Hamburg. Längere Zeit schwelte ein Streit über Bezahlung und Arbeitszeiten in der größten deutschen Brillenfabrik in Rathenow.

Schlechte Nachrichten sind für den Unternehmer Günther Fielmann eigentlich ein Fremdwort. Rekordgewinne, Jahr für Jahr. Verwöhnte Anteilseigner, denn der Fielmann-Aktienkurs steigt so zuverlässig wie die Elbe bei Hochwasser. Seine Auszubildenden gewinnen reihenweise Preise, der Vorstandschef überreicht lächelnd Blumen an die besten Jung­optiker, brav knicksend nehmen sie die Glückwünsche des Patriarchen entgegen – und das Publikum klatscht. Auch als Privatmann möchte Günther Fielmann die Erde ein wenig besser machen. Er betätigt sich als Biobauer und lässt sich gerne mit seinen Rindern fotografieren. Heile Welt wie in der Werbung. Brille? Fielmann!

Und dann das. Im vergangenen Jahr macht die Nachricht die Runde, im Werk des Brillenkonzerns in Rathenow (Brandenburg) hinge der Haussegen schief. Fielmann liest Schlagzeilen mit dem Vorwurf, seine Beschäftigten im Osten beschwerten sich über Lohndumping. Sie klagten über Arbeitszeiten, die krank machen. Das ist gut ein halbes Jahr her. Jetzt hat der Konzern nach Abendblatt-Informationen eine Betriebsvereinbarung getroffen. Die Ungerechtigkeiten, welche die Beschäftigten beklagt haben, sollen damit ein Ende haben. Die maximale Arbeitszeit in der Woche wird auf 48 Stunden beschränkt, darüber hinaus gehende Einsätze müssen mit dem Betriebsrat verhandelt werden und sind freiwillig. Schichten am Sonnabend werden durch Zuschläge und Tankgutscheine versüßt. „Alle Grundentgelte wurden zum 1. Januar um sieben Prozent erhöht“, fasst Personalleiter Jochen Prieß, seit mehr als zehn Jahren für Fielmann tätig, die Neuerungen zusammen. „Wir werden die Mehrarbeit jetzt attraktiver vergüten.“

Lars Buchholz, bei der IG Metall Brandenburg für das Brillenwerk verantwortlich, sieht die vor wenigen Tagen unterzeichnete Vereinbarung mit gemischten Gefühlen: „Für den Betrieb in Rathenow bedeutet die Regelung eine Revolution, in anderen Firmen würde sie nur ein Gähnen auslösen“, resümiert der Gewerkschafter. Bei etlichen Arbeitgebern der Region verdienten die Beschäftigten auch nach dem jetzigen Entgegenkommen besser als bei Fielmann, Buchholz nennt in diesem Zusammenhang die Heidelberger Druckmaschinen und den Autozulieferer ZF als Beispiele für eine großzügigere Bezahlung. Knut-Olav Banke, Anwalt des Betriebsrates bei Fielmann, bezeichnet den von Geschäftsleitung und Arbeitnehmerseite verhandelten Kompromiss dagegen als „fair“.

Die Einigung steht, aber sie hat eine lange Vorgeschichte. Wie konnte es dazu kommen, dass sich Fielmann, zumal auf den ersten Blick völlig ohne Not, in ein solches Imagedesaster manövriert hat? Ein Unternehmen, das jedes Jahr hohe Gewinne erwirtschaftet, rund 600 Millionen Euro Eigenkapital angehäuft hat, soll unterhalb des Mindestlohns gezahlt haben?

Als sich die Meldungen aus Rathenow im Frühsommer verbreiten, hängen die Kommunikationsexperten des Konzerns bis in de Nacht über Erklärungsversuchen, die sie an die Presse versenden. Ein Beispiel: Fielmann bezog bei der Berechnung des Mindestlohns Zulagen der Mitarbeiter mit ein, die diese bisher als eine Art Treueprämie nach längerer Beschäftigung für den Arbeitgeber bekommen haben. „Die rechtliche Prüfung hat ergeben, dass die Entgeltgruppenzulage in der jeweils monatlich gewährten Höhe auf den Mindestlohnanspruch anrechenbar ist“, schreibt die Rathenower Optik GmbH damals in einer Stellungnahme an das Abendblatt. Der Betriebsrat hatte beklagt, dass vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns etliche Mitarbeiter unter dieser Messlatte bezahlt worden waren.

Als sich im Sommer die Vorwürfe häufen, werden Experten wie Prieß von der Zentrale nach Rathenow gesendet. Sie sollen in der größten Brillenfertigung Deutschlands zurechtbiegen, was so ganz offensichtlich aus dem Lot geraten ist. Ob Günther Fielmann von den Einzelheiten wusste, ist unklar. Der Gründer war zuletzt Ende 2014 in seiner Produktion. Sein Sohn Marc, der neuerdings das Marketing des Konzerns als Vorstand leitet, besuchte das Werk im Dezember.

Das Abendblatt bekam nun die Erlaubnis, sich selber in Rathenow ein Bild von der Situation in der Optikfa­brik zu machen. Drei Stunden Fahrt Richtung Berlin, trostlose Ost-Realität mit grauen Dörfern, aufgegebenen Läden, Tankstellen als wichtige Versorgungsmöglichkeit. Und dann: In einem Gewerbegebiet mit etlichen Brachflächen, Ankunft vor der Fabrik.

Draußen die S-Klasse der für den Pressetermin abgesandten Hamburger Manager vor der Tür. Drinnen lange Werkbänke, an denen sich die Mitarbeiter, meist Frauen im mittleren Alter, mit zusammengekniffenen Augen Brillen vor die Nase halten. Ist der dunkle Fleck auf dem Glas ein Kratzer oder nur ein Staubkorn? Diese komplizierte Kontrolle können auch heute noch keine Kameras leisten, das menschliche Auge ist gefragt. Und monotone Millimeterarbeit.

Stolz auf ihre
Produkte:
Personalleiter
Jochen Prieß (v.l.)
und die
Geschäftsführer des
Fielmann-Werkes
in
Rathenow, Michael
Ferley und Günter
Schmid
Stolz auf ihre Produkte: Personalleiter Jochen Prieß (v.l.) und die Geschäftsführer des Fielmann-Werkes in Rathenow, Michael Ferley und Günter Schmid © HA | Klaus Bodig

Genau hier, wo sich der Erfolg des Marktführers mit seinem Mix aus eigener Fertigung und eigenen Filialen Tag für Tag entscheidet, wo der Perfektionist Fielmann keine Fehler dulden darf, hatte sich der Streit um Arbeit und Lohn entzündet. Aus der Werkshalle treten täglich rund 14.000 Brillen ihren Weg in die Läden an, und hier hatte in Spitzenzeiten der Stress regiert, hieß es aus dem Betrieb. Bis zu 50 Stunden in der Woche mussten die Beschäftigten arbeiten, wenn die Nachfrage aus den Filialen hochschnellte. Wenn im Sommer Millionen Menschen zugleich neue Sonnenbrillen bestellten, wenn ein schönes Wochenende zu langen Schlangen in den Geschäften von Fielmann führte. Immer dann, so geben die angereisten Chefs zu, waren kurzfristige Einsätze am Wochenende und Überstunden die einzige Lösung, um die Lieferungen abarbeiten zu können. „Wir brauchen in Spitzenzeiten Überstunden“, sagt Michael Ferley, Geschäftsführer in Rathenow. „Der Betriebsrat hat erkannt, dass wir die
Flexibilität für unsere Dienstleistung benötigen“, ergänzt Prieß. „Der Kunde sagt uns nicht vorher, wann er in den Niederlassungen kauft.“

Nach den Verhandlungen mit dem nach Angaben des Arbeitgebers „heillos zerstrittenen Betriebsrat“ ist auch die Anrechnung der Treueprämie vom Tisch. „Rückwirkend zum 1. Januar 2015 wurde auf die Anrechnung der Zulage verzichtet“, sagt Prieß. Vor Einführung des Mindestlohnes seien nicht einmal 20 Beschäftigte unter dieser ab Januar 2015 definierten Lohngrenze bezahlt worden, betont der Personalchef. Heute verdienten auch ungelernte Mitarbeiter mindestens 1500 Euro im Monat. Schmid, ein weiterer Hamburger Geschäftsführer, verweist auf die Konkurrenz. „Wir stehen im Wettbewerb mit anderen Dienstleistern“, sagt der Chef. Das Unternehmen sieht sich als Produzent, Agent und Filialist, er will die gesamte Wertschöpfungskette abbilden. Jede verkaufte Fassung läuft über Rathenow, fast alle Gläser werden hier gefräst und geschliffen. Wenn Essilor oder Zeiss für Fielmann in Vorleistung treten und die Gläser selbst für die Kunden schleifen, zahlt Fielmann gut zehn Euro für diesen Service. Mit diesem Preis müssen die Rathenower mithalten.

Die neue Regelung grenzt den Zugriff auf die Beschäftigten ein, es wird aber weiterhin großer Druck herrschen in der Fabrik am Rande der Stadt. Fielmann plant mittelfristig 700 Filialen, das bedeutet einen Zuwachs von 110 Geschäften. Jeder neu eröffnete Laden bringt mit sich, dass pro Jahr 9000 Fassungen zusätzlich in Rathenow mit den Gläsern „verheiratet“ und geprüft werden. Um den Durchsatz erhöhen zu können, hat Fielmann in Rathenow zuletzt 15 Millionen Euro in neue Anlagen investiert, das Lager ausgebaut und Flächen im Gewerbegebiet für die Expansion gesichert.

„Wir wollen im laufenden Jahr auch noch einmal 50 Mitarbeiter einstellen“, sagt Schmid. Schließlich sind, etwa in der Qualitätskontrolle mit dem Staubkörnchenproblem, nach wie vor Menschen statt Maschinen gefragt. In Rathenow herrscht eine auch in guten Wirtschaftszeiten noch erhebliche Arbeitslosigkeit von gut elf Prozent. Aus dem brandenburgischen Einzugsgebiet will sich Fielmann gerne bedienen und weitere Arbeitsplätze für den Ausbau des Werkes schaffen.

Gewerkschafter Buchholz ist in diesem Punkt allerdings eher skeptisch: Das Image von Fielmann müsse sich jetzt erst einmal verbessern, sonst bewerbe sich niemand in der Fabrik. Buchholz: „Wer bisher etwas anderes in der Gegend bekommen hat, ist nicht zu Fielmann gegangen.“