Hamburg. Die Wasserstandsvorhersage ist ein altes Geschäft, aber heute mit neuer Technik. Ein Report vor der Hauptsaison der Stürme.

Die Flure in dem großen Backsteinbau über der Elbe sind jetzt schon dunkel, auch im Treppenraum dämmern nur ein paar Lichter. Draußen sieht man durch die großen Fensterscheiben des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie, wie im Nieselregel der Asphalt glitzert. Heftig bewegen sich die entlaubten Zweige im abendlichen Herbstwind, der dort durch die Häuserschluchten von St. Pauli fegt. Für Sylvin Müller-Navarra ein untrügliches Zeichen, dass nun wieder so etwas wie Hauptsaison für ihn ist. Sturmflut-Saison.

Der Ozeanograf leitet hier die Abteilung Wasserstandsvorhersage, die im Bedarfsfall zum Sturmflutwarndienst wird. Heute hat Navarra die Spätschicht übernommen, bis in die Nacht verfolgt er die Wetterlagen, Pegelstände, rechnet, vergleicht am Bildschirm Kurven von Wasserständen an der Küste und schickt dann seine Prognosen raus an Behörden, Rundfunkstationen oder Internetseiten.

Jede Abweichung von Ebbe und Flut kann teuer werden

Vor allem für Reedereien ist dies im Alltag eine wichtige Information. Wenige Dezimeter entscheiden, wie viel ein großes Containerschiff laden kann oder wie viel Zeit dafür im Hafen bleibt. Bei Wetterlagen mit starken Ostwinden kann es vorkommen, dass bei Ebbe 30, 40 oder 50 Zentimeter weniger Tiefgang möglich sind, weil Wasser förmlich hinausgedrückt wird aus dem Fluss. „Das kann schon entscheidend sein, ob ein Schiff reinkommt oder nicht“, sagt Müller-Navarra. Bei Flut und starken Westwinden indes schwappt mehr Wasser herein als üblich. Ab bestimmten Stufen müssen Hafengebiete evakuiert werden. Jede Abweichung vom üblichen Ablauf von Ebbe und Flut kann daher viel Geld kosten. So oder so. Und von den Pro­gnosen von Müller-Navarra und seinen Kollegen hängt ab, welche Entscheidungen Unternehmen oder bei schweren Sturmfluten Krisenstäbe treffen.

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Einen Sicherheitsaufschlag gibt es daher nicht, das Ergebnis muss präzise sein. „Wasserstandsvorhersage muss immer eine Punktlandung sein“, sagt Müller-Navarra, der in Hamm-Nord aufgewachsen ist. Sein spanisch klingender Nachnahme sei in Wahrheit westpreußisch, sagt er – lächelt und schießt förmlich aus dem Bürostuhl hoch. Die nächste Wasserstandsvorhersage steht an. Mit einem großen Schlüsselbund eilt er durch die verlassen Büroflure, links, rechts herum, eine Treppe hoch, ein langer Gang – dann stehen wir vor einer schweren Stahltür.

Das Gespräch von Mensch zu Mensch ist wie früher

Hier geht es zum Nachbargebäude, dem Seewetteramt. Jede Schicht macht Müller-Navarra diesen Gang ein paar Mal, um sich vom dortigen Meteorologen vom Dienst aktuelle Wetterinformation zu holen. Der direkte Kontakt, das Gespräch von Mensch zu Mensch – das ist bei diesem Geschäft so wie früher. Doch die Basis heutiger Prognosen sind natürlich die riesigen Rechenleistungen moderner Computer. Sechs verschiedene Wettermodelle, stetig gefüttert mit Messdaten, flimmern hier im Seewetteramt auf den Bildschirmen: das amerikanische, ein europäisches, ein norwegisches. Die üblichen Wetter-Apps für Smartphone arbeiten indes nur mit einem solchen Wettermodell.

Tiefdruckgebilde sind dort als runde farbige Wirbel zu erkennen, Pfeile zeigen Windrichtungen und Stärke an. Jedes Modell rechnet etwas anderes, jedes versucht mit anderen Rechenschleifen die Zukunft des Wetters vorherzusagen. Und jedes kommt zu einer anderen Prognose, die in der Tendenz zwar ähnlich sind, im Detail aber Abweichungen haben. Der Meteorologe vergleicht hier die Ergebnisse der Computer mit den aktuellen Messdaten, entscheidet, welches Modell dem möglichen Wettergeschehen in nächster Zeit am nächsten kommt.

Mit den Prognosen des Kollegen zu Windstärken und Windrichtungen in den verschiedenen Seegebieten eilt Müller-Navarra dann zurück zu seinem Arbeitsplatz und füttert sein Computerprogramm mit den Daten. Ein, zwei Jahre kann man die astronomisch bedingten Gezeiten für die Orte an den Küsten und großen Flüssen vorausberechnen. Mehr mache keinen Sinn, sagt Müller-Navarra. Etwa weil sich Sandbänke verschieben, Städte Hafenbecken zuschütten – alles verändert den Strom des Wassers wieder.

Fakten zum Thema Sturmflut

 

Hamburg Als Flut wird die Zeit steigender Wasserstände bezeichnet. An der Küste beträgt sie etwa sechs Stunden, rund 100 Kilometer weiter elbaufwärts dauert die Flut in Hamburg indes nur etwas mehr als fünf Stunden.

 

Ebbe ist danach der Zeitraum fallender Wasserstände, in Hamburg dauert sie rund 7,20 Stunden. Hochwasser ist dann der Zeitpunkt des höchsten Wasserstandes, Niedrigwasser der des niedrigsten.

 

Die Höhe des Wasserstands wird dabei durch die Gezeitenströme verursacht, die durch die Anziehungskraft von Mond und Sonne und ihrer Stellung zur Erde ausgelöst werden. Weil ein Mondtag 25 Stunden dauert, verschieben sich die Hoch- und Niedrigwasserzeiten von Tag zu Tag.

 

Schon bei Windstärke 5 kann sich der Wasserstand um rund 50 Zentimeter verändern. Nach oben oder unten – je nachdem, ob es aus West oder Ost bläst.

 

Als Sturmflut bezeichnet man Wasserstände, die mehr als 1,5 Meter oberhalb des mittleren Hochwasserstandes (MHW) auflaufen: Am Fischmarkt ist dann die Kaikante gerade etwas überflutet.

 

Ab 2,5 Meter über MHW spricht man von einer schweren Sturmflut – dann ist auch die alte Fischauktionshalle in Altona geflutet.

 

Ab 3,5 Meter über MHW herrscht eine sehr schwere Sturmflut.

 

Eine andere Bezugseinheit, die auch immer wieder angegeben wird, bezieht sich auf Normalnull: Eine Sturmflut beginnt demnach bei einem Stand von 3,50 über NN, eine schwere Sturmflut klettert über den Pegelstand von 4,5 Meter NN und ab 5,5 NN ist eine sehr schwere Sturmflut erreicht.

 

Die letzte schwere Sturmflut erzeugte am 6. Dezember 2013 der Orkan „Xaver“. Am Pegel St. Pauli wurde dabei ein Stand von 6,09 Meter über NN erreicht.

 

Der bisher höchste gemessene Pegelstand wurde 1976 registriert und lag bei 6,45 Meter über NN.

 

Bei der verheerenden Flut 1962 konnte man nur einen Stand von 5,70 messen, weil das Wasser über die damalige Deichhöhe auflief. (at)

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Je kurzfristiger die Prognose, desto mehr kommt die Erfahrung ins Spiel

Aber es sind ja nicht allein die Gezeiten, die den Wasserstand bestimmen: Den Einfluss von Wind und Wetter muss er quasi dazurechnen. Doch auch hier verlässt er sich nicht allein auf die „Maschine“ wie er sagt. Je kurzfristiger die Prognose, desto mehr kommt die Erfahrung des Menschen ins Spiel. Wie läuft das Wasser, wenn der Wind soundso lange aus Nordwest weht? Steigt es 80 oder sogar 90 Zentimeter höher als die übliche Flut? Dabei kommt es dann genau darauf an, wann und wo ein Sturm sein Maximum erreicht. Ein bis zwei Stunden machen da manchmal einen erheblichen Unterschied aus, sagt Navarra. Erfahrung schlägt dann Automatisierung.

Schon um 1878 gab es in Deutschland einen Gezeitendienst, der Tafeln mit Hoch- und Niedrigwasserständen herausgebracht hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg nutzte man Luftdruckbeobachtungen aus Schottland und Norwegen, die telegrafisch übermittelt wurden, um aus den Luftdruckunterschieden den Einfluss des daraus entstehenden Windes auf die Gezeitenströme zu berechnen. Heute sind bei der Berechnung etliche Daten von Pegeln und Stationen mehr im Spiel. Das Zusammenwirken von Gezeiten, Wind und Küstenformen aber ist geblieben.

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25 Jahre schon beobachtet Müller-Navarra dieses ewige Spiel der Naturkräfte. Ganz bestimmte Wetterlagen führen zu Sturmfluten in Hamburg, sagt er: „Wie es hier bei uns in Hamburg pustet, ist da völlig egal.“ Sein Augenmerk liegt in diesen Tagen vielmehr auf dem Seegebiet südlich von Helgoland. Wenn es dort in den letzten Stunden vor Hochwasser in Cuxhaven aus nordwestlichen Richtungen stürmt, dann läuft das Wasser in Hamburg höher auf als normal. „Das schwappt dann richtig schön hoch rein.“ Gefährlich sind dabei vor allem zwei Lagen: Schnell ziehende Orkantiefs mit sehr hohen Windgeschwindigkeiten – so wie bei der Sturmflut 1976. Oder es braut sich ein großes, weiträumiges Sturmtief zusammen, das nicht ganz so starke Winde erzeugt, aber lang anhält. So war es 1962, als in Hamburg Hunderte Bewohner ertranken.

Mit so einer Katastrophe rechnet Müller-Navarra heute nicht mehr. Warnmöglichkeiten und Wetter-Pro­gnosen hätten sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert: Viele Stunden vorher schon gibt es dann auf allen möglichen Medien Alarm. Und auch die Deiche seien heute viel höher als noch 1962. „Panikmache ist völlig unangebracht“, sagt Müller-Navarra. Selbst wenn niemand ausschließen kann, dass eines Tages eine Jahrtausendflut kommt, die höher als die Deiche ist – er würde es schon vorher wissen und könnte rechtzeitig warnen.