Hamburg. Manche beklagen den zu frühen Einsatz von Laufrädern, andere sehen Ursachen in veränderten Freizeitgewohnheiten der Kinder.
Spiderman und Superman düsen durch Jenfeld. Sie sind nur Abbildungen auf T-Shirts, aber ihre Superkräfte scheinen direkt in Arme und Beine der Jungs überzugehen, die die Figuren auf ihrer Brust tragen. Sie fahren mit dem Roller über Hügel, wackeln mit dem Lenker, pendeln über das Trittbrett und gehen mit geschlossenen Augen um den Lenker. Es gibt keine Aufgabe, der sie nicht gewachsen wären. „Schneller“, ruft Francis und fordert seinen Kumpel Spiderman zu einem Wettrennen auf. Kinder sind Atomkraftwerke, wenn ihnen etwas Spaß macht.
Wir sind auf dem Schulhof der Grundschule Jenfeld. Zwölf Kinder im Alter von vier bis sieben Jahren wollen in dieser Ferienwoche Radfahren lernen. Organisiert wird das kostenlose Angebot vom Kinderprojekt Arche. Es geht nicht nur darum, den Kindern eine sinnvolle Freizeitgestaltung anzubieten, sondern Fähigkeiten zu vermitteln, die ihnen ansonsten wahrscheinlich niemand beibringen würde. „Viele Eltern haben nicht die Zeit oder die Lust, ihren Kindern zu zeigen, wie es geht. Bei den Jüngeren sehen wir immer größere Defizite“, sagt Jamil Bentrup von der Arche.
Die Verletzungsgefahr für Anfänger ist auf einem Roller viel geringer
Die vierjährige Alicia stand vor dem Kurs noch nie auf einem Roller oder saß auf einem Kinderrad. Am ersten Tag wusste sie kaum, wie sie sich überhaupt auf einen Roller draufstellt. Wer nachvollziehen möchte, wie sich das Lernen für Kinder anfühlt, muss sich nur rückwärts auf einen Roller stellen und so probieren, ein paar Meter zu fahren. Schon hat man eine Vorstellung davon, vor welchen Herausforderungen die Kinder hier gerade stehen. Doch sie meistern sie mit Bravour. Heute, am dritten Tag des Kurses, fährt Alicia bereits große Kreise. Sie strahlt. Der Gewinner der Tour de France könnte nicht stolzer gucken als dieses kleine Mädchen. Als ihm ein anderer Rollerfahrer in die Quere kommt, weicht es geschickt aus. „Das ist sensationell“, sagt Christian Burmeister vom Verband der Radfahrlehrer, der den Kurs leitet und nebenbei Jamil Bentrup zum Radfahrlehrer ausbildet. Beide beobachten die Kinder beim Fahren ganz genau. „Alicias Autopilot ist schon ausgebildet, sie kann sich also schon ausbalancieren“, sagt Burmeister. Er lässt die Kinder zu Beginn des Kurses auf dem Roller üben und erst dann auf das Rad umsteigen, denn Rollerfahren trainiert alle motorischen Fähigkeiten, besonders die Bewegungs- und Gleichgewichtskoordination. Es vermittelt ein Gefühl für Beschleunigung, Geschwindigkeit und Manövrierverhalten, und die Verletzungsgefahr für Anfänger ist auf einem Roller viel geringer als auf einem Fahrrad.
Die nächste Aufgabe für die Kinder besteht darin, auf Signale richtig zu reagieren. Jamil wirft einen großen Würfel in die Höhe. Wenn eine Eins fällt, heben die Kinder einen Arm, bei der Drei das Bein, bei der Sechs sollen sie mit dem Po wackeln. Die Kinder bejubeln jede Sechs, ihr Lachen erfüllt den verwaisten Schulhof. Selten fuhr dort in den Ferien so viel Freude umher.
Der lustige Kurs hat einen ernsten Hintergrund. „Durch das veränderte Freizeitverhalten der Schüler haben sie immer größere Schwierigkeiten, souverän mit dem Rad umzugehen“, sagt Polizeiverkehrslehrer Michael Jensen. „Beim PC-Spielen trainieren sie nur ihr Handgelenk, doch den Rest des Körpers lernen sie nicht kennen.“ Das viele Sitzen sei genauso ein Problem wie die mangelnde Zeit vieler Eltern. Jensen hält die Verkehrserziehung der Polizei an den Hamburger Grundschulen für zwingend erforderlich. Zehn bis 15 Prozent aller Schüler bestehen die Radfahrausbildung nicht, die zum Abschluss der Grundschulzeit ansteht. „Und es werden leider immer mehr“, sagt Jensen. In sozial schwachen Stadtteilen fehlt den Eltern schlichtweg auch das Geld für ein Rad, aber das grundsätzliche Problem mit dem Radfahren ziehe sich durch alle Schichten.
Für Christian Burmeister resultiert dieser Missstand jedoch eher aus schlechter Vermittlung. Viele Lehrer würden immer nur Technik, Technik, Technik pauken lassen, das hält Burmeister für einen großen Fehler. Mit dem richtigen Vorhandgriff gewinnt man noch kein Wimbledon-Finale. Oder anders herum: John McEnroes Technik war grauenhaft, aber wen kümmert das bei den Erfolgen? Lernen ist ein Entwicklungsprozess, der Schritt für Schritt abläuft, deshalb setzt Burmeister in seinen Radfahrkursen auf Entfaltung. Er denkt sich eine lustige Aufgabe nach der anderen aus, gibt hier und da ein paar Tipps, hält aber keine Vorträge. „Kein Lehrer, sondern das Rad höchstpersönlich vermittelt die Kunst des Radfahrens“, sagt er.
Der 54-Jährige kann sich richtig aufregen über die seiner Ansicht nach vielen schlechten Pädagogen, die die Leistungs- und Entfaltungsprozesse eines Kindes behindern, anstatt sie zu fördern. „In unserer Gesellschaft geht es leider immer nur um Ergebnisse. Jedes Kind will etwas leisten, dabei aber nicht unter Druck geraten. Anerkennung bekommt es immer nur, wenn es etwas kann, nicht für sein Bemühen an sich“, sagt Burmeister.
Der studierte Sportwissenschaftler brennt für seine Mission. Er hat viele Projekte im Behinderten- und Integrationssport übernommen, Straßenkinder in St. Petersburg betreut, Gesundheitsurlaube organisiert, den Verband der Radfahrlehrer mit aufgebaut und widmet sich nun der Ausbildung von Radfahrlehrerinnen. Burmeister redet mit Händen und Füßen und sich auch mal in Rage, so sehr liegen ihm die Kinder am Herzen. „Ihre Welten sind heute zu steril und zu bewegungsarm“, kritisiert Burmeister. Ein Teenager aus der Steinzeit, der in unsere Zeit gebeamt würde, könnte in kurzer Zeit lernen, ein Handy zu bedienen. Aber ein Teenager von heute, der in die Steinzeit geschickt würde, der sei einfach nicht überlebensfähig, glaubt Burmeister, der das Radfahren als kleiner Junge in den Harburger Bergen lernte. Mit viel Platz und viel Geduld seitens der Eltern. „Doch die Räume heute werden immer kleiner, und Fehler dürfen die Kleinen doch auch kaum mehr machen, weil sich die Eltern so sorgen.“ Ein Kind brauche aber die Möglichkeit, auch mal scheitern zu dürfen, um sich weiterzuentwickeln. Es müsse in Phänomene eintauchen, um sie zu begreifen – und dabei fällt es eben auch mal von der Schaukel oder fährt gegen einen Zaun so wie jetzt Jan. „Du dummes Ding“, sagt er wütend und tritt gegen den Roller. Jamil nimmt ihn auf den Arm. Der 29-Jährige tröstet den kleinen Jungen, lässt ihn auf seinem Schoß eine Pause machen und das Geschehen verfolgen, denn er weiß: Allein vom Zugucken wird Jan in ein paar Minuten so motiviert sein, dass er von alleine wieder aufsteigt. Rollern und Radfahren seien viel mehr als nur gesund, sagt Jamil: „Das bringt Selbstvertrauen. Die Kinder werden gestärkt, sie lernen Weitsicht, Umsicht und Sozialverhalten.“
Als Nächstes wird Hütchen-Bowling gespielt. Die Kinder fahren mit Anlauf durch einen Haufen orangefarbener Sicherheitshütchen. „Alle neune!“, jubelt Neal, aber die anderen protestieren. „Stimmt nicht, nur sieben Stück sind bei dir umgefallen.“ Also wieder hinten anstellen und noch mal den Roller zur Bowlingkugel machen. Angst, in die Menge zu fahren, hat scheinbar keiner, was eine wichtige Lektion des Spiels ist: Hütchen oder Kreide auf der Straße oder kleine Steine sind deine Freunde, im Gegensatz zum Pfeiler oder Metallpoller. Denen sollte man lieber nicht zu nahe kommen.
Und dann gibt es noch etwas, das man laut Burmeister am besten meiden sollte: Laufräder! „Laufräder sind Gift für die spätere Entwicklung. Ihr Einsatz hinterlässt Spuren, aber das will die normale Mutter nicht hören“, sagt Burmeister. Viel zu früh würden die häufig erst Dreijährigen auf Laufräder gesetzt, wodurch sie Geschwindigkeiten erreichen, für die sie im Hinblick auf Wahrnehmung und Handeln noch gar nicht ausgebildet seien. Durch das Laufrad gewöhnten sich die Kinder außerdem an, mit den Füßen zu bremsen, was später beim Rad nicht möglich ist. „Laufradgeprägte Kinder springen dann in Gefahrensituationen vom Rad“, sagt Burmeister.
Auf einem E-Bike müsste man eigentlich das Fahren noch mal ganz neu lernen
Für ihn fahren aber nicht nur die Kinder schlechter Rad, sondern die Menschen allgemein: „Die Welt wird immer virtueller, doch die Kommunikation auf der Straße läuft über Menschen, nicht über Displays.“ Burmeister unterrichtet auch Erwachsene. Gerade Frauen aus anderen Kulturen durften als Kind selten Radfahren, jetzt kommen sie zu den Kursen, die Burmeister anbietet. Erste Lektion ist dann immer die sichere Kleidung, komplett verhüllt sieht man wenig.
Aber auch erfahrene Erwachsene können immer noch was dazulernen, vor allem, wenn sie sich ein Pedelec zulegen und nicht beachten, dass sich mit Elektroantrieb nicht nur die Geschwindigkeit, sondern die ganze Dynamik und der Schwerpunkt verlagern. „Auf dem E-Bike muss man eigentlich noch mal ganz neu Radfahren lernen, um in Stresssituationen richtig reagieren zu können, aber das will keiner wahrhaben“, sagt Burmeister.
Der Unterricht der Erwachsenen läuft etwas anders ab, Burmeister wählt hier eine ganz andere Ansprache. Während er mit den Kindern rumalbert, ist der Rahmen in den Erwachsenen-Kursen eher sachlich. „Aber auch in diesem sachlichen Rahmen entdecken die Leute das Kind in sich, dementsprechend heiter, gelöst und familiär geht es zu, auch in den Kursen für Migrantinnen“, sagt Burmeister.
Beim Lernen benötigen Erwachsene allerdings mehr Zeit als Kinder, um die gemachten Erfahrungen zu verarbeiten. Während die Kinder an diesem Morgen locker drei Stunden eine Übung nach der anderen bewältigen – nur unterbrochen durch kurze Trinkpausen –, brauchen Erwachsene mehr Pausen. Und es gibt noch einen Unterschied: Kinder vermeiden Ängste, indem sie stets behutsam an ihre Grenzen gehen. „Erwachsene gehen bereits in ihren Wünschen und Hoffnungen rein gedanklich über ihre Grenzen und spüren daher häufig Angst“, sagt Burmeister. Um dies zu vermeiden, gestaltet er ihre Aufgaben konkreter und kleinschrittiger.
Die Kinder auf dem Schulhof in Jenfeld jedenfalls haben keine Angst. Sie fahren jetzt nacheinander unter Stäben hindurch; sie wollen Spaß, sie geben Gas. „Das Schöne ist, dass wir hier nicht in der Schule sind“, sagt die sechsjährige Alina und lacht. „Wir machen Roller-Limbo.“