Hamburg. In Schmidts Haus in Langenhorn war ursprünglich ein Gespräch mit dem Abendblatt geplant. Chefreporter Jens Meyer-Odewald erinnert sich.

Es war nicht leicht gewesen, diesen Termin in seinem Privathaus in Langenhorn zu bekommen. Gespräche im Büro des „Zeit“-Verlages am Speersort in der Hamburger Innenstadt waren ihm immer lieber. Zu viel Privatsphäre schätzte er nicht. Kann man ja auch verstehen. Außerdem war er erst am 17. September nach einem Gefäßverschluss aus dem Krankenhaus St. Georg entlassen worden.

Umso größer die Freude, als Helmut Schmidt am 1. Oktober durch sein Sekretariat mitteilen ließ, dass er gerne zu diesem Treffen bei sich zu Hause bereit sei. Der konkrete Termin möge bitte Anfang November abgestimmt werden. Themen sollten sein 97. Geburtstag einen Tag vor Heiligabend, Lokis fünfter Todestag sowie persönliche Ausblicke sein.

Die jahrelangen Erfahrungen mit dem früheren Bundeskanzler und urpreußischen Hanseaten lehrten: ein Schmidt, ein Wort! Auch wenige Tage nach Hannelores Tod, im Oktober 2010, hatte der betagte Staatsmann – trotz aller Trauer – einen lange vorher vereinbarten Interviewtermin eingehalten. „Selbstverständlich“, sagte er damals. An Prinzipien pflegte er auch in schwierigen Situationen nicht zu rütteln.

Die frühen Jahre des Helmut Schmidt

Helmut Schmidt 1971 mit seiner Tochter Susanne
Helmut Schmidt 1971 mit seiner Tochter Susanne © imago
Helmut Schmidt als Baby1919,  wenige Monate nach seiner Geburt
Helmut Schmidt als Baby1919, wenige Monate nach seiner Geburt © imago
Helmut Schmidt 1925 als sechs Jahre alter Junge
Helmut Schmidt 1925 als sechs Jahre alter Junge © imago
Helmut Schmidt im Alter von 14 Jahren in Hamburg
Helmut Schmidt im Alter von 14 Jahren in Hamburg © imago
Im Fokus – während einer Demonstration im Jahr 1962
Im Fokus – während einer Demonstration im Jahr 1962 © imago
Im Gespräch mit Demonstranten während der Spiegel-Affäre 1962
Im Gespräch mit Demonstranten während der Spiegel-Affäre 1962 © imago
Helmut Schmidt als Freizeitsegler 1981
Helmut Schmidt als Freizeitsegler 1981 © imago
Hochzeit mit Loki während des Fronturlaubs im Sommer 1942
Hochzeit mit Loki während des Fronturlaubs im Sommer 1942 © imago
Ein vertrauter Moment mit seiner Frau Loki, aufgenommen 1974
Ein vertrauter Moment mit seiner Frau Loki, aufgenommen 1974 © imago
Ebenfalls 1974: Helmut Schmidt am Schreibtisch
Ebenfalls 1974: Helmut Schmidt am Schreibtisch © imago
Helmut Schmidt mit Loki 1973 beim Schachspielen
Helmut Schmidt mit Loki 1973 beim Schachspielen © imago
Ein Spaziergang 1974
Ein Spaziergang 1974 © imago
Die Schmidts 1974 im Garten
Die Schmidts 1974 im Garten © imago
Bundeskanzler Willy Brandt und Finanzminister Helmut Schmidt 1972
Bundeskanzler Willy Brandt und Finanzminister Helmut Schmidt 1972 © imago
Helmut Schmidt und sein großer Förderer Karl Schiller: 1972 beerbte er ihn als Superminister, in einem Ressort, das Wirtschaft und Finanzen bündelte
Helmut Schmidt und sein großer Förderer Karl Schiller: 1972 beerbte er ihn als Superminister, in einem Ressort, das Wirtschaft und Finanzen bündelte © imago
Helmut Schmidt liebte das Segeln, war immer gern am Wasser – wie hier im Jahr 1981
Helmut Schmidt liebte das Segeln, war immer gern am Wasser – wie hier im Jahr 1981 © imago
Helmut Schmidt, nicht ohne seine Zigarette 1971
Helmut Schmidt, nicht ohne seine Zigarette 1971 © imago
Helmut Schmidt nachdenklich - 1971
Helmut Schmidt nachdenklich - 1971 © imago
Gruppenbild mit Schmidt auf dem Parteitag in Bad Godesberg 1971
Gruppenbild mit Schmidt auf dem Parteitag in Bad Godesberg 1971 © imago
Loki und Helmut Schmidt bei der Hochzeit 1942
Loki und Helmut Schmidt bei der Hochzeit 1942 © imago
Helmut Schmidt 1940 als Soldat
Helmut Schmidt 1940 als Soldat © imago
Es war nicht immer leicht, aber sie mussten zusammenarbeiten: Willy Brandt und Helmut Schmidt
Es war nicht immer leicht, aber sie mussten zusammenarbeiten: Willy Brandt und Helmut Schmidt © imago
1971 durfte auf dem Parteitag noch geraucht werden - im Saal
1971 durfte auf dem Parteitag noch geraucht werden - im Saal © imago
1971 mit Willy Brandt
1971 mit Willy Brandt © imago
Zwei, die immer ihre Kontroversen hatten: SPD-Urgestein Herbert Wehner und Helmut Schmidt 1971
Zwei, die immer ihre Kontroversen hatten: SPD-Urgestein Herbert Wehner und Helmut Schmidt 1971 © imago
Gemeinsam mit Hans Apel liest er in einem Papier auf einem Bundesparteitag 1971
Gemeinsam mit Hans Apel liest er in einem Papier auf einem Bundesparteitag 1971 © imago
Helmut Schmidt spricht 1962 während einer Demonstration wegen der Spiegel-Affäre in Hamburg
Helmut Schmidt spricht 1962 während einer Demonstration wegen der Spiegel-Affäre in Hamburg © imago
Helmut Schmidt besucht als Verteidigungsminister 1973 eine Bundeswehrübung
Helmut Schmidt besucht als Verteidigungsminister 1973 eine Bundeswehrübung © imago
Bei einem privaten Besuch in Moskau mit Loki und Susanne
Bei einem privaten Besuch in Moskau mit Loki und Susanne © imago
Loki und Helmut Schmidt 1948 als junge Eltern kurz nach der Geburt von Tochter Susanne
Loki und Helmut Schmidt 1948 als junge Eltern kurz nach der Geburt von Tochter Susanne © imago
Eine Pause von der Politik 1973 mit Ehefrau Loki am Brahmsee
Eine Pause von der Politik 1973 mit Ehefrau Loki am Brahmsee © imago
Mit Willy Brandt auf dem Podium während eines Parteitags 1970
Mit Willy Brandt auf dem Podium während eines Parteitags 1970 © imago
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Folglich war es ein schlechtes Zeichen, als seine Sekretärin am 2. November noch um etwas Geduld und eine Verschiebung bat. Herrn Schmidt ginge es nicht gut genug. Allzu Schlimmes indes dachte ich mir nicht dabei. Noch nicht. Ist doch ganz normal, wenn ein Mensch in seinem Alter nach zwei Wochen Klinikaufenthalt noch ein bisschen Stärkung braucht. Und wie oft zuvor hatten andere prophezeit, dass es dem Ende zuginge. Doch Reyno White (seine Zigarettenmarke) hin, Gletscherprise-Schnupftabak her: Schmidt hatte stets langen Atem und Steherqualitäten bewiesen.

Dass es nun tatsächlich ernst um ihn stand, zeigte sich am Sonntag, 8. November. Nach einem opulenten Mahl im Restaurant To’n Peerstall las ich zu später Stunde die E-Mail einer lieben Kollegin. Aus ihrem privaten Umfeld hatte sie zufällig Nachricht erhalten, dass es dem Altkanzler ganz und gar nicht gut ginge.

Erst eine SMS, anschließend ein Anruf bei einem guten Freund des Hauses Schmidt bestätigten die Befürchtung. „Lage höchst problematisch“, hieß es. Man müsse mit allem rechnen. Darauf konnte man sich verlassen.

Nach Rücksprache mit der Redaktion um kurz vor Mitternacht wurde beschlossen, den schon laufenden Druck der Zeitung anzuhalten und mit der bitteren Meldung zu aktualisieren. Bei wohl keinem anderen Politiker wäre dies so entschieden worden. Wie gut, dass um diese Uhrzeit noch zwei Redakteure Spätdienst hatten und professionell handelten.

Diese Nachricht, auf Seite 1 des Hamburg-Teils platziert, alarmierte am Montag auch andere Medien – und damit natürlich die Öffentlichkeit nicht nur in Hamburg. Aus dem Hause Schmidt in Langenhorn und aus dem grundsätzlich verschwiegenen „Zeit“- Büro drangen keinerlei Details nach außen. Das Krankenhaus St. Georg war nicht mehr direkt zuständig – und Schmidts Leibarzt, Professor Heiner Greten, aus rückblickend verständlichem Grund nicht erreichbar.

Unter der Hand bestätigte eine Mitarbeiterin der Familie letztlich die dramatische Situation: „Herr Schmidt ist nur noch selten bei Bewusstsein.“ Sie erzählte, dass vor dem Doppelhaus am Neubergerweg Fotografen und Kameraleute Position bezogen hatten. Boulevardzeitungen druckten am Dienstag großformatige Fotos von ernst blickenden Familienangehörigen und engen Freunden, die den Schwerkranken besuchten. Ich war stolz auf mein Hamburger Abendblatt, das bewusst auf solche indiskreten Einblicke verzichtete.

Viel wichtiger aus journalistischer Sicht war der dringend erbetene Rückruf des Leibarztes. Schließlich erfolgte dieser. Nach Rücksprache mit Helmut Schmidts Tochter Susanne sei er befugt, Auskunft zu geben. Frau Susanne Schmidt-Kennedy habe Respekt vor der Anteilnahme der Hamburger. Und ihr sei ein solches Interview mit dem Hamburger Abendblatt lieber als wilde Spekulationen in der Öffentlichkeit. Also stand Heiner Greten auf ihren Wunsch kompetent Rede und Antwort. Die Schlussfrage, ob es noch Hoffnung gebe, verneinte er eindeutig. Beim Schreiben hatte ich eine Gänsehaut. Ein trauriges Gefühl kam hinzu, doch blieb kaum Zeit dafür.

Sein enormes Gedächtnis und seine Herzenswärme beeindruckten mich

Denn ganz ehrlich: Helmut Schmidt, den ich früher nie gewählt hatte und politisch auch nicht sonderlich mochte, hatte mich mit seinem enormen Gedächtnis, seiner Hilfsbereitschaft und seiner schrullig-originellen Art sowie seiner verblüffenden Herzenswärme beeindruckt. Hinzu kamen ein zuvor in diesem Maß nicht erlebtes Charisma und die Erkenntnis: Eine Ära geht zu Ende. Typen seines Formats sind praktisch ausgestorben.

Viele Hamburger besuchen die Ruhestätte von Helmut Schmidt

Die Ruhestätte des Altkanzlers Helmut Schmidt auf dem Ohlsdorfer Friedhof
Die Ruhestätte des Altkanzlers Helmut Schmidt auf dem Ohlsdorfer Friedhof © HA | Friedhofsverwaltung
Ein Großer Kranz aus Sonnenblumen schmückt das Grab
Ein Großer Kranz aus Sonnenblumen schmückt das Grab © HA | Friedhofsverwaltung
Viele Hamburger haben Ewige Lichter aufgestellt
Viele Hamburger haben Ewige Lichter aufgestellt © HA | Friedhofsverwaltung
Viele Besucher Gedenken Schmidt im Stillen und halten vor dem Grab inne
Viele Besucher Gedenken Schmidt im Stillen und halten vor dem Grab inne © HA | Friedhofsverwaltung
Seit Mittwoch ist das Grab offiziell zugänglich
Seit Mittwoch ist das Grab offiziell zugänglich © HA | Friedhofsverwaltung
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Der Rest war banges Warten. Würde doch noch ein Wunder geschehen? Nein. am 10. November, einem Dienstag, um 14.22 Uhr, wurde die traurige Gewissheit direkt aus dem Hause Schmidt in die Redaktion übermittelt. Zwei Minuten innehalten, dann ging die Arbeit los. Bei allen. Eine 24-seitige Sonderausgabe wurde beschlossen. Den Mumm hätte ich nicht gehabt. Andere hatten ihn. Hut ab! Zeit zur Trauer blieb also wieder nicht, für Betroffenheit schon.

Bis zur Trauerfeier am 23. November änderte sich an diesem Zustand nichts. Zwischendurch, beim kurzen Einkauf, beim Kaffee vorm Bäcker oder abends beim Italiener hörte ich andere Menschen fast nur über das Thema Helmut Schmidt sprechen. Erstaunlich.

Die immensen Sicherheitsvorkehrungen rund um den Staatsakt im Michel empfand ich beinahe als noch trauriger als die Abschiedszeremonie im Michel selbst. Als Schmidts Lieblingslied „Mien Jehann“ durch das Gotteshaus klang, hatte ich einen fetten Kloß im Hals.

Weil es wegen der Absperrungen kein Taxi gab, ging ich anschließend zu Fuß Richtung Reeperbahn und Königstraße. Und in diesen stillen, nachdenklichen Minuten kam es sehr intensiv auf, dieses zutiefst traurige Gefühl. Daran änderte die Gewissheit nichts, dass Helmut Schmidt letztlich in Würde und Frieden gegangen war. Er glaubte wohl nicht daran, ich schon: Er wird jetzt irgendwo ganz oben sitzen – und sich seinen Teil denken.