Hamburg . Die Frau hatte ihrem Kind mit Fäkalien vermischte Substanzen gespritzt. Sie ist wahrscheinlich krank. Öffentlichkeit ausgeschlossen.

Viel hätte nicht gefehlt, und der kleine Junge wäre gestorben. Über Monate kämpften Ärzte gegen eine offenbar tückische Krankheit, die den Dreijährigen immer wieder in einen erbärmlichen Zustand versetzte und auch in Lebensgefahr brachte. Doch keine Therapie schien wirklich anzuschlagen. Und an der Seite des Kindes stets die Mutter, die so aufopfernd und fürsorglich wirkte und die Mediziner um immer neue, möglichst noch effizientere Behandlungen ersuchte, bis hin zur Knochenmark-Transplantation und Chemotherapie. Bis sich schließlich ein ungeheurer Verdacht erhärtete: Offenbar war es die Mutter selbst, die ihren Sohn gequält, krank gemacht und letztlich sein Leben aufs Spiel gesetzt hat. Sie soll für sein Martyrium verantwortlich sein.

Was geht in dieser Frau vor? Was treibt eine Mutter an, monatelang extremes Leid ihrem eigenen, wehrlosen kleinen Kind zuzufügen, das doch ihres Schutzes bedarf und ihr bedingungslos vertraut? Diese Fragen möglichst zu beantworten, wird die Hauptaufgabe des Landgerichts sein, vor dem sich Natalia H. (Name geändert) seit Montag unter anderem wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen und gefährlicher Körperverletzung verantworten muss. Die 30-Jährige ist eine zierliche, aparte Frau mit langem dunklem Zopf, die zum Auftakt des Prozesses mit leiser, aber fester Stimme ihre Personalien nennt, dann jedoch mehrfach mit einem Tuch über ihre Augen tupft. Auf dem Weg zum Gerichtssaal hat sie ihr Gesicht mit einem schwarzen Schal verhüllt, und während sich Fotografen mit Kameras um sie drängen, fungieren ihre Verteidiger als optischer Schutzwall.

Anklage beschreibt die unfassbare Leidensgeschichte

Doch die Macht der Wörter können die Anwälte nicht dämpfen. Und so breitet sich mit der Verlesung der Anklage die unfassbare Leidensgeschichte des Dreijährigen aus, den Natalia H. von Juni bis November 2013 immer wieder mit verseuchten Spritzen gequält haben soll. Mit Fäkalien, Speichel oder abgestandenem Blumenwasser versetzte Substanzen hat sie ihm demnach wiederholt in die Blutbahn oder unter die Haut gespritzt. Der Junge bekam heftige Schmerzen, sehr hohes Fieber und Abszesse. Sein Blutdruck fiel ab, und die Sauerstoffsättigung des Blutes sank. Er musste immer wieder wochenlang im Krankenhaus behandelt werden, er kam auf die Intensivstation und musste auch intubiert werden. Es bestand konkrete Lebensgefahr.

Und wann immer die Ärzte die Symptome in den Griff bekamen und der kleine Junge mit seiner Mutter nach Hause konnte, griff die 30-Jährige laut Anklage erneut zur Spritze, um das Kind wieder krank zu machen und eine Behandlung im Krankenhaus zu erzwingen. Die Mediziner gingen schließlich von einer Krebserkrankung aus und beschlossen, dass eine Knochenmark-Transplantation vorgenommen werden solle. Obwohl auch diese lebensgefährlich ist, beharrte die Mutter demnach darauf, dass dieser massive Eingriff und auch eine Chemotherapie erfolgen sollten. Doch bevor es zu der Transplantation kam, wurde den Ärzten das Verhalten der Mutter suspekt. Präparierte Ampullen wurden gefunden. Die Mediziner stellten daraufhin Natalia H. zur Rede und trennten sie von ihrem Kind. Zwei Wochen später war der Junge wieder Hause, mit normalen Blutwerten.

Der Vater hat die Scheidung eingereicht

Gute Mutter – böse Mutter: Die extrem fürsorgliche Frau, die beständig und scheinbar fast bis zur Selbstaufgabe am Bett ihres Kindes wacht, und die Täterin, die den Tod ihres Sohnes in Kauf nimmt – wie passt das zusammen? Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Natalia H. unter dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leidet. Bei dem Krankheitsbild geben Frauen, in der Regel die Mütter, entweder fälschlich Symptome an, an denen ihr Kind angeblich leidet, oder sie manipulieren an ihm, bis es sogar dramatische Krankheitsbilder aufweist, und verlangen umfangreiche Therapien. Dabei geht es ihnen meist darum, Zuwendung und Aufmerksamkeit zu erzwingen.

So äußert sich das Münchhausen-Stellvertreter-Sydrom

 

Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (Munchausen syndrome by proxy) macht jemand einen anderen Menschen bewusst krank oder täuscht eine Krankheit vor. Anschließend verlangt der psychisch kranke Täter dann eine fachkundige Behandlung für sein Opfer.

 

Häufig sind es Mütter, die ihr Kind auf diese Weise schwer misshandeln. In der Regel wollen die Frauen so Zuwendung für sich und ihre Kinder erreichen. Bisweilen gehen die psychisch kranken Mütter so weit, dass ihr Kind an der Misshandlung stirbt.

 

Beim Münchhausen-Syndrom fügen Menschen sich selbst Schaden zu.

 

Ihren Namen haben Münchhausen- und Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom von dem als Lügenbaron bekanntgewordenen Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen (1720-1797).

 

Der Baron aus Bodenwerder im Weserbergland soll gern in geselliger Runde Aufschneidereien erzählt haben, die von Autoren in späteren Jahren übertrieben dargestellt wurden.

1/5

Natalia H. war nach Aufkommen des Verdachts längere Zeit in einem psychiatrischen Krankenhaus, und auch nach ihrer Entlassung wird sie weiter therapiert. Ihren kleinen Sohn und ihre beiden Töchter darf sie nicht sehen. Ihr Mann hat die Scheidung eingereicht.

Was er über die furchtbare Zeit zu sagen hat, in der er wohl um das Leben seines Sohnes bangte, was die Angeklagte zu den Vorwürfen erzählt und was Ärzte und andere Zeugen im Prozess über das Leiden des Dreijährigen berichten, wird nicht öffentlich erörtert. Das Landgericht schließt nach Anklageverlesung die Öffentlichkeit aus, weil als Folge der Taten die Unterbringung von Natalia H. in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht kommt und „absolute Kernbereiche ihrer Persönlichkeit“ erörtert werden, deren Schutz laut Gerichtsverfassungsgesetz oberste Priorität haben kann. Sollte sie schuldig gesprochen werden, drohen der Mutter bis zu 15 Jahren Haft. Ein Urteil wird für Anfang Oktober erwartet.