Hamburg. Sie verantwortete das Kulturprogramm der Spiele in London. Nun will sie die Hamburger Szene inspirieren.

Ruth Mackenzie ist ein Hingucker. Dass sie in der Kulturszene arbeitet, kann man zumindest erahnen. Schwarz und weiß gestylt, von der Frisur bis zu den Füßen. Warm­herzige, wache, leicht spöttische Ausstrahlung. Die Frau ist Britin, kommt aber derzeit aus Amsterdam, wo sie ein großes Kunstfestival leitet. Die Schuhe sind aus Helsinki. Und kariert. ­Mackenzie hat sie einem finnischen Kunstfestivalleiter zu verdanken, der sie zu diesem „irren kleinen Schuh­laden“ in Helsinki führte. Mehr noch als für ausgefallenes Schuhwerk kann sich Ruth Mackenzie allerdings für den Prozess der Olympiabewerbung begeistern. Kein Wunder. Vor drei Jahren war sie verantwortlich für das Kultur­programm der Olympischen Spiele in London. Eine Frau, von der Hamburg – möglicherweise – lernen kann.

Hamburger Abendblatt: Vor einigen Wochen waren Sie zum ersten Mal in Hamburg zu Gast, um vor der versammelten ­Kulturszene über Olympia zu sprechen. Sie sprachen vor allem über Fehler und über das Scheitern ...

Ruth Mackenzie: Zunächst einmal ist das ja ein brillanter Prozess, wie er hier in Hamburg abläuft. So war es bei uns in London leider nicht. Wir haben nicht Jahre vor dem eigentlichen Event alle Kulturschaffenden der Stadt zusammengerufen, um darüber zu sprechen, was man machen könnte, welche Themen wir setzen wollen. Um zum Beispiel sicherzustellen, welches Vermächtnis wir uns für unsere Bevölkerung, unsere Stadt, unsere Kulturszene, unsere Künstler wünschen. Das ist richtig toll, was Hamburg hier versucht, dieser demokratische Spirit ist absolut fantastisch! Also ist es ganz natürlich für mich, dass ich darüber spreche, welche Chancen wir in London verpasst haben. Damit die Hamburger es besser machen können. Man lernt aus Fehlern mehr als aus Erfolgen.

Welche Fehler gab es denn in London, wie entscheidend war das Scheitern?

Mackenzie : Normalerweise ist es in der Welt der Künste doch so: Du spielst eine Probe oder eine Vorstellung, der Regisseur sagt dir anschließend, wie es besser ginge – und am nächsten Abend machst du es besser. Das Unglaubliche an den Olympischen Spielen ist, dass es eine absolut einmalige Sache ist. London hatte diese Chance, Athleten und Künstler aus der ganzen Welt willkommen zu heißen und die Bedingungen für die Stadt und für die Künste zu verändern. Die Welt würde wahrscheinlich sagen, dass wir besonders erfolgreiche Spiele in London hatten.

Aber ...?

Mackenzie : Wir haben zum Beispiel viel zu spät mit den Vorbereitungen für das Kulturprogramm begonnen.

Ist Hamburg denn gut in der Zeit?

Mackenzie : Hamburg ist so was von rechtzeitig! Um das London Festival 2012 zu gestalten, habe ich im Februar 2010 begonnen. Das ist viel zu kurzfristig. Das kann man leicht vermeiden. ­Also, Glückwunsch an Hamburg, das die Diskussion mit den Künstlern schon zum Beginn des Bewerbungsprozesses sucht. Mit den führenden Köpfen der Kulturszene zu beginnen – und dann die anderen Menschen in der Stadt ­mitzunehmen, das ist ein guter Weg. Ich hatte zwei Jahre – Sie haben neun ­Jahre!

Sie wussten allerdings schon, dass die Olympischen Spiele in London stattfinden würden. Die Hamburger wissen das noch lange nicht.

Mackenzie : Die Chance, die sich ergibt, ist trotzdem die, dass die Welt auf Hamburg blickt. Die Welt will wissen, was Hamburg zu sagen hat, wer die Hamburger sind. Sie bekommen nie wieder eine solche Gelegenheit, sich zu präsentieren und laut zu sagen: Willkommen in Hamburg! Und man hat ja nicht nur die Möglichkeit, eine fabelhafte Zeit für die Spiele zu gestalten, sondern eine ebenso fabelhafte Zukunft für die Menschen, die auch anschließend weiter hier leben, in den Jahren 2025, 2026, 2027 ... Jede einzelne Person in Hamburg hat nun die Chance, daran mitzuwirken, in welcher Stadt sie leben will. So eine Möglichkeit bekommt man nicht alle Tage.

Sie glauben, dass die Kultur eine, wenn nicht sogar DIE Hauptrolle spielen wird, wenn es darum geht, welche Stadt am Ende die Spiele bekommt.

Mackenzie : Natürlich glaube ich das! Natürlich bieten die Olympischen Spiele die Gelegenheit, seine kulturellen und künstlerischen Werte herzuzeigen und zu teilen. In Wahrheit ist es doch so: Wenn Sie beim 100-Meter-Sprint im Fernsehen zuschauen, können Sie überhaupt nicht erkennen, in welcher Stadt das nun gerade stattfindet. Das kulturelle Programm hingegen kann sehr deutlich zeigen, wer man ist, wo man ist, wie man ist. Und die historische Idee der Olympischen Spiele der Griechen war eine, in der es ebenso um die Kunst wie um den Sport ging. Im Sport geht es um die Athleten. Im Kulturprogramm geht es um die Stadt.

Wie sehr geht es denn tatsächlich um die Menschen, die hier leben? Das fragen sich manche, die dem Vorhaben Olympia in Hamburg eher skeptisch gegenüberstehen.

Mackenzie : Deshalb muss man sich vorher überlegen, was man möchte. Ein Beispiel: 80 Prozent unserer Tickets für das London Kulturfestival waren gratis. Das war wirklich entscheidend. Das möchte das Hamburger Kulturkomitee ähnlich machen. Natürlich kann nicht alles gratis sein, aber es ist eine wichtige Selbstverpflichtung zu sagen, wir machen hier ein Programm für Hamburg, für jede Familie. Man ist ja komplett frei darin, wie man das Programm gestaltet. Und wirklich toll am Kultur­programm der Londoner Spiele war, dass niemand in ein Stadion kommen musste – wir konnten zu den Menschen gehen, in die Stadtteile kommen, in die Straßen, in die Schulen. Es war so inspirierend!

Gab es eine künstlerische Botschaft?

Mackenzie : Unbedingt. Wir wollten – auch – die Botschaft senden, dass London nicht mehr nur der Platz von Charles Dickens und Jack the Ripper ist, mit Nebel und Regenschirmen und altmodischem Zeug. Unsere Botschaft war auch: Wir sind modern, wir sind digital, innovativ, komisch, wir erfinden neue Kunstformen. Und guck dir an, wo wir das alles tun – in der allerschönsten Stadt der Welt! Und es ist fast alles gratis! Und natürlich haben wir auch daran gedacht, welche Bilder von London auf YouTube um die Welt gehen würden. Wir haben unsere Künstler ermutigt, groß zu denken.

Was ist mit den Künstlern, die genau das mit Skepsis sehen? Unter den Olympiagegnern sind nicht wenige, die im engeren oder weiteren Sinne der Kulturszene angehören. Sie warnen vor beschleunigter Gentrifizierung, vor rasant steigenden Mieten ...

Mackenzie : Ich war auch nervös und misstrauisch am Anfang. Aber wenn man heute auf die Kunstszene Londons blickt, sind die Menschen sehr froh über den Impuls, den London 2012 ihnen gegeben hat. Es ist nur natürlich, vorsichtig zu sein, zu diskutieren. Aber genau das tun die Hamburger ja. Sie öffnen die Diskussion, sie laden alle dazu ein, Ideen mit und für die Menschen zu entwickeln. Mich hat neun Jahre vor dem eigentlichen Ereignis niemand gefragt, was ich denke, niemand! Wie Hamburg die Sache angeht, ist schon sehr besonders. Diese Stadt lässt seine Community in einzigartiger Weise teilhaben. Und ich kann mir gut vorstellen, dass das Olympische Komitee genau das als Qualität bewertet, um Hamburg letztlich den Zuschlag zu geben.

Sollte man Energie investieren, Leute zu überzeugen, die nicht überzeugt werden wollen?

Mackenzie : Warum nicht? Warum sollte es keine gute Sache sein, die Stadt zu einem besseren Ort zu machen, zu einem Ort, an dem jeder gern leben möchte?

In welche Richtung sollte die Diskussion in der Hamburger Kulturszene sinnvollerweise gehen? Stärken stärken? Neue Formen entwickeln?

Mackenzie : Zum Glück ist es nicht meine Sache, den Hamburgern zu sagen, was sie machen sollen. Genau das müssen sie selbst entscheiden. Dieser Prozess ist ein Abenteuer! Musik, Kino, Theater, die Gaming Industrie – alles ist sehr stark hier. Aber das Entscheidendste ist: Ihr habt eine Kulturszene, die jetzt ihre eigene Zukunft mitgestalten kann. Was für eine tolle Herausforderung!

Wie viel Einfluss hatten die Londoner?

Mackenzie : Keinen. Null. Das ist es ja. In London hatten wir ein kuratiertes Festival. Und der Kurator – also in dem Fall: ich – hat am Ende Schuld am Programm. Aber wir haben natürlich die Popmusik involviert, wir hatten einige Events mit den besten Popmusikern der Welt, da sind wir in London ja gut dran. Und dadurch, dass so viele Veranstaltungen keinen Eintritt gekostet haben, haben die Londoner auch vieles ausprobiert, konnten viel Neues entdecken. 1,6 Millionen Leute haben beispielsweise Tino Sehgals Arbeit in der Tate Gallery of Modern Art gesehen – wie fabelhaft für diese 1,6 Millionen, aber auch: wie fabelhaft für den Künstler Tino Sehgal!

Was war Ihre inhaltliche Priorität?

Mackenzie : Dass alle ein kulturelles Abenteuer erleben würden. Für jeden wird dieses Abenteuer natürlich in eine andere Richtung gehen. Und was richtig für London war, muss ja nicht zwangsläufig richtig für Hamburg sein.

Kultur während der Spiele – wie viel ist Dekoration, wie viel ist ­Politik?

Mackenzie : Ich nehme mal an, dass kaum jemand, der Kunst macht, den Begriff Dekoration sehr schätzt. Die Künstler haben die Chance, Prioritäten zu setzen, inhaltliche Schwerpunkte. Und sie haben hier eine riesige Plattform dafür. Auch das ist ein olympischer Gedanke: Hört den Künstlern zu! Es ist eine gute Gelegenheit.

Olympia kann auch eine gute Gelegenheit sein, die unschönen Dinge des Lebens zu verschleiern, zu übermalen.

Mackenzie : Natürlich. Aber die Künstler sind auch dazu da, ungemütliche Wahrheiten offenzulegen.

Was ist eigentlich, wenn wir in Hamburg die Spiele gar nicht bekommen?

Mackenzie : Die Stadt denkt darüber nach, wie sie sich sieht, wie sie wahrgenommen werden möchte, was sie der Welt zu sagen hat. Ein solcher „Kulturplan“ ist in jedem Fall ein Gewinn für die Stadt und für die Menschen, die in ihr leben. Das ist meine eigentliche Botschaft: Hamburg kann nur gewinnen.