Hamburg. Übergriffe auf Frauen gab es auch am Jungfernstieg. Videoüberwachung wird wieder aktiviert. Zahl der Anzeigen steigt weiter.
Sie demütigten sie, begrapschten, jagten und beraubten sie – doch von den Tätern, die in der Silvesternacht auf dem Kiez ähnlich wie am Kölner Hauptbahnhof Dutzende junge Frauen im Alter von 18 bis 25 Jahren sexuell belästigt haben, gibt es bisher keine brauchbaren Bilder. Damit sich so etwas nicht wiederholt, hat die Polizei am Donnerstag beschlossen, die außer Betrieb gesetzte Videoüberwachung an den Wochenenden wieder zu aktivieren.
Die zwölf schwenkbaren Kameras waren 2006 angeschafft worden, um den Kriminalitätsschwerpunkt Kiez zu überwachen. Sie mussten 2011 wieder abgestellt werden, nachdem eine Anwohnerin erfolgreich geklagt hatte.
Zahl der Anzeigen auf 70 gestiegen
Die Zahl der Anzeigen wegen sexueller Belästigung in der Silvesternacht ist unterdessen weiter gestiegen – von 27 am Dienstag auf mittlerweile 70 am Donnerstagnachmittag. Drei dieser Taten wurden am Jungfernstieg verübt. In 23 Fällen sind die Frauen zusätzlich auch bestohlen oder beraubt worden. Auch sind zwei Fälle von Körperverletzung angezeigt worden. Bisher sind knapp 100 Hinweise auf die Täter eingegangen, bei denen es sich um etwa 20 bis 40 Jahre alte Männer mit „südeuropäischem, nordafrikanischem oder arabischem Aussehen“ handeln soll. Das haben alle Opfer ausgesagt.
Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer hat zur Aufklärung der Taten eine Sonderkommission eingesetzt. Darüber hinaus wird im Bereich der Reeperbahn die polizeiliche Präsenz erhöht. „Wir wollen deutlich machen, dass Frauen keine Angst haben müssen, wenn sie auf dem Kiez feiern", sagte ein Polizeisprecher.
Allzu viel weiß die Polizei aber noch nicht: Waren die Täter in mehreren, zwischen fünf und 20 Personen großen Gruppen unterwegs? Was hat sie angetrieben? Gier? Lüsternheit? Hass auf Frauen? Von allem etwas? Eine These der Ermittler ist, dass es sich um „Antanz-Trickdiebe“ handeln könnte. Bei dieser seit Langem bekannten Masche auch nordafrikanischer Krimineller werden Männer und Frauen auf dem Kiez abgelenkt, indem sie fröhlich angetanzt werden – zack, ist die Brieftasche weg. Möglicherweise seien die Täter Silvester so betrunken gewesen, dass die Sache mit dem Antanzen aus dem Ruder lief, sagt Jörg Schröder. Dagegen spricht, dass die meisten Anzeigen nur sexuelle Belästigungen und keine Diebstähle umfassen – und dass es ausschließlich Frauen waren, die angegriffen wurden. Unklar ist auch, ob es einen Zusammenhang zwischen den Übergriffen in Köln und Hamburg gibt. Handelte es sich gar um organisierte und koordinierte Angriffe? Aktuell sei davon nicht auszugehen, so Schröder.
Der Druck, die Männer rasch zu fassen, ist immens. Die Hamburger Politik, Frauenverbände und Polizeigewerkschaften fordern eine konsequente Verfolgung der Täter. In den sozialen Netzwerken kocht der Zorn und zielt bereits in bedenklicher Weise auf Flüchtlinge. Auch Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) hat sich eingeschaltet. „Die Übergriffe auf Frauen am Silvesterabend auf dem Kiez sind eine Schande. Wer sich in Gruppen zusammenrottet, um sich an Frauen zu vergehen, hat keine Ehre. Er handelt kriminell, böse und feige. Keine entwickelte Kultur und keine Religion duldet so ein Verhalten. Und wir in Hamburg dulden es erst recht nicht.“ Landesbischöfin Kirsten Fehrs sagte: „Die Antwort kann nur lauten: Null Toleranz gegenüber jeder Form von Gewalt.“ Die kriminellen Handlungen seien ein Beispiel für „misslungene Integration“ in Deutschland. „Auch wir in Hamburg müssen darauf achten, dass keine Parallelgesellschaften entstehen.“
Die Staatsanwaltschaft führt inzwischen ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt zum Nachteil von bisher sieben geschädigten Frauen. „Ermittelt wird wegen des Verdachts des gemeinschaftlichen schweren Raubes, der sexuellen Nötigung, der gefährlichen Körperverletzung und der Beleidigung auf sexueller Basis“, sagte Carsten Rinio, Sprecher der Staatsanwaltschaft. Bei derart gravierenden Straftaten drohen den Tätern mehrere Jahre Gefängnis. Mit einer Freiheitsstrafe von maximal zwei Jahren deutlich milder geahndet wird indes eine sexuelle (tätliche) Beleidigung, darum dürfte es bei den meisten Taten gehen. Ob Busengrapschen oder ein Griff an den Po überhaupt strafbar ist, wird von Gerichten unterschiedlich beurteilt, hängt unter anderem von der Intensität und der Dauer der unsittlichen Berührungen ab. „Einige der Fälle scheinen grenzwertig zu sein und überschreiten möglicherweise die Grenze zur sexuellen Nötigung“, so Schröder. Alle Opfer werden deshalb von Kriminalbeamten noch einmal en detail zum Tathergang befragt. Die Vernehmungen werden mit einer Kamera aufgezeichnet – damit ihnen in einem späteren Verfahren eine Aussage vor Gericht möglicherweise erspart bleibt.
Wie berichtet, wurden die Frauen in der Silvesternacht zwischen 0.30 und 2 Uhr von Männern umringt, am Po, am Busen und im Intimbereich berührt. In einigen Fällen zerrissen die Täter sogar ihre Kleidung, ließen auch dann nicht von ihnen ab, als sie um Hilfe schrien, in Tränen ausbrachen oder sich zur Wehr setzten. Nach Berichten von Zeugen spielten sich auf der Großen Freiheit und dem Hans-Albers-Platz regelrechte „Jagdszenen“ ab.
So erzählt es auch Tim K., 22, dem Abendblatt. Der Student aus Lübeck ist um 1 Uhr mit drei 19 bis 22 Jahre alten Frauen auf der Großen Freiheit unterwegs. Plötzlich kesseln mehrere Männer seine Freundinnen ein. Er sieht, wie sie begrapscht werden und wild um sich schlagen. Zwei können fliehen. Um die Dritte zu retten, kämpft sich Tim durch das Gedränge. Als er sie erreicht, schließt er schützend seine Arme um sie, schiebt sie so aus der Gefahrenzone. „Nachdem ich mich rausgekämpft hatte, merkte ich, dass mein Handy und Portemonnaie weg waren“, sagt Tim K. Trotzdem lassen die Männer nicht locker: Sechs Männer verfolgen die Frauen. Als es erneut zur Konfrontation kommt, schubst der 22-Jährige einen der Täter weg – und bekommt einen Schlag ins Gesicht. Schließlich lassen die Männer von ihnen ab. Später, auf der Davidwache, so Tim K., habe er völlig aufgelöste Frauen gesehen, „denen teils die Unterwäsche vom Leib gerissen wurde“. Viele Frauen hätten sich nicht ernst genommen gefühlt, weil die Polizisten die Vorfälle angeblich heruntergespielt hätten.
Weil die meisten Frauen, von denen nur wenige in Hamburg leben, erst Tage später Anzeige an verschiedenen Wachen – auch im Umland – erstatten, hat die Polizei erst am Montagabend ein Muster. „Ein Phänomen in dieser komprimierten Form hatten wir bisher noch nicht“, sagt Schröder. Vorwürfe von Betroffenen, die Polizei sei zu passiv gewesen, weist er zurück. Man sei mit 200 Beamten zusätzlich auf der Straße gewesen, allerdings hätten auf dem Kiez auch bis zu 50.000 Menschen gefeiert. Auf der Großen Freiheit sei es so voll gewesen, dass die Polizei die Straße später absperren musste und Menschen nur noch raus-, aber nicht mehr reinließ.
Weitere Zeugenhinweise zu den Vorfällen in Hamburg bitte an die Polizei unter der Rufnummer 040/4286-56789.