André Taubert, Leiter der neuen Ausstiegsberatung Legato, über die Arbeit seines Teams und die Gefährdung junger Flüchtlinge.

Seit Juli leitet der Religionspädagoge André Taubert, 38, die neue Beratungsstelle Legato für „religiös begründete Radikalisierung“ in Altona. Schwerpunkt der mit jährlich 300.000 Euro von der Stadt finanzierten Arbeit der sieben Mitarbeiter ist der radikal-islamische Salafismus. Sie beraten auch auf Arabisch, Persisch oder Türkisch Eltern und andere Bezugspersonen von sich radikalisierenden Jugendlichen und zeigen Möglichkeiten auf, ein Abrutschen der jungen Frauen und Männer in den gewalttätigen Extremismus zu verhindern.

Abendblatt: Herr Taubert, gibt es einen typischen Weg in den Salafismus?

Andre Taubert: Das ist überall ähnlich. Am Anfang gibt es einen Jugendlichen, der in einer Krise steckt. Und der trifft auf Leute aus der Salafisten-Szene, die große Selbstsicherheit an den Tag legen, gute Sprüche und scheinbar gute Argumente haben. Die Radikalisierung ist dabei ein Hilfsmittel, um eine persön­liche Krise zu überwinden. Der Jugendliche hat das Gefühl, dass niemand ihn mag – meist, weil er Signale falsch deutet, was bei jungen Menschen oft passiert. Und dann trifft er auf Leute aus der salafistischen Szene, die sagen: Dein Gefühl ist richtig, du bist ausgeschlossen, weil du in dieser Gesellschaft deine Religion nicht leben darfst. Aber bei uns stehst du auf der richtigen Seite.

Wie alt sind die Jüngsten, wenn ihre Radikalisierung beginnt?

Taubert: In der Regel beginnt das in der Pubertät. Da gibt es ja fast immer Krisen. Die Jüngsten sind 13. Wobei Mädchen oft eher dran sind als Jungs.

Gibt es viele Mädchen darunter?

Taubert: In der Beratung sind es fast 50 Prozent. Das liegt auch daran, dass sich die Eltern bei Mädchen eher Sorgen machen. Nach den letzten BKA-Zahlen waren rund 20 Prozent Mädchen unter denen, die nach Syrien reisen wollten.

Kommen die Jugendlichen aus streng muslimischen Einwandererfamilien?

Taubert: Nein, meist gerade nicht. Die meisten Familien, aus denen diese Jungen und Mädchen kommen, sind bestenfalls auf dem Papier Muslime. Oder gar nicht. Da gibt es sogar noch eher gläubige Christenfamilien ohne Einwanderungshintergrund. Und die Jugendlichen selber hatten vor ihrer Radikalisierung meistens gar nichts mit Religion am Hut. Null. Und dann können sie mit ihren Eltern plötzlich nicht mehr ins Restaurant gehen, weil die Eltern dort vielleicht Alkohol trinken.

Und gehen deswegen nicht mit?

Taubert: Es gibt in der Hamburger Szene eine Daumenregel. Du sollst ja deine Eltern gut behandeln, also geh mit ihnen essen. Aber achte darauf, dass du an einem anderen Tisch sitzt, jedenfalls wenn sie Alkohol trinken – und sorge dafür, dass zwischen ihrem und deinem Tisch ein Daumenbreit Abstand ist.

Ein schräger, aber pragmatischer Kompromiss. Gibt es ähnliche Regeln?

Taubert: Eine, die in der Hamburger Szene oft zu hören ist, lautet: Du musst nur selbst guter Moslem sein, also in ihren Augen Salafist, dann darfst du später zehn andere Menschen mit ins Paradies nehmen, die konvertiert sind. Zum Konvertieren muss man nur einen Satz des islamischen Glaubensbekenntnisses aussprechen. Das führt dazu, dass manche Jugendliche Menschen, die ihnen wichtig sind, beknien, das Glaubensbekenntnis zu sprechen.

Führt das nicht zu grotesken Situationen? Wenn einer etwa mit dem Glaubensbekenntnis zum atheistischen norddeutschen Fußballtrainer geht ...

Taubert: Ja (lacht). Das sag ich Ihnen. Viele groteske Situationen. Aber wenn ich zu sehr ins Detail gehe, erkennt sich jemand wieder. Das möchte ich nicht.

Was raten Sie Eltern, deren Kind plötzlich radikale Thesen von sich gibt?

Taubert: Zunächst ist es wichtig, dass wir sehr schnell mit den Eltern sprechen, die sich melden. Viele werden von Zweifeln geplagt, ob sie ihr Kind damit nicht verpfeifen oder die schwierige Beziehung zusätzlich belasten. Diese Angst können wir ihnen bei Legato nehmen. Wir raten dann, von den Diskussionen wegzukommen, was richtig oder falsch in Bezug auf Weltanschauung oder Lebensgestaltung ist. Diese Diskussionen sind meist vorab schon oft eskaliert. Stattdessen sollte es das Ziel sein, zu Dingen zurückzufinden, die man früher mal gemeinsam gemacht hat – und die total aus dem Fokus geraten sind. Man isst nicht mehr zusammen, geht nicht zusammen einkaufen, nicht in den Park oder Zoo. Man spricht nicht mehr über weniger aufgeladene Themen, sondern immer nur über dieses eine. Und das muss aufhören.

Die Jugendlichen selbst kommen nicht zu Ihnen in die Beratung?

Taubert: Zu Beginn nicht. Sie haben ja aus ihrer Sicht keinen Beratungsbedarf. Wenn die Gespräche mit den Eltern gut laufen, kommen sie aber oft später mit.

Wie erklären die jungen Leute ihre Hinwendung zum Fundamentalismus?

Taubert: Meistens reden sie von Beweisen, von klaren Belegen, die sie nun verstanden hätten. Sie reden meistens selbst sehr viel und hören wenig zu. Sie sagen: Ich kenne jetzt die Wahrheit.

Was entgegnen Sie dann?

Taubert: Man muss nicht mit Leuten diskutieren, die die Wahrheit kennen. Ich sage dann manchmal: Hör mal, für mich ist das mit der Wahrheit schwierig. Ich weiß ja noch nicht mal, ob wir beide uns hier wirklich gegenübersitzen. Kann ja in Wahrheit auch Einbildung sein, und wir haben uns vorgestern nur zu viel Ecstasy eingeworfen.

Bietet der Islam viel Projektionsfläche für Abgrenzungs- oder gewaltverherrlichende Allmachtsfantasien?

Taubert: Das ist für uns erst einmal egal. Uns geht es darum, Isolationsprozesse zu stoppen, egal, mit welcher Methode. Wir wollen verhindern, dass ein Jugendlicher irgendwann zu dem Punkt kommt, wo er sagt: Ich gehe nach Syrien, hier mag mich ja keiner, und keiner lässt mich meinen Islam leben. Und dass er dann nur noch Glaubensbrüder hat, die ihn bestärken. Davor muss man sie bewahren. Es muss Menschen geben, die dann sagen: Hey, nee, du wirst hier gebraucht. Wir wollen dich hier haben. Manchmal muss man, obwohl das besonders schwer ist, auch sagen: Ich finde es gut, dass du dich so für deine Religion einsetzt. Das ist es am Ende oft, was die Jugendlichen davor bewahrt, letzte dumme Schritte zu gehen.

Unterstützt man nicht indirekt eine Radikalisierung, wenn man junge Salafisten in ihrer Weltsicht bestärkt?

Taubert: Man kann ja sagen, dass man selbst dazu eine andere Meinung hat. Aber oft geht es, wie gesagt, im Kern gar nicht um die Religion. Wir kriegen häufig Anrufe von Schulen oder Betrieben, da heißt es: Der und der Jugendliche will seine Ausbildung abbrechen, weil sie nicht mit seiner Religion vereinbar sei. In Wahrheit steckt oft dahinter: Der Jugendliche will die Ausbildung einfach nicht mehr weitermachen, und in der salafistischen Religionsauslegung hat er eine scheinbar passende Begründung gefunden. Dann muss er nicht sagen: Ich hab da keinen Bock mehr drauf.

Religion als Begründung für Versagen?

Taubert: So simpel nicht. Aber es ist manchmal eine gute Art und Weise, sich irgendwo rauszuziehen und sich zugleich moralisch überlegen zu fühlen.

Kann man die Leute aus ihrer neuen Bezugsgruppe eigentlich wieder rausbekommen? Heutzutage ist man da doch mit seinen Leuten dauervernetzt über Handys und WhatsApp, oder?

Taubert: Ja, das ist wie eine Stand­leitung, wo die salafistischen Glaubensbrüder zu jeder Alltagssituation das angeblich richtige Verhalten übers Handy vorgeben. Da hilft es manchmal nur, gemeinsam in den Urlaub zu fahren und das Handy zu Hause zu lassen. Grundsätzlich muss der Jugendliche sich selber entscheiden und sagen: Ach, das ist Blödsinn mit dem Salafismus. Das geht aber nur, wenn er das eigene Denken wieder anwirft. Damit das gelingt, muss er seine Krise bewältigen. Dabei muss man ihm helfen. Indem man etwa konkrete Probleme in der Schule löst oder eine andere Ausbildungsstelle sucht.

Sie haben das Büro im Juli eröffnet. Wie viele Fälle bearbeiten Sie jetzt?

Taubert: Es sind 25 dazugekommen, vorher hatten wir ja ein gemeinsames Büro mit Bremen. Da waren es rund 40 in Hamburg, die es noch gab. Das heißt, wir arbeiten hier derzeit mit 65 Jugendlichen bzw. mit ihrem Umfeld.

Kann man die Erfolge messen?

Taubert: Bisher ist keiner der von uns betreuten Jugendlichen nach Syrien oder zum IS gegangen.

Eltern müssen vermutlich in dieser Situation auch selbstkritisch sein.

Taubert: Auch, aber das ist nicht alles. Die Eltern sind in der Regel nicht das Problem, sondern der Schlüssel. Das ist umso wichtiger, weil sie manchmal die letzten Bindungspersonen sind. Zu den Freunden von früher sind die Kontakte in diesem Moment oft abgebrochen. Gerade die Mutter ist oft die letzte In­stanz. Weil die Mutter im Islam und auch im Salafismus eine ganz besondere Rolle spielt. Deswegen darf man es sich mit der Mutter nicht verderben.

Welche Rolle spielen Moscheen bei der Radikalisierung Jugendlicher?

Taubert: Im Grunde passiert die Radikalisierung außerhalb der Moscheen, die Moscheen haben selbst Probleme mit radikalisierten Jugendlichen. Da hängt viel davon ab, wie sensibel die Moscheen sind. Und davon, ob sie Jugendarbeit machen. Für uns ist eine gute Zusammenarbeit mit den Moscheen wichtig. Um manche unserer Fälle kümmern wir uns auch auf Bitten von Moscheen.

Die Koran-Verteilaktionen salafistischer Vereine nehmen in Hamburg zu. Kann man diesen Trend wieder drehen?

Taubert: Wir fangen ja erst an mit unserer Arbeit. Ich bin zuversichtlich, dass wir einiges bewirken. Wobei die KoranVerteilungen nicht die Orte sind, an denen rekrutiert wird. Dort holt sich die Gruppe eher Bestätigung.

Wie wirken die Gegenaktionen von Kurden oder von der AfD oder andernorts auch von Pegida-Anhängern?

Taubert: Das Groteske ist, dass etwa Pegida genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie als Ziel ausgeben. Sie stärken den Salafismus. Weil sie das Gefühl des Ausgeschlossenseins befeuern. Nach dem Motto: Da seht ihr’s, die deutsche Gesellschaft ist gegen uns.

Welchen Einfluss hat der Flüchtlings­zustrom auf die Szene – und welchen der Salafismus auf junge Flüchtlinge?

Taubert: Ich habe bisher keine Veränderungen wahrgenommen. Allerdings muss man sagen: Junge Menschen, die aus einer Fluchtsituation kommen, stecken in einer Krise und suchen Anker. Wenn’s blöd läuft, wird das der Salafismus. Deswegen ist es wichtig, den jungen Flüchtlingen etwas anderes anzubieten. Soziale Arbeit, Teilhabe, Integration. Wir müssen da viel tun. Bevor die salafistische Szene vor den großen Unterkünften etwas anbietet.