Wie verändern sich Zeiten und Menschen in einem Vierteljahrhundert? Prominente erinnern sich. Teil 4: Britta Becker.
Die SMS kommt auf die Minute pünktlich zur verabredeten Treffenszeit, und sie sagt viel über Britta Becker, ihre Kinderstube und ihre Einstellung zum Leben. „Gleich da, bin auf dem Weg“, ist zu lesen, dahinter das Emoticon mit den gefalteten Händen, in Kurznachrichten das Zeichen für die Bitte um Vergebung. Drei Minuten später betritt die langjährige Hockey-Nationalspielerin das Café Carlo am Mittelweg schnellen Schritts. Drei Minuten Verspätung bedingen nicht zwingend eine Entschuldigungs-SMS, man ist anderes gewohnt, auch von Hockeyspielern der heutigen Generation. Aber für eine Frau wie Becker, die sich selbst einen Hang zum Perfektionismus bescheinigt, sind drei Minuten Verspätung eben drei Minuten zu viel.
Es hilft, solche Dinge zu wissen, wenn man sich mit der 42-Jährigen über ihr Leben unterhält, und das ist der Grund des Treffens. In der Serie „25 Jahre später“ blickt das Abendblatt auf die Erfahrungen zurück, die prominente Bürger dieser Stadt im Vierteljahrhundert seit der Deutschen Einheit gesammelt haben. Für einige war der 3. Oktober 1990 eine Zäsur, für andere nur eine Randnotiz. Britta Becker liegt irgendwo dazwischen.
16 Jahre war sie alt, Schülerin am Immanuel-Kant-Gymnasium in Rüsselsheim, als im November 1989 die Mauer fiel. „Ich war mit meinem Verein auf dem Weg zu einem Turnier in Braunschweig, und ich erinnere noch genau, wie auf der Gegenfahrbahn ein Trabant nach dem anderen Richtung Westen fuhr“, sagt sie. Berührungspunkte mit der DDR hatte sie nie gehabt, ihr Geburtsort Rüsselsheim lag fernab der innerdeutschen Grenze, es gab keine Verwandten, keine Freunde im anderen Teil Deutschlands. Als Sportlerin war sie mal in West-Berlin auf einem Turnier gewesen, Anreise mit der PanAm, Rückreise mit dem Bus. „Die Stadt hat mich fasziniert, aber ich war irritiert darüber, dass die Menschen im Osten nicht frei waren.“
Ihr persönlicher Mauerfall war der Ruf in die Nationalmannschaft
Seine Meinung nicht sagen, nicht frei über die eigene Zukunft entscheiden zu dürfen – derlei Einschränkungen hätte Britta Becker schon 1989 nur unter größtmöglicher Selbstaufgabe verkraften können. Der persönliche Mauerfall in ihrem Leben war die Berufung in die deutsche Nationalmannschaft gewesen, die im selben Jahr erfolgt war, ein Einschnitt, der ihren gesamten Werdegang prägen sollte. „Als 16-Jährige mit durchweg älteren Spielerinnen, die in ihren Lebensphasen weiter waren als ich, durch die Welt reisen zu dürfen, das hat mich schneller reifen lassen und meine Persönlichkeitsentwicklung beschleunigt“, sagt sie. Nach Reisen mit der Auswahl zurück in die Schule zu müssen, empfand die Mittelfeldstrategin bisweilen als harte Strafe, dennoch stand nie infrage, bis zum Abitur durchzuziehen.
Woher diese Disziplin kam, mit der sie all ihren Ehrgeiz in die sportliche Karriere kanalisierte, kann Britta Becker nicht genau verorten. Sie wuchs in einer Familiensiedlung auf, wo es normal war, dass die Kinder nach der Schule auf die Straße gingen und erst wieder heimkamen, als die Mutter mit dem Abendbrot lockte. Britta spielte Baseball und Fußball mit den Jungs, fuhr Rollschuh und spielte Gummitwist mit den Mädchen, und sie nervte ihren dreieinhalb Jahre älteren Bruder Ralf, weil sie immer gleichzeitig all das lernen wollte, was er gerade konnte. „Er hat es nicht leicht mit mir gehabt“, sagt sie und lacht.
Hockey spielte niemand in der Familie, man ging allerdings gern zu den Bundesligaspielen des Rüsselsheimer Ruderklubs (RRK), es war die Zeit, als zu Spitzenduellen gern mal 3000 Besucher kamen. Der Bruder brachte es im American Football zum Bundesligaspieler. Die Mutter war Hausfrau, der Vater arbeitete bei Opel, wie so viele Väter in Rüsselsheim. Anfangs missfiel der Tochter des Hauses die Brandmarkung ihrer Heimat als Opel-Standort, zum bestandenen Führerschein wünschte sie sich einen gebrauchten Peugeot 305, bekam aber einen neuen Opel Corsa. „Darüber war ich anfangs enttäuscht“, sagt sie. Später kaufte sie als Familienoberhaupt selbst einen Meriva und einen Zafira. Die Vernunft hatte sich durchgesetzt.
Britta begann mit achteinhalb beim RRK mit dem Hockey, nachdem sie RRK-Jugendtrainer Berti Rauth, der ihre Karriere prägen sollte wie kein anderer Coach, im Schulsport entdeckt hatte. „Hockey – das war für mich wie Fliegen, ich habe dabei immer Leichtigkeit und niemals Druck empfunden“, sagt sie. Sie spürte schnell, dass sie am Krummstock ein Talent hatte, das ihr Großes ermöglichen konnte – und dass sie das nutzen musste. „Bis heute kann ich nicht verstehen, wenn Menschen ein Talent, das ihnen geschenkt wurde, nicht ausbauen, sondern verschleudern. Seit meiner Berufung als Zwölfjährige in die U16-Auswahl hatte ich deshalb den Ehrgeiz, im Hockey die Beste zu werden“, sagt sie.
Diesen Antrieb haben viele Leistungssportler, sie würden im Ausleseverfahren sonst nicht bestehen. Aber Britta Becker hatte mehr als Talent und Ehrgeiz. Sie hatte die mentale Stärke, sich von Schulterklopfern nicht irritieren zu lassen. Das ist nicht leicht, wenn man als Jugendliche in der örtlichen Presse in schöner Regelmäßigkeit Schlagzeilen wie „Multitalent“ oder „Wunderkind“ lesen darf. 1994, da war sie 21, erschien im „Stern“ eine Geschichte über Frauen im Leistungssport, illustriert mit einem einseitigen Foto von Britta Becker.
121 Länderspiele hatte sie damals schon bestritten, aber ihren Namen kannte bundesweit kaum jemand. Dieses Foto im „Stern“ war der Durchbruch. Norbert Pflippen, damals Manager der größten Fußballstars des Landes, nahm sie unter Vertrag, besorgte Sponsoring-Engagements. Es war, ohne dass sie es damals schon hätte ahnen können, die beste Vorbereitung auf ein Leben mit Glamourfaktor, das nach der Eheschließung mit Fernsehmoderator Johannes B. Kerner warten sollte.
1996 lernten sich die beiden kennen, er moderierte eine Veranstaltung von Opel, der Firma, die sie seit 1991 als persönlicher Sponsor unterstützte. Drei Monate später wurde geheiratet, seitdem steht in Britta Beckers Pass der Nachnamenszusatz Kerner, am Telefon meldet sie sich weiterhin nur mit Becker, auch auf ihren Trikots steht nur Becker. Es ist kein bewusstes Statement, aber ein Sinnbild dafür, dass sie sich trotz der größeren Bekanntheit ihres Mannes immer als eigenständige, gleichberechtigte und selbstbewusste Frau behauptet hat.
Britta Beckers herausragendste Eigenschaft, die sie von anderen, ebenso talentierten Mitspielerinnen abhob, war ihr Verständnis für Räume. Wer im Mittelfeld das Spiel gestalten will, braucht die Fähigkeit zum Antizipieren von Situationen, er muss vorausahnen, wohin die Mitspielerin laufen wird, um den Ball in die Schnittstelle zu spielen. Britta Becker konnte das, sie beschäftigte sich schon in der Jugend mit Fotografie, hatte eine eigene Dunkelkammer. Es ist deshalb auch keine Überraschung, dass ihr Blick für Räume den Weg in das Berufsleben nach der aktiven Karriere ebnete.
Sie hatte nach dem Abitur in Frankfurt am Main Sport studiert, „aber besser hätte das Designstudium zu mir gepasst, das ich mir nicht zugetraut hatte, weil ich glaubte, dort nicht die Beste sein zu können“, sagt sie. Der Perfektionismus, er ist eben nicht immer nur Antrieb, sondern bisweilen auch Hemmschuh. Den Weg zum Design, zur Innenarchitektur, fand Britta Becker dann im Privatleben, als sie beim Einrichten eigener Familiendomizile spürte, wie sehr ihr das Thema am Herzen lag – und dass sie auch dafür ein Talent besaß. Seit zehn Jahren entwirft sie freiberuflich (Internetpräsenz unter www.britta-becker.com) Räume für modernes urbanes Leben. „Ich hatte immer gehofft, nach dem Sport etwas zu finden, das mich genauso packt. Umso froher bin ich, dass ich es im Design gefunden habe“, sagt sie.
Der Sprung vom Leistungssport in ein erfülltes Leben danach bereitet manch einem Profi Schwierigkeiten; oft, weil der beste Zeitpunkt für den Abschied verpasst wird. Britta Becker hat ihn gefunden. Nachdem sie 2003 aus freien Stücken ihren Abschied bekannt gegeben hatte, kam sie ein Jahr später für ein Comeback zurück, weil ihr Heimatverein sie bekniet hatte, um mit ihrer Hilfe den Einzug ins Finale um die deutsche Meisterschaft zu schaffen. In Köln gewann der RRK den Titel, es war, nach 231 Länderspielen mit drei Olympiateilnahmen (Silber 1992 in Barcelona) und dem Gewinn der Hallen-WM 2003, fünf deutschen Meistertiteln im Feld und sechs in der Halle, Britta Beckers letztes Spiel, zu dem sie mit ihrer 1999 geborenen Tochter Emily an der Hand einlief. „Da hat sich ein Kreis geschlossen“, sagt sie.
Heute ist Emily diejenige, die den sportlichen Pfaden der Mutter folgt, sie ist Jugendnationalspielerin im Club an der Alster und gilt als eines der größten Hamburger Hockeytalente. Forciert hat die Mama das nie, auch wenn sie als Co-Trainerin der Mannschaft die Karriere der Tochter eng begleitet. „Ich versuche aber, so zurückhaltend wie möglich zu sein. Es wäre doch kontraproduktiv, wenn ich ihr dauernd von meinen Erfahrungen erzählen würde. Sie muss ihren eigenen Weg finden.“
Seit Emilys Geburt lebt Britta Becker in Hamburg, man brauchte damals eine Basis, damit angesichts des reise- und stressintensiven Jobs des Ehemannes und des nicht weniger fordernden Daseins als Hockey-Nationalspielerin ein Familienleben möglich wurde. Es war die Zeit, in der die Hessin, der man die Herkunft noch bisweilen anhört, wenn sie beispielsweise „trauf“ sagt statt „drauf“, die harte Lektion lernte, dass Familie und Beruf schwer zu vereinbaren sein können. „Ich habe Emmy im Jahr nach ihrer Geburt, als ich mich auf Olympia in Sydney vorbereitete, 180 Tage nicht gesehen. Ohne meine Eltern hätte ich das nie geschafft. Ich kann erst heute, da ich selbst vier Kinder habe, ermessen, was sie damals auf sich genommen haben. Das hat mich geprägt.“
Und sicherlich auch dazu beigetragen, dass 2003, zwei Jahre nach der Geburt von Sohn Nik, die Erkenntnis einsickerte, mehr Zeit für die Familie haben zu wollen und nicht für den Sport durchs Land zu reisen. „Ich habe immer gesagt, dass ich aufhören würde, wenn nicht mehr der Spaß überwiegt, sondern die Last. Und das habe ich getan“, sagt sie.
Es gebe nichts, was sie noch unbedingt machen wolle – dabei ist sie erst 42
Ganz abgeschlossen hat sie, die sich mit viel Jogging und ein wenig Golf und Tennis fit gehalten hat, mit dem Hockey natürlich nie. Warum auch, es ist ja das, was sie liebt, „und es wird im Leben nichts geben, das ich besser können werde“. Die Kinder – 2007 wurde Polly geboren, 2009 Jilly – spielen alle bei Alster. Sie selbst, die außer für Rüsselsheim nur kurzzeitig für Groß Flottbek in der Bundesliga antrat, hat vor Kurzem Alsters Zweite Damen in der Regionalliga verstärkt.
Und seit zwei Jahren arbeitet sie, möglich nur dank der Unterstützung eines fest engagierten Kindermädchens, ehrenamtlich im Deutschen Hockey-Bund als Vizepräsidentin für den Leistungssport. Dem Sport, der sie zu dem Menschen gemacht hat, der sie heute ist, möchte sie „etwas zurückgeben“, und sie hat gespürt, wie glücklich es sie macht, weiterhin ein Teil der viel beschworenen Hockeyfamilie zu sein. „Das ist einfach meins“, sagt sie, und es klingt in seiner Einfachheit logisch.
Es scheint unmöglich, alles in den vergangenen 25 Jahren Erlebte in einen einzigen Satz zu gießen, aber Britta Becker versucht es trotzdem am Ende des Gesprächs, und es ist ein bemerkenswerter Satz, der ihr dazu einfällt. „Wenn mein Leben heute vorbei gehen müsste, dann wäre das sehr schade, aber es wäre ein sehr erfülltes und glückliches Leben gewesen.“ Es gebe nichts, von dem sie das Gefühl habe, es unbedingt noch machen zu müssen. Wer das mit gerade 42 Jahren behaupten kann, der muss seine Zeit zu nutzen wissen. Und den Wert von drei Minuten kennen.
Nächsten Donnerstag:
Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit