Neustadt. 30-Jährige leidet unter Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Verteidigung fordert Bewährungsstrafe, “um Therapie nicht zu gefährden“.
Fast rund um die Uhr saß die Frau am Krankenbett ihres Sohnes. Sie sah, wie der kleine Junge sich vor Schmerzen krümmte und ganz grau im Gesicht war, wie er unter sehr hohem Fieber litt, wie seine vielen Symptome den Dreijährigen quälten. Die Mutter erfuhr von den Ärzten, dass ihr Kind mehrfach „in kritischem Zustand“ war. Das heißt: Sein Leben hing am seidenen Faden. Die Frau hatte es in der Hand, dem Leiden ihres Sohnes ein Ende zu bereiten. Wenige Worte hätten gereicht, mit denen sie hätte eingestehen müssen, dass sie selbst es war, die ihn so schwer krank gemacht hat. Doch die 30-Jährige schwieg, verlangte immer neue und effizientere Therapien für ihr Kind – und lebte ihre Rolle als vermeintlich aufopferungsvolle Mutter.
Die Täterin war als Kind selbst Opfer und sexuell missbraucht worden
Jetzt muss diese Frau, die monatelang ihr Kind quälte und miterlebte, wie ein Team von engagierten Ärzten vergebens gegen eine scheinbar tückische Krankheit ihres Sohnes kämpfte, möglicherweise ins Gefängnis. Im Prozess vor dem Landgericht, wo sich Natalia H. (Name geändert) unter anderem wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen und gefährlicher Körperverletzung verantworten muss, fordert die Staatsanwaltschaft drei Jahre und zehn Monate Haft für die Angeklagte. Wiederholt, vielleicht sogar ein Dutzend Mal, hat die Mutter nach Überzeugung der Anklägerin ihrem Sohn mit Fäkalien, Speichel oder abgestandenem Blumenwasser verseuchte Flüssigkeiten gespritzt, um ihn krank zu machen.
Die Angeklagte habe „ihren Sohn mehrfach konkret in Lebensgefahr gebracht und ihm Schmerzen zugefügt“, sagt die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer. Die Verteidigung beantragt indes eine Bewährungsstrafe. Das Urteil wird für Donnerstag erwartet.
Natalia H., eine zierliche Frau mit langem, dunklem Zopf, hat sich von den Zuhörern im Verhandlungssaal weggedreht, den Blick unverwandt gegen eine Wand gerichtet, als wäre sie nicht wirklich da. Doch dann holt sie ein Tuch hervor und tupft sich damit immer wieder über die Augen.
Die 30-Jährige ist eine psychisch kranke Frau. Sie leidet nach Überzeugung eines Sachverständigen am sogenannten Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, einer schweren Persönlichkeitsstörung. Diese zeigt sich dadurch, dass Frauen, in der Regel die Mütter, ihre Kinder krank machen, um dann umfangreiche Therapien in Kliniken zu bekommen.
Meist geht es den Frauen darum, Zuwendung zu erzwingen. Ausgelöst wurde die Störung bei Natalia H. nach Erkenntnissen des Gutachters vermutlich durch mehrere traumatische Erlebnisse in der Kindheit, unter anderem sexuellen Missbrauch durch eine Tagesmutter über längere Zeit.
Und nun, für einige Monate, erfuhr sie wegen der von ihr verursachten Qualen ihres Sohnes die Aufmerksamkeit, die sie gewollt hatte. Begonnen hatte das Martyrium des damals Dreijährigen im Juli 2013. Immer wieder litt der Junge unter dem sehr hohen Fieber und bekam Abszesse, sein Blutdruck fiel ab. Er kam mehrfach auf die Intensivstation und musste auch wiederholt künstlich beatmet werden. Er bekam eine Chemotherapie, eine Knochenmarktransplantation war geplant – bis die Mutter in Verdacht geriet und von ihrem Kind getrennt wurde. Schon wenig später konnte der Junge nach Hause entlassen werden.
Die 30-Jährige sei sich „der Lebensgefahr“, in der ihr Sohn sich mehrfach befand, „bewusst gewesen“, betont die Staatsanwältin. „Es gab immer wieder Aufklärungsgespräche.“
Strafmildernd sei indes zu werten, dass Natalia H. die Taten zumindest „pauschal gestanden“ habe und ihr Handeln „aufrichtig bereut“. Zudem verweist die Anklägerin darauf, dass bei Natalia H. „eine verminderte Schuldfähigkeit nicht auszuschließen“ sei. Der psychiatrische Sachverständige hatte erklärt, dass die Mutter auch unter einer „posttraumatischen Belastungsstörung leidet“ und sich möglicherweise „in einer inneren Notsituation befunden“ habe.
Die Verteidigung betont in ihrem Plädoyer das „Trauma der Angeklagten in ihrer Kindheit“, das sie „zutiefst seelisch verletzt“ habe. Und in ihrer Ehe habe ihr Mann alle Verantwortung für Familie und Haushalt auf seine Frau abgewälzt und sie zudem lange Zeit mit einer anderen Frau betrogen. Natalia H. sei eine „Täterin, die früher selbst auch Opfer war. Sie hat ihrem sehr, sehr geliebten Sohn Schmerzen zugefügt“.
Die schwerste Strafe habe die 30-Jährige schon: indem sie ihren Sohn und ihre beiden Töchter seit fast zwei Jahren nicht mehr sehen darf. Fünf Monate war sie in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht und wird bis heute therapiert. Auch um diese Therapie, die im Gefängnis nicht fortgesetzt werden könne, nicht zu gefährden, argumentiert die Verteidigung, sei eine Bewährungsstrafe wichtig. Die Angeklagte selbst sagt zum Schluss, was sie ihrem Sohn angetan habe, „tut mir sehr leid“. Bei diesen Worten ist Natalia H. kaum zu verstehen – so sehr schluchzt und weint sie.