und belegte Ciabattas und Croissants sowie Salate und Suppen. Doch künftig sollen dann auch die „Süße Grete“ (Croissants, Marmelade, vegane Butter) sowie „Gretes Frühstück“ (Brot, Brötchen, Marmelade, Antipasti und Dips) auf der Speisekarte stehen. „Ach so, apropos! Im März bekommen wir auch endlich unsere Speisekarte“, sagt Jennifer Hinze und macht eine Pause. Sie will ein bisschen die Spannung steigern, für die Neuigkeit, die sie noch in petto hält. „Dann schenken wir auch Alkohol aus.“

Die Konzession hat sie schon, mehr als 400 Euro musste sie dafür bezahlen. Doch sie glaubt, dass sich das lohnt. Dass die Nachfrage nach Bier und Wein im Frühling und Sommer groß sein wird. Wenn das Wetter besser wird und sie draußen Tische und Stühle aufstellen. Das Bier ist schon geliefert worden. Wie viele Plätze es draußen gibt? Sie zuckt die Schultern, fragt ihre Mitarbeiterin Duygu, 28, die bereits in dem Café Fräulein K. gearbeitet hat, das vorher in den Räumlichkeiten am Stellinger Weg 38 a war. „Es sind 30 Plätze“ ruft Duygu irgendwo aus dem Hintergrund, während sie frisches Wasser in die Blumenvasen füllt. Die Gebühren für die Außengastronomie betragen vier bis acht Euro pro Quadratmeter, mindestens aber 50 Euro. Monatlich. Das Antragsformular hat Jennifer schon. Sie muss es nur noch ausfüllen.

Duygu arbeitet jetzt voll bei Grete Schulz. Nicht nur nebenbei. So wie Jennifer es anfangs geplant hatte. Wie sie es einkalkuliert hatte. Wie sie es bei der Aufstellung der Kosten berechnet hat. Dadurch sind die Personalkosten um rund 300 Euro angestiegen. Auf mehr als 3700 Euro für Duygu, Koch Daniel und eine Aushilfe am Wochenende. „Ich hab lange überlegt, ob ich das machen soll“, sagt Jennifer Hinze und zählt die Gründe auf, warum sie sich letztendlich dafür entschieden hat. Weil die Motivation, einen Laden mit aufzubauen und „echt was zu reißen“ bei jemandem in Vollzeit einfach deutlich höher ist als bei einer Teilzeit-Aushilfe. Weil sie am Anfang so viel zu tun hatte, dass sie es alleine nicht geschafft hat. Und weil sie trotzdem noch 90 Stunden die Woche arbeitet. Auch wenn der Laden jetzt oft leer ist. „Aber ich denke, dass sich die Mehrkosten lohnen, weil wir mit einem starken Team mehr Kunden gewinnen, als wenn ich gestresst alleine im Laden stehe und nichts schaffe“, sagt Jennifer.

Das Problem: Da die Küche im hinteren Teil des Geschäftes ist, sie den Laden vorne aber nicht alleine lassen möchte, kann sie während des laufenden Betriebes nicht einfach in die Küche gehen – und damit auch keinen Kuchen backen, kaum ein paar Brote schmieren, kein Geschirr in die Spülmaschine räumen. Sie kann nicht einkaufen, keine Behördengänge erledigen. Das geht nur vor oder nach Geschäftsschluss – oder, wenn sie zu zweit im Laden sind und jemand die Stellung hält. Trotzdem: Sie muss gucken, wie lange sie die hohen Personalkosten tragen kann. Wie lange die Doppelbesetzung finanzierbar ist. Wie lange sie so hohe Verluste machen kann.

Hotel- und Gaststättenverband kennt die Sorgen um den Januar-Umsatz

Der Laden ist leer. Es ist halb zwölf. Gerade war ein Kunde da und hat einen Kaffee gekauft. Für 2,80 Euro. Der Kaffee läuft gut, die Marge ist hoch. Rund drei Euro kostet eine Tasse durchschnittlich. Bei einem Wareneinsatz von 65 bis 70 Cent für Pulver und Mandel- oder Sojamilch bleiben rund 2,35 Euro übrig. Geld, mit dem die Anschaffungskosten für die Kaffeemaschine getilgt werden müssen. Rund 7000 Euro. Dafür muss sie rund 2978 Tassen verkaufen. Derzeit sind es 30 Pro Tag.

Jennifer Hinze packt ihre Sachen zusammen, sucht den Autoschlüssel. Sie muss einkaufen, will in die Metro fahren. Mit einem Car-Sharing-Wagen. Ein eigenes Auto hat sie nicht. „Auf Dauer muss ich allerdings mal durchrechnen, ob es vielleicht günstiger wäre, sich einen eigenen Pkw zuzulegen, als ständig Car-Sharing zu machen“, sagt Jennifer. Anfangs dachte sie noch, sie schafft es ohne Auto. Jetzt merkt sie, dass sie für viele Sachen einfach einen Wagen braucht. Wenn sie einen Großeinkauf macht oder zur Metro muss. Oder wenn sie wegen des Wetters kein Rad fahren kann. So wie heute. Draußen ist Schmuddelwetter, die Straßen sind glatt. Die Leute hasten vorbei. Der Laden ist leer. Es ist viertel vor zwölf.

Gestern hat sie nur 160 Euro Umsatz gemacht. 400 Euro müssten es sein, um die laufenden Kosten zu decken. Kurzfristig. Langfristig, wenn der Gründerzuschuss der Arbeitsagentur wegfällt und sie irgendwann ihren Kredit tilgen muss, sind 600 Euro erforderlich. Täglich. Im Dezember hat sie das an einigen Tagen geschafft. Im Januar nur ein einziges Mal. Der Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) kennt das Problem. Kennt die Klagen, kennt die Sorgen der Gastwirte. Und kennt die Zahlen dahinter. „Man kann davon ausgehen, dass der Umsatz im Januar in der Branche gegenüber dem Weihnachtsgeschäft insgesamt um zehn bis 20 Prozent geringer ausfällt – und in Einzelfällen sicher noch erheblich darüber hinaus“, sagt Gregor Maihöfer, Hauptgeschäftsführer der Dehoga Hamburg. Die beiden Monate am Jahresanfang seien in den meisten Betrieben diejenigen mit den geringsten Umsätzen.

Der Laden ist leer. Es ist gleich 12 Uhr. Vor ein paar Minuten war eine Kundin da und hat sich nach den selbstgemachten Marmeladen erkundigt, die es beim Frühstück gibt – und die Jennifer Hinze so schnell wie möglich in den Verkauf bringen will. Gretes eigene Produktlinie. Doch zwischen Idee und Umsetzung liegt noch ein weiter Weg. Vorher müssen die rechtlichen Bedingungen abgeklärt und ein Labor mit einer Nährwertanalyse beauftragt werden. Eine Liste mit zugelassenen Laboren hat sie bereits vom Institut für Hygiene bekommen. Jennifer erhofft sich viel von dem Verkauf hausgemachter Chutneys, Pestos und Marmeladen. Weil der Wareneinsatz geringer ist, als wenn sie Produkte anderer Manufakturen verkauft. Weil die Marge dann höher ist. Weil sie sich dann nicht so viele Sorgen machten müsste. Weil sie dann eine zusätzliche Einnahmequelle hätte. Eine Sicherheit.

Nach Angaben der Kreditanstalt für Wiederaufbau beenden monatlich etwa ein Prozent der Gründer eines Jahrgangs ihre Selbstständigkeit wieder. Innerhalb der ersten fünf Geschäftsjahre sind etwa 40 Prozent der Unternehmensgründungen eines Jahrgangs wieder vom Markt verschwunden. Etwa ein Fünftel dieser Unternehmen, das heißt jedes zehnte neu Gegründete muss Insolvenz anmelden und finanzielle und soziale Einschnitte bewältigen.

Der Laden ist leer. Es ist zwölf Uhr. Eine Kundin kommt herein und bestellt ein Brot. Für den nächsten Tag.