Hamburg. Das Theater nimmt Menschen auf, die am Bahnhof stranden. Das Abendblatt begleitete Schauspieler und Techniker bei einer Nachtschicht.

Vor ein paar Tagen war Jan Peter, 41, noch Schauspieler, nun verwaltet er den Ansturm. Mit engen Schritten eilt er den Eingangstunnel am Schauspielhaus hinauf, die Uhr zeigt bald Mitternacht, „beste Sendezeit“, sagt er. Zwei Frauen in Reflektorwesten rütteln vorn am Gittertor, dahinter lugen Augen eines syrischen Ehepaars und ihrer drei Mädchen. Sie umklammern Plüschtiere, ihre Augen sind gerötete Schlitze. „Die Situation ist skurril. Aber auch spannend. Für alle Beteiligten“, sagt Jan-Peter.

Das Ensemblemitglied führt die Familie über Beton mit eingelassenen Leuchtstrahlern hinab in das Foyer des Malersaals. Seit Sonnabend bietet das Schauspielhaus ein Nachtquartier für Flüchtlinge, die nach Skandinavien wollen und zu Hunderten am Hauptbahnhofstranden. Mehrmals in der Nacht kommen Züge aus München und Stuttgart mit weiteren Flüchtlingen an. Die Ehrenamtlichen im Bahnhof weisen ihnen Schlafplätze zu, seit Mittwoch stehen auch Zelte auf dem Vorplatz. Wer zu erschöpft für weite Wege ist, kann auch im Schauspielhaus schlafen, maximal 60 Menschen pro Nacht.

In der Notunterkunft bedecken Matratzen und bunte Bettwäsche den Betonboden. In Kisten stapeln sich Duschgel, Zahnbürsten, Kaffeekannen, getrocknete Datteln. „Wir wollen gute Gastgeber sein“, sagt der Dramaturg Bastian Lomsché, mehrere Dutzend der 400 Mitarbeiter helfen freiwillig, Tag und Nacht. Am Freitag soll die Spielsaison im größten Hamburger Theater beginnen, die Generalproben laufen. Die Notunterkunft ist auch der Versuch, Normalität und Krisenhilfe irgendwie unter einen Hut zu bringen.

Die Freiwilligen müssen den Umgang mit den Flüchtlingen erst lernen

Bastian Lomsché steht gegen 22 Uhr im Foyer und gibt letzte Ratschläge. Zwölf Mitarbeiter sind gekommen, viele Schauspieler, ein künstlerischer Leiter, ein Tontechnikazubi, Tischlerinnen. Einige wippen mit den Beinen, sie haben viele Fragen. „Wie sollen wir sie denn begrüßen?“, fragt ein Mitarbeiter, aus der Runde schallt ein „Moin geht immer“ zurück.

„Denkt daran, wir müssen hier niemanden bespaßen, einfach nur da sein“, sagt Lomsché. Die Flüchtlinge seien müde, sprächen selten Deutsch oder Englisch. „Nehmt euch dann einfach die Zettel, seid freundlich und achtsam.“ Mit Tesa sind ein duschendes Strichmännchen und eine Zahnbürste an der Wand befestigt. Die echten Krisen seien nicht planbar, sagt eine Helferin, die seit Sonnabend dabei ist. „Nachts könnten Kinder plötzlich aufwachen und extrem weinen, die meisten haben zu viel Mist in solchen Camps erlebt. Nehmt das nicht persönlich, mehr könnt ihr nicht tun.“

Ein Matzratzenlager im Schauspielhaus
Ein Matzratzenlager im Schauspielhaus © Michael Arning | Michael Arning

Die ersten Flüchtlinge kommen pünktlich um 22.30 Uhr. Zwei hochgewachsene arabische Herren, die vergangene Woche haben sie damit verbracht, aus Ungarn irgendwie gen Norden zu kommen. „Hungrig?“, fragt Jan- Peter auf dem Weg über die Rampe, die Kantine hat nachts noch einen Topf Suppe gekocht. „No“, brummen sie. „Müde?“ Die Männer nicken eifrig, werfen ein „Thank you“ in das Spalier aus Freiwilligen, von denen sich einige verbeugen, ein Leuchten in den Augen.

Zwischen den Matratzen streifen sie die Schuhe ab, werfen sich in Jacke auf den Boden, einer drückt wild auf seinem Handy herum, der andere faltet die Hände hinter dem Kopf. Er wird noch für eine Stunde so wach liegen und über seinen Schnäuzer nach oben schauen, als gebe es in diesem Moment kein Elend in seiner Welt. „Wir werden auch wieder Männer haben, die nur sitzen und wachen, nicht schlafen können. Die sind im Beschützermodus, dauerhaft“, sagt Bastian Lomsché.

Am Morgen muss es schnell gehen – für die Proben und die nächsten Flüchtlinge

Kurz nach Mitternacht wächst die Zahl der Ankömmlinge, draußen sammeln sich die Reflektorjackenträgerinnen, die Flüchtlinge schon am Bahnsteig begrüßen und mit Dolmetschern beraten. „Wir können nicht alle aufnehmen“, sagt Bastian Lomsché einer von ihnen am Tor, oft weisen die Mitarbeiter auch Obdachlose ab, „das ist bitter, aber geht nicht anders“.

Familien mit kleinen Kindern haben Vorrang. Am Sonnabend, als die Flüchtlinge Schutz vor den Krawallen zwischen Linken und Rechten am Hauptbahnhof suchten, nahm das Schauspielhaus noch 300 Menschen auf einmal auf. Die Intendantin Karin Beier entschied, das Foyer so lange zu nutzen, bis sich die Situation am Hauptbahnhof entspannt. „Wir haben genug Freiwillige“, sagt eine Helferin. Im Flur stapeln sich so viel Kleidung und Hygieneartikel, dass keine weiteren Spenden angenommen werden. „Wir müssen sehen, ob sich das hier in der Saison aufrechterhalten lässt. Die Bereitschaft wäre da“, sagt Lomsché.

Bis halb vier am frühen Morgen führen die Ehrenamtlichen leise weitere Familien in den Saal. Unten wachen zwei Freiwillige, horchen in das gelegentliche Husten, ob ein Flüchtling medizinische Hilfe braucht. Am Eingang plaudern Jan-Peter und der Technikazubi bei Drehzigaretten, „wir kommen alle mal aus unseren Mikrokosmen heraus“, sagt ein Helfer. Die syrischen Mädchen sind an den Füßen ihrer Eltern eingeschlafen.

Wenn der Morgen anbricht, muss es schnell gehen. Um 8 Uhr werden die Familien geweckt, sie bekommen eine Dusche, Brot, Obst. Dann müssen sie gehen, erneut versuchen, einen Zug nach Skandinavien zu bekommen. „Wir kommen sonst mit dem Aufräumen nicht hinterher“, sagt Lomsché. Am Vormittag wird er wieder Dramaturg sein, für einige Stunden. Bis die Flüchtlingskrise das Theater erneut erreicht.