Hamburg. Der Designer, der schon Heidi Kabel und die Knef einkleidete, will mit 83 Jahren kürzertreten – und ist nach Marienthal gezogen.
Jürgen Hartmann kann noch eine Menge Einzelheiten seines bislang 83 Jahre langen Lebens aufzählen. „Meine Erinnerung beginnt 1936“, sagt der Modeschöpfer, ohne dass danach gefragt wurde, und berichtet, wie damals aus dem Auto seiner Eltern ein Treppchen ausgeklappt wurde, damit sich die Fräuleins beim Aussteigen nicht die Füße nass machten. Die Damen der sogenannten besseren Gesellschaft haben Hartmann schon früh beschäftigt. Seit mehr als 60 Jahren hat er viele bekannte Persönlichkeiten eingekleidet. Meist mit pompösen Roben, in schillernden Farben, bestickt mit vielen Pailletten.
Hartmann lebt sich offensichtlich in seiner Arbeit aus, er selbst sieht im Vergleich mit den von ihm gestalteten Kleidern eher schlicht aus: rosa-weißes Hemd mit breiten Längsstreifen, Goldkettchen, dazu beigefarbene Weste und Hose. Hildegard Knef und Heidi Kabel zählten zu Hartmanns Freundinnen, mit Josephine Baker stand er als Sänger auf der Bühne. „Ich habe sie alle überlebt“, sagt der Modeschöpfer heute. Das Schaffen des bislang „unkaputtbar“ erscheinenden Couturiers geht nun wirklich zu Ende.
Nach seiner Karriere gefragt, schweift Hartmann gern ab. Er kommt immer wieder auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs zu sprechen, den er als Kind mit drei Brüdern und einer Schwester in Parchim (Mecklenburg-Vorpommern) erlebt hat. Er wollte Musik studieren, musste aber bei einem Schneider in die Lehre gehen, um Geld zu verdienen. Und immer wieder spricht Hartmann von der feinen Hamburger Gesellschaft, mit deren Akteuren er zusammengearbeitet hat. Er weiß, dass er vom Thema abkommt. Aber diese Dinge sind ihm wichtig.
Heute fertigt der Modeschöpfer nur noch selten Kleider an. „Seit zehn Jahren geht es mit mir bergab“, sagt Hartmann, der das Ende seiner Karriere mit einem für ihn bedeutenden Schritt untermalt. Vor zwei Monaten ist er umgezogen, nach 52 Jahren hat er sein Atelier in St. Georg aufgegeben, die feine Adresse An der Alster gegen eine ruhige Wohnstraße in Marienthal getauscht.
In seinem kombinierten Wohn- und Schlafzimmer kann man den Stil seiner Roben wiedererkennen: Mehr ist mehr. Die Räume sind voll von Kristallschälchen, Kerzenleuchtern in allen Größen, Teppichen und Tischchen, in einer Silberschale hat er künstliche, übergroße Weintrauben drapiert. Vor einem dreiteiligen Art-déco-Spiegel, der eine ganze Wand einnimmt, steht eine Schneiderpuppe, sie trägt ein bodenlanges Kleid in Lilatönen, eine Schulter ist frei, die andere mit Pailletten bestickt. Das Kleid ist für Hartmanns Lieblingsmodel Marie Amière, die mit ihren 34 Jahren eine ungewöhnlich junge Wertschätzerin seines Stils ist. Im Flur der Wohnung zeugen Erinnerungsstücke von der Hoch-Zeit in Hartmanns Schaffen. Auf einer Kommode liegt ein signiertes Bild des französischen Pianisten Richard Clayderman, für den Hartmann in den 1980er-Jahren mal einen blauen Smoking entwarf – für 5000 D-Mark. Daneben hängen vergrößerte Schwarz-Weiß-Fotos von Hildegard Knef mit persönlichen Widmungen – darunter eine in der dritten Person: „Ich – einstige Berliner Göre – liebt Dich inniglich, in Dankbarkeit, für alle Zeit. Deine Hilde“, hat die Sängerin am 19. März 1993 für Hartmann geschrieben. Briefe von ihr seien der Hauptbestandteil seines Buches, sagt Hartmann.
Der Journalist Uwe Ernst hat stundenlang Gespräche mit dem Couturier geführt, um dessen Geschichte aufzuschreiben. „Schnittmuster eines Lebens“ solle es heißen und das Leben Hartmanns wiedergeben. Der will sich jetzt auf die Musik konzentrieren, sieben Jahre lang studierte er in Hamburg schließlich doch noch Gesang. Hartmann gibt mitunter in Binz und Dessau Benefizauftritte zugunsten krebskranker Kinder. Bei der Hamburger „Wendeltreppe“, dem Kabarett im Restaurant Parlament, tritt er regelmäßig mit seinen Chansons auf.
Schon vor zehn Jahren sagte der Couturier immer wieder, dies sei nun seine letzte Modenschau. Es stimmte nie. Inzwischen liegt seine letzte Show in Hamburg tatsächlich vier Jahre zurück. „Wir finden keine Sponsoren. Eine Schau hat 88.000 Euro gekostet“, sagt Hartmann, der sonst gern in D-Mark rechnet und noch sagen kann, wie viel sein erstes Zimmer, das er an der Mottenburger Straße in Ottensen bezog, kostete, 25 D-Mark nämlich.
Am 3. Dezember 1949 kam Hartmann nach Hamburg. Er war mit einem englischen Pass aus der DDR geflüchtet. Seine erste Anstellung bekam er bei einer Firma am Hansaplatz, aber schon 1952 machte er sich selbstständig. „Ich bin nicht der Typ, der sich unterordnet.“
Also kamen die Kunden in Hartmanns eigenes Atelier. „Die Kundinnen haben die private Atmosphäre in meinem Atelier an der Alster immer sehr geschätzt.“ Allein für Hamburgs Ehrenbürgerin Hannelore Greve fertigte er bis heute rund 700 Kleider an, Anproben sind nicht mehr nötig.
Den kleinen Raum mit der Nähmaschine in Marienthal wird Greve wohl höchst selten zu sehen bekommen. An den Hochbetrieb in Hartmanns Atelier erinnern dort nur noch die Zeitschriften, die auf dem Esstisch liegen. Aufgeschlagen sind die Seiten, die Fotos von Damen in Hartmanns Kleidern zeigen.