Für Sieghard Wilm war die Auszeit eine Burn-out-Prophylaxe. Seine Arbeit auf St. Pauli lag ihm am Herzen – war aber auch erschöpfend.

Es kam der Zeitpunkt, an dem Pastor Sieghard Wilm merkte: Jetzt reicht’s. Die humanitäre Nothilfe für Flüchtlinge und der ständige öffentliche Druck auf die evangelische St.-Pauli-Kirche – all das zehrte an seinen Kräften. Die Hilfe für Flüchtlinge liegt ihm zwar sehr am Herzen. „Aber dieser Ausnahmezustand hat mich mental und körperlich erschöpft“, erinnert er sich. Sieghard Wilm, 49, nahm sich deshalb mit dem Segen seiner Vorgesetzten eine Auszeit. Die Nordkirche gewährt Pastoren ein bezahltes Sabbatical als Burn-out-Prophylaxe. Bereits Anfang 2013 hatte Wilm einen Antrag gestellt. Von Januar bis März 2015 wurde ihm das Sabbatical gewährt.

Ganz allein reiste der Pastor ans andere Ende der Welt. 14.000 Kilometer von Hamburg entfernt wollte er neue Kraft tanken, Pinguine und Wale beobachten, Albatrosse und den Kondor fliegen sehen. Erst machte er im chilenischen Teil von Patagonien Station, dann ging es weiter nach Argentinien und Uruguay. In Feuerland hatte Wilm danach vor allem eines: viel Zeit in einem Land, das mit seinen Bergen und dem beständigen Wind so unendlich scheint. „Ich liebe die weite, leere Landschaft dort, die raue, unverbrauchte Natur“, sagt er. „Aus jedem Bach kann man trinken. Das macht einsame Wanderungen mit Rucksack und Zelt über mehrere Tage möglich.“

Pastor Sieghard Wilm in der St. Pauli Kirche
Pastor Sieghard Wilm in der St. Pauli Kirche © Pressebild.de/Bertold Fabricius | Pressebild.de/Bertold Fabricius

Die Einsamkeit – sie zog ihn in seinen Bann. Wer sonst so stark im Fokus der Öffentlichkeit steht, genießt es, allein zu sein. Nur einmal bekam er von seinem Partner Besuch für zwei Wochen, in Buenos Aires. „Ansonsten aber habe ich während meines Sabbaticals die Einsamkeit gesucht und die Zwiesprache mit Gott gefunden. Ich habe die Grenzen meines fast 50-jährigen Körpers gespürt, die Müdigkeit der Knochen. Und dann wieder ungeahnte Kräfte, die mich beflügelt haben“, erzählt er. Heulend und singend sei er durch die Landschaft gezogen. Das sei heilend gewesen.

Zu den wirksamsten Heilkräften seiner Auszeit gehört der Zugewinn an körperlicher und mentaler Konstitution. „Körperlich bin ich stärker, ich fühle mich entschleunigt. Und ich habe das Rauchen aufgegeben.“ Aus der gewonnenen Distanz sehe er sowohl solidarisch als auch kritisch auf den Stadtteil St. Pauli und die Gemeinde. „Es ist ja das Fremdwerden, das die Sinne schärft.“ Mit neuer Frische kehrte Pastor Sieghard Wilm im April wieder in seinen pastoralen Alltag zurück. Die Menschen begegneten ihm mit Verständnis für seine Auszeit. Natürlich musste er von seinen Erlebnissen berichten. Nur gelegentlich spürte Wilm, dass es bei seinen Zuhörern eine Spur von Neid gab. „Ich weiß schließlich, dass es nicht allen so leicht möglich ist, eine Sabbatzeit zu nehmen.“