Hamburg. Hinter alten Wänden entstehen moderne Neubauten – Experte für Denkmalschutz kritisiert „Hamburger Lösung“.

Zwar ist am Alten Wall unmittelbar am Hamburger Rathaus schon länger eine große Baustelle eingerichtet, Absperrgitter sieht man, Baufahrzeuge, es dröhnt und kracht. Die Fassaden der alten Gebäude dort sehen nicht sehr verändert aus. Eine normale Sanierung, würde man denken. Doch der Blick von der anderen Seite zeigt ein ganz anderes Bild: Der Betrachter blickt über das Alsterfleet plötzlich in eine riesige Lücke, die nur noch von zwei Kopfbauten begrenzt wird. Mächtige Stahlgerüste halten dort die Fassade, die wie eine Kulisse vor einer leeren Bühne wirkt.

So wie hier entdeckt man derzeit viele Baustellen an historischen Gebäuden in der Stadt, wo der Blick hinter die Fassade die große Leere zeigt: Beim Gebäude der früheren Stadtentwicklungsbehörde etwa, bei der ehemaligen Oberpostdirektion am Gorch-Fock-Wall oder auch immer wieder rund um die Alster. Denkmalschutz beschränkt sich auf die Fassade, dahinter wird komplett neu gebaut. Eine Art Denkmalschutz-Tapete bleibt von der historischen Substanz – mehr nicht. Der frühere Leiter des Hamburger Denkmalschutzamts Frank Pieter Hesse spricht sogar von einem „Hamburger Fassadismus“, der zurzeit grassiere. „Wir erleben da in den letzten Jahren eine auffällige Häufung“, sagt er. In einem umfassenden Beitrag des neuen Jahrbuchs der Hamburgischen Architektenkammer (Junius Verlag) zeigt Hesse die Entwicklung an vielen Projekten der vergangenen zehn Jahre. Seine These: Die „rückwärtige Erosion kapitaler Denkmalbauten“ sei die Folge davon, dass Hamburg die Entwicklung der Innenstadt in private Hände gelegt habe. Zwar müsse jedes Bauprojekt einzeln betrachtet werden. In der Gesamtschau aber, so fordert der Denkmalschutz-Experte, müsse die neue Nutzung mehr mit den vorhandenen Gebäudestrukturen abgestimmt werden – statt mit Radikal-Lösungen völlig neue zu schaffen. Denn immer sei das gesamte Gebäude Zeugnis seiner Zeit.

Die ehemalige Oberpostdirektion am
Gorch-Fock-Wall
Die ehemalige Oberpostdirektion am Gorch-Fock-Wall © HA | Michael Rauhe

Allerdings ist das Phänomen der Fassaden-Tapeten nicht neu in Hamburg, wie Hesse auch zeigt: So war diese Art des Denkmalerhalts gerade nach dem Krieg eine „oft nicht anders zu lösende Bauaufgabe“, so Hesse. Um in der zerstörten Stadt das gewohnte Stadtbild markanter Gebäude zu erhalten, errichten die Nachkriegsplaner hinter den schnell reparierten Fassaden komplette Neubauten. Man ließ das „historische Kleid“, schuf dahinter aber meist zweckmäßige Konstruktionen. So zum Beispiel beim Haus der Patriotischen Gesellschaft. Doch auch später ging man in Hamburg oft diesen Weg: Hesse verweist dazu auf Beispiele wie das Görtz-Palais am Neuen Wall, das eigentlich in den 50er-Jahren abgerissen werden sollte, das Denkmalschützer aber erhalten wollten. Man einigte sich auf den Kompromiss, der auch als „Hamburger Lösung“ bekannt wurde: Die Fassade blieb, dahinter entstand ein Neubau.

So erging es später immer wieder historischen Häusern in Hamburg, wie Hesse schreibt. Bis ins 21. Jahrhundert hinein. Prominentes Beispiel ist das 2005 geschlossene Hotel Prem, An der Alster 9, in dem schon Konrad Adenauer oder Hans Albers oft logierten. Letztlich, so Hesse, sei auch die Elbphilharmonie so ein Fall des „Hamburger Fassadismuses“: Scheinbar steht das Konzerthaus auf dem alten Backsteinspeicher, tatsächlich handele es sich aber nur um eine „Speicherhülle“.

Allerdings plädiert der Denkmalschützer dafür, jedes Projekt einzeln zu betrachten, bevor man Kritik übt. Hesse vergleicht dazu zwei aktuelle Beispiele: Das ist zum einen der frühere Behördenkomplex an der Stadthausbrücke – der einmal als Stadthöfe ähnlich wie die Hackeschen Höfe in Berlin mit einer großen Passage Besucher locken soll. 2009 hatte die Stadt die Immobilie ausgeschrieben. Wie Hesse schreibt, war die Struktur im Inneren aber schon lange angegriffen, Umstellungen von Aktenschränken mussten daher in den Jahren davor eigens vom Hausstatiker genehmigt werden. Aber weder Denkmalschutzamt noch Investoren seien über eine derart „schwächelnde Substanz“ informiert worden. Erst später habe sich herausgestellt, dass die Tragfähigkeit der Wände und Decken nicht reichte. Schließlich sei dem Denkmalschutz nichts anderes übrig geblieben, als der Fassaden-Lösung zuzustimmen.

Anders bewertet Hesse indes den Umbau der Gebäudezeile am Alsterfleet, wo ebenfalls größtenteils nur die Fassaden von den alten Bankgebäuden bleiben. Unter anderem wird dort eine riesige Tiefgarage gebaut, die einmal 300 Autos Platz bieten soll. In dem Neubau sind auch hier Büros und vor allem Einzelhandelsflächen geplant.

Diese Villa am Harvestehuder Weg/Ecke
Pöseldorfer Weg wurde entkernt
Diese Villa am Harvestehuder Weg/Ecke Pöseldorfer Weg wurde entkernt © Insa Gall

Nicht immer aber ist die reine Fassaden-Tapete auch von Dauer: Das zeigt nach Ansicht des Denkmalschutz-Experten das Beispiel der Alten Post mitten in der Stadt. 1957 gab es erste Vorstöße, um sie abzureißen. Mit einem unmoralischen Angebot: So soll die Finanzbehörde dem damaligen Denkmalpfleger angeboten haben, seinen Etat zu erhöhen, wenn er dieses markante Haus aus dem Denkmalschutz entlassen würde. Immer wieder versuchten später auch andere Behörden, einen Abriss durchzusetzen.

Schließlich gab es auch hier wieder 1970 die „Hamburger Lösung“. Fassade und Turm blieben, dahinter entstand ein kompletter Neubau. Während die Fassade eine viergeschossige Struktur zeigt, hatte die neue Alte Post dahinter bis zu sieben und deutlich niedrigere Geschosse – was eben als wirtschaftlicher galt. Doch offensichtlich nicht lange: Immer wieder gab es erneut Umbaupläne. 2009 schließlich wurde die Alte Post dann wieder total umgekrempelt: Jetzt gibt es wieder ein hohes Erdgeschoss und drei Obergeschosse in „Originallage“. Fassade und Innenleben stimmen damit wieder überein.