Altstadt . In unserer Kolumne „Angekommen in Hamburg“ schreiben Flüchtlinge im Abendblatt. Heute geht es um Glühwein und Marzipan.

Es war mein allererstes Mal. Und es war fantastisch: der Besuch auf dem Weihnachtsmarkt – und vor allem der Glühwein. Er schmeckt völlig anders als alles, was ich zuvor getrunken hatte. Ich hätte nie gedacht, dass ein Getränk so aufwärmen kann. Fast hätte ich meinen Pullover ausgezogen ... Er schmeckte jedenfalls großartig. Das mag auch an der Atmosphäre gelegen haben, die am Rathausmarkt wirklich beeindruckend ist.

Nach dem Glühwein probierte ich Kartoffelpuffer. Das Wort kannte ich natürlich nicht – aber das Essen sehr gut. Denn in Afghanistan machen wir sie fast genauso, wir nennen sie „Koko Kachalo“ (Kachalo heißt Kartoffel). Nur mit Fisch und einem Dip wie jetzt auf dem Weihnachtsmarkt hatte ich sie noch nie gegessen, es war jedenfalls sehr lecker.

Mein nächstes „erstes Mal“ war sozusagen der Nachtisch: Marzipan. Ich ließ mir erklären, dass es vor allem aus Mandeln und Zucker besteht. Es war süß, aber nicht zu sehr, und das auf eine Art und Weise, die ich nie zuvor kennengelernt hatte. Es schmeckte großartig!

Ich habe den ganzen Nachmittag sehr genossen, die Gerüche, die vielen Lichter und die eleganten Dekorationen schaffen eine so spezielle Atmosphäre, die ich wirklich sehr schön finde. Und es scheint verschiedene Dekorationsstile zu Weihnachten zu geben, denn der Markt am Jungfernstieg und der an der Petrikirche unterschieden sich doch deutlich.

Mein deutscher Begleiter hat dann noch versucht, mir ein Wort zu erklären: „Kitsch“. Ich bin nicht sicher, ob ich es genau verstanden habe. All den Weihnachtsbaumschmuck, die kleinen Figuren und Häuschen aus Holz finde ich jedenfalls wunderschön. Und ich habe mir für zu Hause einen kleinen Weihnachtsbaum gekauft.

In Afghanistan wird das Neujahrsfest zum Frühlingsbeginn gefeiert

Und ich bin auch gespannt, wie das Neujahrsfest gefeiert wird. Zu Hause in Afghanistan heißt es „Naw Roz“, das heißt einfach „Neuer Tag“ – wobei es aber der erste Tag des Frühlings ist. Wir feiern Neujahr also am 20. oder 21. März. Dazu gibt es viele verschiedene Traditionen und Rituale. In meiner Familie haben wir immer das ganze Haus besonders gründlich geputzt und frisch gestrichen, sodass es sauber und schön ist, wenn das neue Jahr beginnt.

Und natürlich wird auch etwas Besonderes gegessen. Unser Traditionsessen ist mit Curry gewürztes Fleisch, dazu gibt es Früchte und Nudeln. Und dann gibt es noch eine ganz besondere Speise, sie heißt Called Haft. Sie wird nur zum Neujahrsfest zubereitet und besteht aus sieben Früchten, deren Name mit dem Buchstaben S beginnt. Sie werden gemixt und für einen Tag in Wasser gelegt. Davon haben wir immer sehr viel hergestellt, denn es ist üblich, dass viele Freunde, Nachbarn und Verwandte an diesem Tag zu Besuch kommen.

Die Flüchtlingsreporter des Abendblatts (v.l.): ,Berj Baghdee Sar, Mays Albeer, Michael Mengsteab, Sahar Raza und Mohammad Shoaib Rezayi
Die Flüchtlingsreporter des Abendblatts (v.l.): ,Berj Baghdee Sar, Mays Albeer, Michael Mengsteab, Sahar Raza und Mohammad Shoaib Rezayi © HA | Michael Rauhe

Alle ziehen etwas Besonderes an (vor allem meine kleinen Schwestern haben immer ihre neueste Kleidung getragen), und natürlich besuchen auch wir Freunde und Verwandte. Normalerweise wird dann auch noch ein Picknick in der Natur gemacht. „Milleh Gul Sorkh“ (Picknick der roten Blumen) heißt dieses Ritual, das vor allem im Norden Afghanistans verbreitet ist, besonders in Mazar-e Scharif. Manche reisen deswegen von weit her an, auch aus dem Süden.

Eine andere Tradition zum Neujahrsfest heißt „Janda Bala“, die in Ziyarat-e-Sakhi begangen wird, vor einem religiösen Schrein. Dort wird die sogenannte Sakhi-Flagge aufgestellt. Wenn die Flagge problemlos steht, dann wird es ein gutes und glückliches Jahr für die Menschen – wenn sie aber wackelt, dann wird es schwierig. Bräuche dieser Art gibt es wohl fast überall auf der Welt.

Ich war in meinen letzten Jahren in Afghanistan weder beim Janda Bala noch beim Milleh Gul Sorkh, weil es einfach zu gefährlich war. Denn bei solchen Gelegenheiten kam es sehr häufig zu Anschlägen. Außerdem ist es für Frauen schwierig geworden, an solchen Festen teilzunehmen – es wird erwartet, dass Frauen von einem Mann begleitet werden oder dass sie das Ganze aus einem Auto heraus beobachten. Deshalb bin ich zu Hause geblieben, habe mir alles im Fernsehen angeschaut und die Gäste bewirtet, die zu Besuch kamen.

Auch wenn ich daran zurückdenke, bin ich sehr glücklich, dass ich jetzt in Hamburg überall hingehen kann, wohin ich möchte, ohne dass ich Angst haben muss. Ich kann das Leben genießen – und alles, was jetzt in der Weihnachtszeit geschieht, macht mir einfach Freude. Dafür bin ich sehr dankbar.

Der Text entstand in Zusammenarbeit mit dem Redakteur Sven Kummereincke