Abendblatt-Chefreporter und Buchautor Jens Meyer-Odewald über seinen Besuch beim Altkanzler in dessen Doppelhaus in Langenhorn.
Was soll man machen, wenn der Mensch direkt gegenüber so unendlich traurig guckt, seinen Kopf immer weiter senkt und plötzlich anfängt zu weinen? Erst ein bisschen, unmerklich fast, dann immer mehr. Und das nur, weil man – diskret – nach seinem Gefühlszustand gefragt hat. Eigentlich müsste man aufstehen und ihn in den Arm nehmen. Doch geht das bei einem, den man nie zuvor gesehen hat? Bloß das Weite suchen, so die zweite Reaktion, und ihn respektvoll in Ruhe lassen mit seinem Schmerz.
Schmidt scheint diese Gedanken zu spüren, denn er signalisiert mit einer kleinen Handbewegung zu bleiben. Stille. Worte würden jetzt doch nichts sagen. Schließlich greift er zu einem weißen Stofftaschentuch, um die Tränen zu trocknen, dann zu einer Zigarette. Mit einem braunen Billigfeuerzeug entzündet er sie. Rauch ringelt sich aufwärts. Schweigen. Dabei fällt sein trauriger Blick aus dem Fenster seines kleinen Büros am Speersort in der Hamburger Innenstadt. Novemberwetter, alles grau in grau, auch das noch.
Irgendwie fällt einem in diesem Moment kein passender Satz ein, um die bedrückende Stimmung zu entspannen. Dabei spielt es keine Rolle, dass das Gegenüber früher mal Bundeskanzler war und immer noch einer der namhaftesten Persönlichkeiten Deutschlands ist. Dem Mann, der sich sonst äußerlich immer so unter Kontrolle zeigt, ist – ausgerechnet jetzt – sein Panzer abhandengekommen. Er ist, wie er ist. Das macht ihn, den Fremden, unvermittelt so menschlich. Und so sympathisch. Eine innere Stimme nötigt spontan zum persönlichen Schwur, nicht von den vielen Tränen zu berichten. Jetzt, nach seinem Tod, wird es Helmut Schmidt egal sein.
„Moin, Herr Schmidt!“ Jede andere Anrede hat er sich verbeten
Nach einer weiteren Weile der Stille bietet er eine Mentholzigarette an. Nein, vielen Dank. Ein Zigarillo? Ja, gerne. Erstaunlich: Das Paffen schafft Gemeinsamkeit. Schmidt lächelt. Erleichterung auf beiden Seiten. Die Unterhaltung kommt in Gang.
Dass es dieses erste von insgesamt sechs Treffen überhaupt gab, lag ursächlich am Pflichtbewusstsein des Hanseaten Schmidt – und indirekt an Heidi Kabel. Für ein Abendblatt-Buch wollte sich Hamburgs Ehrenbürger im November 2010 über die legendäre, von ihm geschätzte Volksschauspielerin des Ohnsorg Theaters äußern. Der Termin war zwei Monate zuvor vereinbart worden. Dann kam der Tod von Loki Schmidt dazwischen – und die würde-volle Trauerfeier im Michel. Seitdem lag ein Schatten auf dem Leben des Witwers Helmut Schmidt. Ob man das Gespräch nicht lieber um ein paar Wochen verschieben wolle, ins neue Jahr vielleicht, so der telefonische Vor-schlag an sein Büro. Die Antwort wenig später: „Nein, Herr Schmidt steht zu seiner Verabredung.“
Unter dem Strich ging es in seinem Büro dann nur am Rande um Heidi Kabel, stattdessen viel mehr um Loki und ihn. Helmut Schmidt selbst fing an, davon zu erzählen. Erst stockend, dann immer mehr. Letztlich wurde daraus ein Buch über zwei ganz besondere Hamburger. Titel: „Ein Leben“. Schmidt fand Gefallen daran, in seiner Erinnerung zu wühlen und von den Wurzeln zu erzählen. Nicht nur einmal während dieser Gespräche zog er einen Spickzettel aus der Tasche, auf dem er sich Stichworte notiert hatte. Offensichtlich hatte es in ihm gearbeitet.
Und eines Tages erlaubte er das, wonach man anfangs gar nicht zu fragen wagte: ein Treffen im privaten Refugium, im Doppelhaus am Neubergerweg 80–82 in Hamburg-Langenhorn.
Es ist ein herrlicher Frühlingstag. Der Sicherheitsmann neben dem grünen Eingangstor vergleicht den Personalausweis mit dem Namen auf einer Liste. Zwei Meter sind es bis zum Zaun. „Schmidt“ steht über dem Klingelknopf. Draufdrücken, wie bei anderen Leuten auch. An der Haustür erscheint eine freundliche Dame, Ruth Loah, schon seit 1955 Schmidts Sekretärin, Vertraute und letztlich seine Lebensgefährtin. „Herr Schmidt wartet schon“, sagt sie und bittet hinein. In Öl gemalt, hängen im Flur Loki und Helmut Schmidt. Getrennt in dunklen Rahmen, aber doch Seite an Seite. Hinten links ist ein schwarz lackierter Flügel zu sehen. Perserteppiche. Glasvitrinen mit Kleinkram. Steine, Blumen, Wurzeln, afrikanische Masken. Gemütlich wirkt es, altmodisch, als sei die Zeit stehengeblieben.
Vor den Bücherregalen stehen zwei mit Intarsien verzierte Holzsessel. „Loki Schmidt“ ist in die eine Lehne eingearbeitet. „Helmut Schmidt“ in die andere. Später wird Helmut Schmidt gestatten, in Ruhe das gesamte Haus anzusehen. Durch den Flur und das Wohnzimmer führt Frau Loah zu einer kleinen Treppe, die mit einem Fahrlift ausgestattet ist. Die Tür des Zimmers im Zwischengeschoss steht offen.
Da sitzt Schmidt: Trainingshose, Strickpulli, blaue Badelatschen. Er hat gute Laune – auf seine Art transportiert. Der Hausherr sitzt im Rollstuhl am Schreibtisch. Er krümmt sich, blickt entgegenkommend. „Moin, Herr Schmidt!“ Jede andere Anrede hat er sich verbeten. „Moin!“, murmelt er. Leise vor sich hin fluchend rangiert er das Gefährt um die Schreibtischkante, steuert den kleinen Beistelltisch neben der Tür seines Büros an.
Die frühen Jahre des Helmut Schmidt
Handschlag, Augenkontakt: „Nehmen Sie Platz, junger Mann.“ Offensichtlich ist in seinem Alter jeder andere ein junger Mann. Mühsam hievt er sich vom Rollstuhl auf einen Rattanstuhl. Dann knurrt er, als sei es eine Entschuldigung: „Wenn ihr erst mal so alt werdet, geht’s euch auch nicht besser.“ Wenn’s später, in den Neunzigern, tatsächlich so ginge, wär’s schon gut. Und für einen Moment zeigt Schmidt wieder dieses wunderbare Haifischlachen. Der Hausherr bittet seinen Gast um etwas Tee „mit ordentlich Milch“, süßt ihn kräftig. Die mitgebrachten Butterkekse von Lindtner in Eppendorf scheinen ihm zu gefallen. Ein freund-schaftlicher Tipp von Reinhold Beckmann, der früher oft bei den Schmidts in Langenhorn einkehrte. Neben den Thermoskannen mit Kaffee und Tee auf der Glasplatte des Beistelltischchens steht eine große weiße Kerze. Und ein Aschenbecher. Natürlich.
Dann öffnet der hochbetagte Staatsmann die Silberschatulle vor ihm. Sie ist randvoll gefüllt mit akkurat gestapelten Mentholzigaretten der Marke Reyno White. Zwei blaue Plastikdöschen mit Schnupftabak der Sorte „Gletscherprise“ gehören dazu. Feuer frei. Und Fotos frei. Denn mit einer einladenden Handbewegung signalisiert Schmidt dem Fotografen Stephan Wal-locha, dass ihm die Türen im Haus offenstehen. Der Kollege lässt sich das nicht zweimal sagen. Ein Glückstag.
Schmidt bläst den Rauch lustvoll und verspielt gen Zimmerdecke. Dann beginnt er zu erzählen. Erst langsam, stockend, dann flüssiger, zunehmend faszinierend. Es ist viel Futter. Auch für das im Dezember erscheinende Abendblatt-Buch „Helmut Schmidt – ein Hamburger Staatsmann. 1918–2015“.
Die Einbauschränke und Regale sind randvoll mit Büchern und Kleinkram gefüllt, mit Schätzen aus aller Welt. Auf der Fensterbank stehen ein Globus, ein Gipsrelief auf einer kleinen Holzstaffelei und ein Farbfoto seiner Tochter Susanne. Auf dem Schreibtisch eine Uhr, mehrere Zinkbecher mit Stiften, Brieföffnern, Scheren, daneben liegt eine große Lupe. Wie alles andere hier ist das Telefon nicht jüngsten Baujahres. Noch etwas Tee, bittet Helmut Schmidt. Er drückt die Kippe aus, nestelt nach der nächsten Zigarette.
Die Menschen trauern um Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt
Jetzt, vor seiner Beerdigung am heutigen Montag, fällt einem das alles wieder ein. Wie in Zeitlupe. Wenn eine Melange aus Trauer, Dankbarkeit und Respekt einen Hauch Gänsehaut beschert. Einer vom Format und Charisma Helmut Schmidts, so die Einsicht, hat einen höchst seltenen Charakter. Ganz gleich, wie man politisch denkt.
Und bei diesem Rückblick kommt wieder der erste Besuch in den Sinn, damals im November 2010, unmittelbar nach Lokis Tod. Beim Stichwort Heidi Kabel kam Helmut Schmidt irgendwie auf sein Lieblingslied. „Mien Jehann“ hieß es, getextet von Klaus Groth kurz nach dem Kriegstod seines Bruders. „Ich wull, wi weern noch kleen, Jehann, dor weer de Welt so groot!“
Ganz genau konnte sich Schmidt an dieses melancholische, plattdeutsche Stück erinnern. Mit seinem Großvater hat er es früher gesungen, ebenso zu Heidi Kabels 80. Geburtstag im Jahr 1984: „Ich wollt’, wir wär’n noch klein, Johann, da war die Welt so groß!“ Dann summte Schmidt ein paar Töne. Ja, damals, da war die Welt so wunderbar groß. Zum Umfassen lud sie ein, von Tatendrang und Wagemut beseelt. Lange ist das her.
Die vereinbarte Stunde des Dienstgesprächs war weit überschritten. „Ei-nen Moment noch, junger Mann!“, sagte Helmut Schmidt plötzlich. Er erinnere sich noch gut an die Beerdigung des sozialdemokratischen Urgesteins Walter Schmedemann im Jahr 1976. Krankenträger sei dieser gewesen, Widerstandskämpfer gegen die Nazis, später Senator und Staatsmann. Ein richtiger Staatsmann. Es habe ihn beeindruckt, als bei Walter Schmedemanns Abschied „Mien Jehann“ gesungen wurde.
Auch bei Lokis Tod wurde dieses Lied gespielt. Und am heutigen Montag wird es im Michel gleichfalls erklingen, wenn Hamburg Abschied nimmt von Helmut Schmidt. Es hat ein trauriges Ende: „Doch allens, wat ick finn, Jehann, dat is – ick stah un ween.“ Doch alles, was ich finde, Johann, das ist – ich steh und wein’.
– Ende –