Hamburg . 53 Frauen erstatten Strafanzeigen. Ähnliche Vorfälle seit Ende November bekannt. Demo aus Solidarität mit den Opfern geplant.
Das Entsetzen ist groß: Nicht nur am Kölner Hauptbahnhof, sondern auch in Hamburg sind in der Silvesternacht Dutzende Frauen von Männergruppen massiv sexuell belästigt und beraubt worden. Die meisten Vorfälle ereigneten sich nach Angaben der Polizei auf St. Pauli, es gab aber auch Übergriffe am Jungfernstieg. Inzwischen hat die Polizei eine Sonder-Ermittlungsgruppe gegründet. Außerdem wird geprüft, die Videoüberwachung auf St. Pauli zu reaktivieren.
Wie liefen die Vorfälle ab?
Attackiert wurden junge Frauen zwischen 18 und 25 Jahren. Die Opfer schildern, dass sie im Gedränge der Silvesternacht auf der Straße plötzlich von Männern in Gruppen zwischen fünf und 20 Personen umzingelt, festgehalten und begrapscht worden seien. Den Frauen wurde auch unter die Röcke gegriffen, und in einigen Fällen sogar die Kleider vom Körper gerissen. Dabei johlten und pfiffen die Angreifer, riefen unter anderem „Ficki, Ficki“. Oftmals wurden den Opfern Geld und Handys gestohlen.
Wie viele Fälle gibt es bislang?
Die Zahl der Strafanzeigen liegt in Hamburg inzwischen bei 53. Das sagte Polizeivizepräsident Reinhard Fallak beim Neujahrsempfang des Hamburger Abendblatts. Die meisten Anzeigen – inzwischen mehr als 100 – wurden nach dem Bekanntwerden der Übergriffe in Köln am Montag erstattet.
Um welche Delikte geht es?
Nach aktuellen Erkenntnissen der Hamburger Ermittler geht es in 39 Fällen um sexuelle Belästigung. Die anderen 14 angezeigten Taten beinhalten zudem einen Raub oder einen Diebstahl. Bei der Staatsanwaltschaft ist nach Angaben eines Sprechers bislang ein Ermittlungsverfahren anhängig. Ermittelt wird wegen des Verdachts des gemeinschaftlichen schweren Raubes, der sexuellen Nötigung, der gefährlichen Körperverletzung und der Beleidigung auf sexueller Basis in sieben Fällen.
Was ist über die Täter bekannt?
Nach Angaben der Hamburger Polizei handelt es sich um jüngere Männer mit Migrationshintergrund. Laut Polizeivizepräsident Fallak gaben alle Opfer übereinstimmend an, dass die Männer nordafrikanischer oder arabischer Herkunft seien. Bislang wurde niemand festgenommen.
Hätte die Polizei besser vorbereitet sein müssen?
Offenbar ist es bereits in der Woche vor Silvester zu ähnlichen Vorfällen auf St. Pauli gekommen. “Die Fälle der Silvesternacht sind nicht wirklich neu”, sagt etwa Tom Stutz, Betreiber der Bar “Kiez Alm” an der Großen Freiheit dem Blog St. Pauli-News. “Ich habe bereits Anfang November von unseren Gästen gehört, dass sie auf St. Pauli von Gruppen abgedrängt, begrapscht und auch bestohlen wurden.” Seit drei Wochen lasse er die Promoterinnen, die auf der Straße Flyer an potenzielle Gäste verteilen, nicht mehr alleine. “Wir haben jetzt immer einen Türsteher dabei, der auf die Mädchen aufpasst.” Dollhouse-Geschäftsführer Christian Fong (u.a. Dollhouse, Shooters, Safari Bierdorf) bestätigt, dass sich verdächtige Gruppen an der Großen Freiheit aufgehalten haben.
Die Polizei kannte das Phänomen nach eigenen Angaben in dieser Form bislang nicht. Sie war mit zwei Hundertschaften in der Nacht auf dem Kiez präsent. Allerdings drängten sich nur an der Großen Freiheit zeitweilig mehrere zehntausend Menschen. Einen Überblick zu behalten war nicht einfach. An der Davidwache wurden in der Silvesternacht nach bisherigen Informationen sechs Anzeigen wegen sexuellen Übergriffen erstattet. Erst in den folgenden Tagen kamen weitere an verschiedenen Polizeikommissariaten auch im Hamburger Umland hinzu, sodass sich erst dann ein Muster für die Polizei herausbildete.
Wie geht die Hamburger Polizei jetzt vor?
Eine Sonder-Ermittlungsgruppe mit Experten aus den Bereichen Sexualdelikte, Taschendiebstähle und für den Bereich St. Pauli wurde inzwischen eingesetzt. Ein Sprecher: „Wir gehen davon aus, dass die Täter die Frauen meist mit den sexuellen Übergriffen ablenken wollten, um einen Diebstahl oder Raub zu begehen.“ Außerdem werde geprüft, die außer Betrieb gesetzte Videoüberwachung auf dem Kiez zumindest bei Großveranstaltungen – also auch an den stark frequentierten Wochenenden – wieder zu aktivieren.
Die zunächst im Dauerbetrieb eingesetzten zwölf, in alle Richtungen schwenkbaren Videokameras waren 2006 angeschafft worden, um den Kriminalitätsschwerpunkt Kiez ständig zu überwachen. Sie mussten aber 2011 wieder abgestellt werden, nachdem eine Anwohnerin erfolgreich gegen die Dauerüberwachung geklagt hatte. Ob die erneute Aufschaltung der Kameras zulässig ist, müssten nun aber erst einmal Juristen klären, sagte Polizeisprecher Holger Vehren. Die Renaissance der Kameraüberwachung ist nicht die einzige Maßnahme der Polizei, um das Sicherheitsgefühl der Kiezgänger zu stärken. „Wir gehen bereits noch häufiger Streife auf St. Pauli und haben auch die Wochenenden fest im Blick“, sagte Vehren. „Wir wollen deutlich machen, dass die Menschen keine Angst haben müssen, auf den Kiez zu gehen.“
Gibt es eine Zusammenarbeit mit der Polizei in Köln?
Ja, aber die Ermittler in der Hansestadt gehen inzwischen nicht von Verbindungen der Täter in beiden Städten aus. „Wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass es da Verbindungen gibt“, sagte ein Polizeisprecher am Mittwoch. Gestern hatte ein Sprecher noch betont, dass es auffällig sei, dass es zeitgleich in zwei Städten zu sehr ähnlichen und eher außergewöhnlichen Taten gekommen sei. Eine wichtige Frage sei auch, ob es vor den Übergriffen Absprachen gab. In Köln sind inzwischen nach Polizeiangaben mehr als hundert Anzeigen von Opfern eingegangen. Dreiviertel der Anzeigen sollen einen sexuellen Hintergrund haben. Die Polizei hat erste Spuren zu möglichen Tätern.
Wie reagiert die Hamburger Politik?
Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) nennt die Übergriffe „eine Schande“. „Wer sich in Gruppen zusammenrottet, um sich an Frauen zu vergehen, hat keine Ehre. Er handelt kriminell, böse und feige. Keine entwickelte Kultur und keine Religion duldet so ein Verhalten. Und wir in Hamburg dulden es erst recht nicht.“ Auch Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Die Grünen) verurteilte die Übergriffe scharf. Sie sei wütend und beschämt, twitterte die Politikerin. „Allen Tätern sei gesagt: Eure Mütter würden sich für euch schämen!“
Hinweise nimmt die Polizei unter der Rufnummer 040/4286-56789 entgegen.
Wie reagiert die Zivilgesellschaft in Hamburg?
Für kommenden Sonntag ist zunächst eine Demo geplant. Seit Mittwoch wird über Facebook zu einer Kundgebung auf St. Pauli aufgerufen. Unter dem Motto "Wir sind kein Freiwild! Finger weg!" wolle man Solidarität mit den Opfern demonstrieren und ein deutliches Zeichen setzen. „Es kann nicht sein, dass einige Männer der Meinung sind: Frauen sind Freiwild. Mir ist dabei egal, welcher Nationalität oder Glaubensrichtung sie sind“, so die Initiatorin, die nicht namentlich genannt werden will. „Wir wollen Flagge zeigen: Finger weg von den Frauen.“ Ab 15 Uhr will man sich vor dem Panoptikum treffen. Anschließend wollen die Demonstranten einmal über die Reeperbahn zur Großen Freiheit laufen.