Minsk . Im November 1941 deportieren die Nazis den jungen Hermann Hoffmann. Sein Neffe führte die Spurensuche bis nach Minsk.

Unter seinen Schuhen knistert der Wald. Zweige brechen, Blätter liegen im Gestrüpp. Hermann Völker geht ein paar Schritte, zu den Kiefern und den Birken mit der schuppigen Rinde. Er trägt einen schwarzen Mantel und eine blaue Kippa. Er bleibt stehen, hält inne und wirft die rote Nelke auf den Boden. Über die Gruben im Wald bei Maly Trostenez, am Rand der weißrussischen Hauptstadt Minsk, ist längst Gras gewachsen.

Hier im Wald sollen die Nazis bis 1944 zwischen 60.000 und 150.000 Menschen erschossen und in der Erde verscharrt haben. Vielleicht waren es 200.000. Die genaue Zahl kennt niemand. Das „Auschwitz von Weißrussland“ nennen es manche. Fassen lässt sich bis heute nur die Trauer der Angehörigen. Hermann Völker hat hier seinen Onkel verloren, die Tante Lydia und deren gemeinsames Kind. Er ist aus Hamburg nach Minsk gereist, sucht nach den Spuren seiner Familie. Hermann Völker ist zum Historiker seiner eigenen Geschichte geworden.

Im November 1941 notierte Claus Göttsche, der „Judenreferent“ der Hamburger Gestapo: „Der Zug fährt am 8.11.1941 um 10:52 Uhr ab Hannoverscher Bahnhof und soll fahrplanmäßig am 10.11.1941 in Minsk eintreffen.“ Massenmord, minutengenau geplant. Jeden Deportierten registrierten die Nazis in Listen. Völkers Onkel hatte die Nummer 398, Seite 18. Geboren am 5.5.1913, Angestellter, wohnhaft in der Schlachterstraße 48 am Großneumarkt. Staatsangehörigkeit „DR“. Deutsches Reich.

Nahe dem Ort der Massenmorde in Minsk liegt eine Mülldeponie

964 Menschen saßen gemeinsam mit Hermann Hoffmann im Zug nach Minsk. 952 Opfer sind bis heute ermittelt. Unwahrscheinlich, dass jemand überlebte. „Ich trage seinen Namen als Gedenken. Das ist jüdische Tradition“, sagt Völker. „Deshalb heiße ich Hermann. Und nicht Peter oder Michael.“

Die Namen, viel mehr ist nicht geblieben im Wald bei Maly Trostenez. An Bäumen hängen Schilder. Margot Krakauer. Viktor Ranzenhofer. Ludwig Vogel. Eugen Kollberg, deportiert am 27. Mai 1942 aus Wien nach Trostenez, ermordet am 1. Juni 1942. Es liegen nur ein paar Tage zwischen dem Abtransport und dem Tod. Im Wald hängen 60, vielleicht 80 Schilder – als Symbol für die vielen anderen, die hier starben.

Nur ein schmaler Sandweg führt in den Wald. Vögel zwitschern, der Wind bewegt die Blätter der Birken. Es kommen kaum Besucher hierher, in der Nähe liegt eine Müllkippe. An anderen Orten ist längst eine Kultur des Erinnerns gewachsen. Bergen-Belsen, Treblinka, Auschwitz. Namen, die Menschen wie Messerstiche an das deutsche Verbrechen erinnern. Eine Million Touristen schauen sich jedes Jahr das Museum in Auschwitz an. Ordner winken die Reisebusse zu Parkplätzen, es gibt Ausstellungen und Tagungszentren. Hier im Wald, zwischen den Kiefern und Birken, steht nur ein kleiner Gedenkstein.

Eine Handvoll Politiker aus Deutschland ist an diesem Tag im Mai in den Wald bei Minsk gereist. Henning Scherf, Bremens früherer Bürgermeister, und Matthias Platzeck, der Brandenburg regierte. Eine Musikerin spielt vor dem Gedenkstein „Jerusalem of Gold“ auf ihrer Geige. Um sie herum stehen Menschen wie der 89 Jahre alte Kurt Marx. Seine Eltern wurden 1942 nach Weißrussland deportiert, erst ein paar Wochen zuvor war er als Kind mithilfe des Roten Kreuzes nach England geflohen. Gabriel Heim ist in den Wald gekommen, seine Großmutter wurde hier erschossen. Auch die fast 80 Jahre alte Maja Krapina ist hier, sie überlebte im Getto von Minsk. Im Frühjahr 1942 erhängten die Nazis ihre Mutter, mitten auf der Straße. Krapina war damals sechs. „Der Wind schaukelte die Leiche am Strick“, erzählt sie heute.

Und Hermann Völker aus Hamburg steht am Gedenkstein. Am 8. November rollte der Zug mit seinem Onkel vom Güterbahnhof am Hamburger Hafen los. Zehn Tage später startete ein zweiter Transport in Richtung Minsk, wieder saßen Angehörige von Völker im Zug, die Familie Cohen aus dem Karolinenviertel. Mehr als 20 Verwandte habe er durch die Morde der Nazis verloren. „Irgendwann habe ich aufgehört, die Toten zu zählen. Es reicht irgendwann mit der Last.“

Völker ist 55 Jahre alt. Er ist in Hamburg aufgewachsen, hat Geschichte studiert und zuletzt für eine IT-Firma gearbeitet. Er hat selbst eine Familie, zwei erwachsene Kinder. Hermann und Lydia Hoffmann lernte er nie kennen. Aber sie sind Teil seines Lebens. Ihretwegen steht Völker an diesem Tag im Mai im Wald bei Minsk.

Ihretwegen steht er ein paar Tage vorher in der Rappstraße im Hamburger Grindelviertel mit ein paar Seiten Papier in der Hand. Ein Mann, ein Ehepaar, eine Mutter mit Tochter sammeln sich um Völker. Rundgang durch das Viertel, vor ihnen ein gelbes Haus, errichtet in der Gründerzeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In den Gehweg vor dem Haus sind Messingsteine eingelassen, Stolpersteine. 15.000 gibt es in Deutschland. Vor allem stolpern die Gedanken. „Diese Biografien sind dem Vergessen entrissen“, sagt Völker.

„Hier wohnte Hermann Hoffmann, Jg. 1913, verhaftet 1936, UG Hamburg, 1938 pol. Gef. Fuhlsbüttel, 1939 Buchenwald, deportiert 8.11.1941, ermordet in Minsk“, das ist dort eingraviert.

Hermann Völker hält ein Foto in seiner Hand. Schwarz-weiß, ein Junge sitzt am Holztisch mit der Mutter und Schwester Rosa, das Haar kurz geschnitten, er trägt einen Matrosenanzug. „Hermann Hoffmann war ein Hamburger Jung“, sagt Völker. Er machte nach der Schule eine Ausbildung zum Kaufmann, wurde arbeitslos, verbrachte die Abende in seiner Stammkneipe auf St. Pauli, verdiente etwas Geld mit Gelegenheitsjobs. Er lernte eine Frau kennen, sie wurden ein Paar. Und als die Nazis regierten, war das auf einmal verboten, weil er Jude war und sie nicht. Sie sperrten Hoffmann ins Zuchthaus, 1938 deportierten sie ihn ins KZ Buchenwald.

Der Hamburger Jung war jetzt ein Verfolgter in seiner eigenen Heimat

1939 kam Hoffmann frei, er war krank und schwach. Aber er lebte. Die Nazis verpflichteten ihn zur Arbeit im Hafen. In dieser Zeit lernte Hoffmann Lydia kennen. Bald heirateten sie, mieteten ein Zimmer im Grindelviertel. Immer wieder zogen sie um, das Geld war knapp. Ihr letztes frei gewähltes Leben hatten sie hier in der Rappstraße. „Anfang November 1941 klingelte es dann an der Tür“, sagt Völker. Der Bote brachte zwei Briefe. Eine „Verfügung“. Die Nazis beschlagnahmten das „volks- und staatsfeindliche Vermögen“, Reichsgesetzblatt Seite 479. So stand es in Frakturschrift auf dem Papier, ein Stempel mit Hakenkreuz, der Reichsstatthalter in Hamburg.

Hermann Völker steht im Grindelviertel und hält noch ein Papier in der Hand. „Evakuierungsbefehl Nr. 4873“. An die „Jüdin Henni Sara Völker“, seine Großmutter, die die Nazis 1942 nach Theresienstadt deportierten. Dann liest Völker vor: „Sie haben sich unter Vorlage Ihrer Kennkarte, Paß, Arbeitsbuch, Quittungskarten der Invaliden- oder Reichsversicherung und der Lebensmittelkarten am 18.7.42 um 11 Uhr Schule Schanzenstr. 105 einzufinden.“ Nicht einmal 24 Stunden später. Einen solchen Befehl zum Abtransport hatten auch Hermann und Lydia Hoffmann erhalten. Am 8. November 1941 durften sie einen Koffer zum Bahnhof mitnehmen, nicht mehr als 25 Kilogramm Gepäck, Essen für drei Tage, Bettzeug und Decke, nicht mehr als 100 Reichsmark Bargeld. Der Befehl für den sicheren Tod kam per Einschreiben. „So formal, so bürokratisch. Wie die Behörden heute einen Steuerbescheid verschicken“, sagt Hermann Völker. Manchmal schiebt er Ironie oder Zynismus in seine Sätze. Sie sind seine Schutzschilde gegen den Schmerz.

Über Proteste der Hamburger gegen die Deportationen ist nichts bekannt

Lydia und Hermann Hoffmann meldeten sich, wie verlangt, am Hannoverschen Bahnhof. Heute schaufeln Bagger hier Sand zu Hügeln auf. Die alten Gleise sind nicht zu sehen. Häuserwände der HafenCity ragen an dem Platz mit den Pappeln und den Beeten mit Kieselsteinen empor. Eine Tafel gedenkt heute der 1264 deportierten Sinti und Roma und der 5848 Juden, die von hier in Richtung Lager und Gettos abtransportiert wurden. Dort steht auch: „Über Proteste der Hamburger Bevölkerung gegen die Deportationen ist nichts bekannt.“ Hermann und Lydia Hoffmann verschwanden im Stillen.

Berichte aus der Zeit belegen, dass manche Juden in der Stadt untertauchten. Andere erhängten sich, als das Einschreiben der Gestapo kam. Hermann und Lydia Hoffmann aber gingen wie die allermeisten Juden mit Koffern am Morgen des 8. November 1941 zur Sammelstation am Bahnhof. Warum? „Ich weiß es nicht“, sagt Hermann Völker. „Sie waren jung, vielleicht hofften sie, dass sie über die Runden kommen, wenn sie nicht anecken.“ Die Nazis hatten den Menschen erzählt, sie könnten sich in Weißrussland eine neue Existenz aufbauen. „Vielleicht sahen sie keinen Ausweg. Oder sie waren einfach zu deutsch.“ Ein Schreiben der Behörden, das sollte man ernst nehmen.

Endstation Minsk, am Gleis 1, bei den großen Lagerhallen, kamen sie an, im Bahnhof neben der Hauptstraße. Manche saßen in Personenwaggons, die Fenster verriegelt, in Abteile gedrängt. Andere hockten in Viehwaggons, ein Gitter als Fenster, keine Stühle, nur Dunkelheit. Als sie aus dem Zug stiegen, sahen sie Soldaten der Wehrmacht, ihre Schäferhunde bellten, Getrampel, Rufe. Raus! Schnell! Antreten! Wer nicht spurte, bekam Schläge.

Heute stehen in dem Bahnhof Pfeiler einer Autobahnbrücke zwischen den Gleisen, bunte Graffiti auf grauem Beton. Menschen rennen mit Taschen zu den Gleisen. Eine Frauenstimme knattert durch die Lautsprecher. „Bitte Vorsicht bei der Abfahrt!“ Hermann Völker legt die alten Fotos seiner Familie auf den Bahnsteig. Er stellt sich daneben und spricht leise ein Gebet, Schma Jisrael. Höre Jisrael, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig.

Zum ersten Mal stehen sie hier am Gleis in Minsk, Kurt Marx, Gabriel Heim und Hermann Völker. Anfangs seien Achsen von Waggons gebrochen, weil die Menschen auf der Fahrt nicht stillstanden wie Kühe in einem Viehtransport, sagt Heim. „Die Deutschen stopften die Waggons dann so voll, dass sich niemand mehr bewegen konnte. Ein stabiler Block Menschenmasse.“

Die Nazis erschossen 12.000 Menschen. Sie brauchten Platz für die Neuen

Und Heim sagt, dass ein Täter die Freiheit hat, an den Ort der Tat zurückzukehren. „Die Opfer sind tot, sie können es nicht.“ Hermann Völker sagt: „Das ist unsere Aufgabe: an die Opfer erinnern.“ Sein Vater hatte die Fotos und Urkunden der Familie aufbewahrt. Er hatte nach den Deportationslisten recherchiert, ihre Namen markiert. „Aber er hat nie über seinen Bruder und seine Familie gesprochen.“ Die Täter schwiegen nach dem Krieg. Und vielen Opfern fehlten die Worte. Erst als sein Vater Ende der 1990er starb, kam Völker an die Dokumente heran. Jetzt möchte er erinnern. Und reden.

Hermann Völker und die anderen fahren im Taxi die breite Straße durch Minsk, Partisanenboulevard heißt sie heute. Cafés werben mit Leuchtreklame, die Fußwege der weißrussischen Hauptstadt sind so sauber wie die Promenade vom Timmendorfer Strand. Schon länger als 20 Jahre herrscht Diktator Alexander Lukaschenko in der Republik Belarus. Er lässt keine Zigarettenstummel auf seinen Straßen zu. Und keine freien Wahlen.

Als die Wehrmacht im Sommer 1941 nach Minsk marschiert war, hatte der Widerstand der Roten Armee nicht lange gehalten. Die Stadt lag in Trümmern, als Lydia und Hermann Hoffmann in einer Kolonne die 1,5 Kilometer vom Bahnhof in das Viertel liefen, das die Nazis als Getto umzäunt hatten. „Warnung! Beim Durchklettern des Zauns wird geschossen“, stand auf Holzschildern in Deutsch und Weißrussisch. 60.000 Juden aus der Stadt lebten auf zwei Quadratkilometern.

Am Tag vor der Ankunft der Hamburger Juden erschossen die deutschen Besatzer 12.000 bis 14.000 Menschen. Der Platz wurde gebraucht für die Neuen. Als sie ankamen, lagen noch Teller mit Essen auf manchen der Tische. Und auf dem Boden die Leichen. Kurt Marx sagt zu Völker: „Ich konnte damals noch rechtzeitig aus Deutschland fliehen. Ich hatte Glück. Sonst hättet ihr hier heute an meinem Grab getrauert.“ Hermann Völker schaut auf das hohe Haus, die Wand ist türkis gestrichen. Heute ist es eine Schule, damals war es das Haupthaus im Sondergetto für die Juden aus dem Deutschen Reich, davor standen Hütten. Es gab keine Heizungen, keinen Strom, am Tag nur 150 Gramm Brot und wässrige Suppe. Als alle Bäume im Getto gefällt waren, verbrannten die Menschen Holzlatten der Toilettenhäuschen auf dem Hof, um nicht zu erfrieren. Es sind solche Geschichten, die Hermann Völker auf der Fahrt an die Orte des deutschen Verbrechens hört. Ein Historiker aus der Geschichtswerkstatt Minsk begleitet die Gruppe. Irgendwann sagt Völker: „Es reicht. Ich kann das nicht mehr verarbeiten. Lass uns gehen.“

Vielleicht starben Völkers Onkel, die Tante und ihr Kind im Getto vor Hunger oder Kälte. Vielleicht starben sie bei der Zwangsarbeit vor Erschöpfung. Vielleicht transportierten die Nazis sie wie die allermeisten Juden vom Getto in den Wald bei Minsk. Niemand weiß das genau. „Tätigkeitsbericht“ vom SS-Unterscharführer Arlt, Mai 1942: „Am 11.5 traf ein Transport mit Juden (1000 Stück) aus Wien in Minsk ein und wurden gleich vom Bahnhof zur obengenannten Grube geschafft.“

1000 Stück.

Im Deutschen Reich dokumentierten die Nazis die Deportationen in Listen und Akten. Mit der Zugfahrt in den Osten verloren die Menschen dann sogar ihren Namen. Sie wurden nur noch wie Güter sortiert. „Vielleicht ist es sogar leichter für mich, nicht zu wissen, was genau mit ihnen passiert ist“, sagt Völker. Die Großmutter überlebte das KZ Theresienstadt. Eine Nachricht hatte sie dort noch erreicht: Im Getto von Minsk hat Lydia einen Sohn geboren. Auch für ihn gibt es heute einen Stolperstein im Grindelviertel. Wie er hieß, erfuhr die Großmutter nicht.

Zwölf Kilometer sind es vom Minsker Getto bis an den Rand der Stadt nach Maly Trostenez. Die SS richtete hier das „Wehrdorf Klein Trostenieze“ ein. Schritt für Schritt bauten sie es zum Ort der Massenvernichtung um. 250 Wachleute und Schäferhunde sicherten das Gelände, die Baracken umzäunten sie mit Stacheldraht. Zwei Kilometer entfernt im Wald schaufelten Häftlinge Gruben aus. Ein SS-Mann notierte 1942 nüchtern: Am 17.7. trifft ein Transport mit Juden ein und wurde zum Gut gebracht. Vom 21.7. bis 23.7. werden Gruben ausgehoben. Am 24.7. der nächste Transport aus dem Reich, 1000 Juden. Vom 25.7. bis 27.7. werden neue Gruben ausgehoben. 28.7. Großaktion im Getto. „6000 Juden werden zur Grube gebracht.“ Am 29.7. werden 3000 Juden „zur Grube gebracht“.

Die Maschinerie des Mordens kam in Gang. Ab Sommer 1942 fuhren Laster die Menschen vom Bahnhof in Minsk direkt nach Trostenez. Die Ladeflächen waren luftdicht abgeriegelt. Die Nazis leiteten die Abgase aus dem Auspuff um. Als die Menschen an den Gruben im Wald ankamen, waren sie längst erstickt. „Seelenersticker“ nannten die Menschen in Minsk die Gaswagen.

Am Ende seines Berichts meldete der SS-Mann noch: Rottenführer Skrowanek und Auer seien bis zum 1. August im Urlaub gewesen. „Beide kamen pünktlich wieder.“

Spezialeinheiten schaufelten die Leichen aus den Gruben und verbrannten sie

Hermann Völker steht auf einer Wiese in Trostenez. Gegenüber liegen die Hochhäuser der Minsker Vorstadt. Lange erinnerte hier nichts an das Verbrechen der Nazis. Erst seit einem Jahr beginnt die Stadt auch mit Geld aus Hamburg den Bau einer Gedenkstätte. Schwarze Steine spicken den Weg. Sie sollen an die Fußstapfen der Menschen auf ihrem Todesmarsch erinnern. Völker blickt über die Wiese, zum Mahnmal, wo noch Bagger und Kräne stehen. „Ich weiß nicht, was mir durch den Kopf geht. Nichts. Vielleicht.“

Als 1943 die Rote Armee auf Minsk vorrückte, begannen die Nazis mit der „Aktion 1005“. Spezialkommandos schaufelten die Leichen aus den Gruben, sie bauten Scheiterhaufen auf und übergossen die Körper mit Benzin. Zwei Monate lang machten sie nichts anderes, als Leichen zu verbrennen, Spurenbeseitigung. Zwei Leiter der deutschen Polizeikräfte organisierten die Aktion. Nach dem Krieg arbeiteten sie noch bis in die 1960er-Jahre bei der Hamburger Polizei. Erst dann verurteilte sie ein Gericht. „Viele der Täter lebten nach dem Krieg in Deutschland weiter. Als wäre nichts gewesen. Als Ärzte, Anwälte, Polizisten“, sagt Völker. „Das ist unvorstellbar.“

Am Ende des Tages möchte das weißrussische Fernsehen noch ein Interview. Der junge Reporter will wissen, ob Minsk nicht genauso ein Gedenken verdiene wie Auschwitz. „Aber ja, denn Belarus gehört zu den Orten des Mordens“, sagt Völker. Er freue sich über den Bau der Gedenkstätte, das große Mahnmal. „Ich wünsche euch eine Million Besucher pro Jahr.“ Ob er auch Menschen hier verloren habe? Völker nickt, er reibt mit der Hand an seiner Armbanduhr. „Könnten Sie das rausschneiden, wenn ich weinen muss.“ Er erzählt von seinen Angehörigen, von Hermann, Lydia und der Großmutter. „Das ist schon etwas anderes, hier zu stehen, wenn die eigene Familie hier begraben liegt.“ Dann bricht Hermann Völker die Stimme weg.