Hamburg. Serie, Teil 2: Die besten Auszubildenden im Handwerk. Schneiderin Merle Marie Hassner träumt von einem eigenen Geschäft.
Als Teenager hat sie von der Freundin ihrer Mutter das Nähen gelernt und sich dann ohne vorgegebenes Schnittmuster – nach eigenem Gusto – Alltagskleidung geschneidert. Nach dem Abitur wollte Merle Marie Hassner handwerklich arbeiten und nicht studieren. Sie beschloss, ihr Hobby zum Beruf zu machen. So begann sie 2012 eine Ausbildung zur Maßschneiderin. Dann sah die heute 22-Jährige den französischen Film „Die Perlenstickerinnen“ – und fing Feuer für diese alte Handwerkskunst.
Neben der zierlichen Hamburgerin steht eine Puppe, die ein elegantes graues Abendkleid trägt. Dessen Oberteil ist komplett mit kleinen grauen Kunstperlen bestickt. Die Ärmelknöpfe sind Kunstwerke aus echten Süßwasserperlen, die Merle Marie Hassner von ihrem Vater geschenkt bekommen hat. Er ist Goldschmied. Denn Kunsthandwerk liegt in der Familie.
2015 wurde sie Bundessiegerin beim Leistungswettbewerb des Deutschen Handwerks
Das graue Seidenkleid hat Merle Marie Hassner selbst entworfen, ebenso das abstrakte Perlenmotiv. Es erinnert entfernt an Blumenranken. Die junge Schneiderin hat die Perlen mit einer speziellen Stickereitechnik aus Frankreich auf den Seidenstoff appliziert. Mit der „Broderie Lunéville“ – und mit ihrem Modell „Nocturne“ (französisch: nächtlich) 2014 im zweiten Lehrjahr einen Lehrlingswettbewerb gewonnen.
Auch bei ihrem Gesellenstück, einem dunkelblauen Kostüm, durften Perlen nicht fehlen. Sie zieren einen abknöpfbaren Kragen, der bei Bedarf aus dem schlichten, eleganten Kostüm eine festliche Garderobe zaubert. Mit dieser Abschlussarbeit ist die junge Hamburgerin nun Bundessiegerin beim Leistungswettbewerb des Deutschen Handwerks 2015 geworden.
„Während der Ausbildung habe ich ein Faible für Handarbeiten entwickelt“, erzählt die Maßschneiderin und nennt ein paar Beispiele: filigrane Säume nähen, Knöpfe beziehen und natürlich mit Perlen sticken. Ihr Kleid „Nocturne“ steht für einen Traum, den sich die junge Maßschneiderin erfüllen möchte: Sie würde gern ein eigenes Atelier gründen und die traditionelle Perlenstickerei mit modernen Schnitten und Materialien kombinieren.
Für ein Haute-Couture-Haus in Frankreich arbeiten soll der nächste Schritt sein
Doch vor der Gründung eines eigenen Geschäfts stehen noch mehrere Lernphasen. Seit November macht Hassner eine einjährige Weiterbildung zur Schnitt- und Fertigungsdirektrice an der Akademie für Mode und Design (AMD) an der Alten Rabenstraße. „Hier lerne ich vor allem Schnittentwicklung. Sie ist wichtig, wenn ich mich eines Tages selbstständig mache und dann unter eigenem Label Einzelstücke und Maßarbeiten anfertige. Natürlich mit Perlen.“ Als nächstes „Studienfach“ steht Französisch auf der Liste. „Ich spreche die Sprache nicht so gut. Aber nach meiner Weiterbildung bei der AMD möchte ich nach Frankreich gehen und dort in einem Betrieb arbeiten, der für Haute-Couture-Häuser Kleidung mit Perlen bestickt.“ Die französische Stickerei habe eine lange Tradition. Sie sei verbunden mit dem Ort Lunéville in Lothringen. Dort fertigten vor gut 100 Jahren um die 24.000 Frauen in Heimarbeit Stickereien.
Zum Ende des 19. Jahrhunderts kam das Sticken mit Perlen in Mode. Fast in jedem Haus in Lunéville wurden Kleider, Roben und Hauben als Auftragsarbeiten mit Perlen oder Pailletten verziert. Die Weltwirtschaftskrise sorgte 1929 für Einbrüche, der Zweite Weltkrieg besiegelte den Niedergang. Nach dem Krieg verzierten Perlenstickerinnen in Lunéville vor allem Handtaschen und größere Taschen.
Große Ideen für exquisite Stücke – natürlich mit Perlen
Zusätzlich zur Stickerei möchte Merle Marie Hassner noch einige Zeit als Angestellte in einem Atelier arbeiten, um Routine in der Maßschneiderei zu gewinnen, um Tricks und Kniffe beim Schnitt und bei der hochwertigen Verarbeitung kennenzulernen – vielleicht in Frankreich oder wieder in Deutschland. Mit diesem Handwerkszeug hofft sie, den Schritt in die Selbstständigkeit gehen zu können. Das graue Perlenkleid aus dem Jahr 2014 steht dabei für ihr Konzept, Gegensätze miteinander zu verbinden. In der Bewerbung zum Lehrlingswettbewerb stellte sie es mit den Worten vor: „Mein Kleid ist von beidem das Beste. Es ist traditionell und modern. Es ist streng und verspielt. Es verhüllt und verführt mit der Transparenz.“
Hassner möchte Abendroben entwerfen, die angenehm und praktisch sind. Mit „Nocturne“ sei ihr das noch nicht ganz gelungen. Der Rock knittere leicht, und das Oberteil sei zu eng geworden. Ihr sei nicht klar gewesen, dass der Stoff beim Besticken einlaufe, sagt sie lächelnd – ein Anfängerfehler, der ihr nicht noch einmal passieren soll.
Neben exquisiten Stücken möchte die Hamburgerin auch einfache Shirts anbieten, vielleicht mit abnehmbarem Perlenbesatz, damit man sie besser waschen kann. Auch perlenbestickte Haarbänder und andere Accessoires soll die Kollektion enthalten.
„Am schönsten ist es, eigene Ideen zu entwickeln und sie selbst umzusetzen“, sagt Hassner. Das hat sie schon als Schülerin getan. Nur für sich und unentgeltlich. Wenn alles klappt, werden in einigen Jahren bestimmt auch viele Hamburgerinnen die kreativen Kollektionen der ambitionierten und dennoch bescheidenen Schneiderin kaufen können.