Nazi-Diktatur und Einberufung. Die Zeiten sind schwer, können die Liebe der beiden aber nicht bremsen. 1945 stirbt ihr Erstgeborener.
Dieses Bild ließ Helmut Schmidt auch Jahrzehnte später noch frösteln. Die Erinnerung machte ihn sprachlos. Vor seinem inneren Auge wiederholte sich eine Szenerie, die Loki ihm geschildert hatte – immer und immer wieder: Auf einem Leiterwagen wird ein kleiner, weißer Sarg von Bernau, einem Ort nordöstlich Berlins, zum Dorffriedhof nach Schönow gebracht.
Es ist der 19. Februar 1945. Das Deutsche Reich liegt in Trümmern. Millionen sind tot, auf der Flucht oder von Hunger geplagt. Alles bricht zusammen; die bedingungslose Kapitulation steht unmittelbar bevor. Und ausgerechnet in dieser dramatischen Lage erleben Loki und Helmut Schmidt einen persönlichen Albtraum: ihr Kind Helmut Walter Moritz, von beiden liebevoll „Moritzelchen“ genannt, wird zu Grabe getragen. Nur die Mutter und ein Vertrauter, der Arzt Dr. Arnold, sind dabei. Denn Helmut ist an der Front. Ob er noch lebt? Loki befürchtet das Allerschlimmste.
Dabei fing trotz der chaotischen Bedingungen für das junge Ehepaar Schmidt alles hoffnungsvoll an: Am 26. Juni 1944, fast auf den Tag genau zwei Jahre nach der standesamtlichen Hochzeit, bringt Loki einen Sohn zur Welt. Ein Geschenk des Himmels in bitteren Zeiten. Helmut eilt aus seiner Amtsstube der Luftwaffe in Bernau herbei, ist ganz aufgeregt und überreicht Loki einen Strauß duftend weißer Pfingstrosen. Diesen Geruch wird sie zeitlebens nicht vergessen. Ein paar Monate später droht das private Glück der Schmidts zerstört zu werden: Das Baby erkrankt an Hirnhautentzündung, hat hohes Fieber, wird von Krämpfen geschüttelt. Natürlich gibt es in diesen Wochen des totalen Zusammenbruchs kaum medizinische Versorgung für die Zivilbevölkerung.
Hilflos sitzt Loki Schmidt in einer unbeheizten Kemenate auf dem Lande, wischt ihrem kleinen „Moritzelchen“ Schweiß von der Stirn, streichelt den armen Wurm – und sieht ihm voller Verzweiflung beim Sterben zu. Die Mutter ist zu entkräftet, um noch weinen zu können. Dr. Arnold braust trotz Kriegswirren und extremen Glatteises in das Dorf Schönow, in dem Loki mit dem toten Kind sitzt. Er findet eine am Boden zerstörte, übernächtigte Frau vor. In einem Luftschutzkeller findet sie Unterschlupf. Die Gefühle bei der Beerdigung kann sie auch später nicht beschreiben.
1983, zu Zeiten des Kalten Kriegs und mit enormem diplomatischem Aufwand, werden Hannelore und Helmut Schmidt an das Grab ihres Erstgeborenen in der damaligen DDR reisen. Später wird die Grabstelle eingeebnet. Der Gedenkstein mit dem Namen ihres Erstgeborenen findet im Garten ihres Langenhorner Doppelhauses Platz. Dort steht er heute noch. Welch’ Segen für die Seele der Schmidts, dass Loki zwei Jahre nach „Moritzelchens“ Tod, begleitet von sechs Fehlgeburten, Tochter Susanne zur Welt bringt.
Die Familie Helmut Schmidts ist teilweise jüdischer Abstammung
Doch zurück ins Chaos der Nazizeit. Das Klima in der Hansestadt wird von Monat zu Monat rauer. Es wird erste Hatz auf Juden gemacht. Der Altonaer Blutsonntag vom 17. Juli 1932 war eine fürchterliche Vorwarnung. Bei einem Werbemarsch der SA durch das noch preußische Altona werden 18 Menschen ermordet.
Dies ist der Augenblick, in dem Helmut Schmidt von jenem Geheimnis erfährt, das seinen Eltern so dermaßen große Sorgen macht, dass Vater Gustav nach Kriegsende ein gebrochener Mann ist. Was heutzutage niemanden interessieren würde, kann im „Dritten Reich“ Kopf und Kragen kosten – im wahrsten Sinn des Wortes: Die Familie Helmut Schmidts ist teilweise jüdischer Abstammung. Der 14jährige Helmut erfährt davon erst nach heftigem Insistieren. Er möchte so gern Mitglied der Hitlerjugend werden, mit all der damit verbundenen Spannung: Ausflüge, Lagerfeuer, Kameradschaft. Vater Gustav wehrt dieses Ansinnen vehement ab, wird zornig. Helmut indes lässt nicht locker. Fast kommt es zum Eklat, doch eines Abends nimmt Mutter Ludovica ihren Ältesten beiseite und lüftet das Geheimnis.
Der Großvater, jener Hafenarbeiter mit der Kate ohne Strom und Wasser, der Sonntag für Sonntag besucht wird, ist gar nicht sein richtiger Opa. Vielmehr, so erfährt der verblüffte Helmut, wurde sein Vater Gustav unehelich geboren, als Kind eines jüdischen Bankiers namens Ludwig Gumpel. Helmut Schmidts Vater stammt aus einer Liaison des wohlhabenden Gumpel mit einer Kellnerin aus dem nördlichen Hamburger Umland, die in der Hansestadt arbeitete. Helmut bekam keinen der beiden je zu sehen.
Folge: Helmut Schmidts Vater drohte als „Halbjude“ nicht nur ein Berufsverbot, sondern weit Schlimmeres. Ein nicht arischer Schuldirektor wird in damaliger Zeit nicht geduldet. Vater und Sohn fälschen einen Ariernachweis. Gustav Schmidt fürchtet um sein Leben. Bis 1984, behält auch Helmut Schmidt dieses Geheimnis für sich.
Zurück ins Jahr 1937. Zehn Tage nach Lokis 18. Geburtstag machen beide ihr Abitur. Sie „gehen jedoch nicht miteinander“, wie die Freunde zu sagen pflegen. Aus dem Schüler „Schmiddel“ ist der erwachsene Helmut Schmidt geworden. 1940 wird der 21-Jährige zum Leutnant der Wehrmacht befördert und zum Oberkommando der Luftwaffe nach Berlin versetzt. Dort kümmert er sich um die Ausfertigung von Schießvorschriften.
Es folgt der 17. August 1940. An diesem Sonnabend reist die Junglehrerin Loki nach Berlin, um ihren Schul-freund zu besuchen. Trotz längerer Funkstille hielten sie immer ein bisschen Kontakt. Die beiden fahren nach Sanssouci und spüren: Die alte Vertrautheit ist plötzlich wieder da. Stundenlang bummeln sie in Berlin Unter den Linden, flanieren über den Kurfürstendamm, landen am Nollendorfplatz. Und dort, auf einer Bank unter den Bahngleisen, passiert es: Hannelore Glaser und Helmut Schmidt geben sich das Eheversprechen.
Loki hat sich für die kirchliche Hochzeit extra taufen lassen
Als sie sich nach einer Woche trennen, nimmt das Unheil seinen Lauf. Denn Helmut wird an die Ostfront versetzt. Der Truppenbefehl: Meldung bei der Luftwaffen-Flak, die vor Leningrad stationiert ist. Als der Zug mit Leutnant Schmidt an Bord Berlin Richtung Russland verlässt, steht Loki Glaser schluchzend am Bahnhof.
Die deutschen Soldaten stecken vor Leningrad im Schlamm. Der aus dem Führerhauptquartier befohlene Marsch auf Moskau friert bei minus 35 Grad ein. Es herrschen grauenhafte Zustände. In diesem Moment meint es das Schicksal wieder einmal gut mit Helmut Schmidt: Im Januar 1942 wird der junge Offizier zurück in die Hauptstadt beordert. In einer Amtsstube an der Knesebeckstraße muss er Bürokram verrichten. Jetzt ist Zeit, privat entscheidende Weichen zu stellen. Auf der Verlobungsannonce, typisch Loki, prangt eine stilisierte Blume. Zur Feier des Tages schenkt Helmut seiner Braut in spe einen Wollmantel, das erste gekaufte Kleidungsstück ihres Lebens. Bis dahin trug sie immer nur gebrauchte oder selbst geschneiderte Sachen. Der standesamtlichen Eheschließung auf der Uhlenhorst Ende Juni 1942 folgt am 1. Juli die kirchliche Trauung. Loki hat sich extra taufen lassen.
Während eines Aufenthalts in einem Landheim an der Ostsee im Juli 1943 traut Loki Schmidt ihren Augen kaum. „Im morgendlichen Sonnenlicht ist ein merkwürdiger Dunst zu erkennen“, schreibt sie Jahre danach. Im selben Moment dämmert die Erkenntnis: Hamburg brennt! Und so ist es. Die Alliierten haben die „Operation Gomorrha“ gestartet und bombardieren die Hansestadt flächendeckend. Helmut Schmidt fährt mit dem Fahrrad durch das, was von seiner geliebten Heimatstadt übrig geblieben ist. „Überall liegen Leichen auf dem brennenden Asphalt“, schreibt er später.
Ge- und betroffen sind die Elternhäuser Glaser und Schmidt in Horn beziehungsweise Eilbek, das Quartier seines Bruders Wolfgang und dessen Lebensgefährtin Gesine, aber auch die neue Wohnung des Brautpaares Schmidt an der Gluckstraße. Alles zerstört, eine Tragödie.
Aus dieser Hölle wird Helmut Schmidt an die Westfront kommandiert. Er soll die Ardennenoffensive unterstützen. Wie befohlen macht er sich auf den Weg.
Montag lesen Sie: Dieser unfassbare Moment, der Loki fast das Herz zerreißt.