Hamburg. In seinem Buch „Nachkriegsland“ thematisiert Michael Brenner private und globale Zeitgeschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Als Hamburg sich am 3. Mai 1945 den britischen Truppen ergab, war der Krieg für die Bürger vorbei. Und doch nicht. Seit zwei Jahren lagen weite Teile der Hansestadt in Trümmern, Ausgebombte und Flüchtlinge drängten sich zusammen, der Überlebenskampf ging weiter. Für Fragen nach Befreiung oder Niederlage, Opfer oder Täter blieb keine Zeit bei der Frage nach Brot und Kohle, Heimat und Obdach. Die privaten Erlebnisse im Bombenhagel und Feuersturm, an der Front oder in Gefangenschaft und die Berichte und Gerüchte aus den Konzentrationslagern, die nicht weit im Osten lagen, sondern nur wenige ­Kilometer entfernt in Neuengamme oder Fuhlsbüttel, verschwanden unter dem Deckmantel des Verdrängens.

Das ist die Elterngeneration, die oft mit drei Grundgedanken die Stadt wieder aufbaute, Familien gründete, Kinder erzog: „Wir hatten doch nichts“, „Wir haben nichts gewusst“ und „Unsere Kinder sollen es einmal besser haben“. Der Hamburger Autor Michael Brenner, 1951 in Hamburg-Horn geboren, ist ein Kind dieser Generation. Nach dem Buch „Kinder der Verlierer – Erinnerungen einer Generation“ (2010) begibt er sich jetzt mit „Nachkriegsland. Eine Spurensuche“ noch tiefer in verschüttete Details seines privaten Umfelds, die Zeichen ihrer Zeit sind, und stellt sie in den Vergleich der allgemeinen historischen Entwicklung nach der Stunde null, die keine war.

„Vier Jahre nach Kriegsende lernten sich meine Eltern kennen. Trümmerzeit, ihr Alltag war grau und armselig“, 16 Jahre Altersunterschied liegen zwischen der 17-jährigen, durch Pflegefamilien gereichten jungen Frau und dem 33-Jährigen dieser Versorgungsehe. Der Mann trauert den Siegen der Blitzkriege gegen Belgien und Frankreich hinterher, seinen draufgängerischen Taten als Fallschirmjäger, seiner Liebschaft in Brüssel. Der Krieg entlässt ihn als armen, gefühlskalten Menschen, dessen einzige Gefühlsausbrüche wüste Schimpfwortlawinen im Landserjargon gegen noch ärmere, Flüchtlinge und auch seine Frau sind.

Im Osten ein neuer Feind, im Westen alte Methoden

Die Rädchen von Hitlers Rassenwahn- und Mordmaschinerie passen sich ein ins Getriebe der jungen Demokratie: „Fünfundzwanzig Minister, ein Bundeskanzler und ein Bundespräsident waren ehemalige Mitglieder der NSDAP, SA oder SS“, rechnet Brenner nach, und im Alltag, an den Schulen, in den Gerichten arrangiert man sich ebenfalls. Vorwärts schauen, rückwärts schweigen, im Osten ein neuer Feind, im Westen alte Methoden: „Steh gerade, wenn ich mit dir rede. Guck mich an, wenn du sprichst. Das tut man nicht. Tu dies, tu das.“ Kinder schauen in Gesichter, in denen selbst das Lachen eingefroren scheint. So wie Brenners Klassenlehrer am Kirchenpauer-Gymnasium, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier, der immer wieder von der Feigheit der Italiener schwadroniert. Im Erdkundeunterricht heißt es, wie dressiert aufgerufene Städtenamen auf der Karte zu zeigen: „Minsk, Smolensk, Lemberg, Rostow, Odessa oder Kiew, alles Stationen der Ostfront.“ Wichtige Fragen („Wer war Hitler?“) bleiben unbeantwortet, und die Nachkriegsjugend sucht sich die Antworten selber, im Jahr 1968 zum Beispiel.

Die Gegenüberstellung von privater und globaler Zeitgeschichte der Hansestadt und der Bundesrepublik von 1945 bis 1989, die Brenner „individuell und kollektiv“ und sehr kritisch gegenüberstellt, könnten viele andere Zeitzeugen erzählen und haben es bereits getan. Brenners Aussage „Eine aktive und umfassende Aufarbeitung“ der Nachkriegszeit habe es nicht gegeben, ist daher schon sehr mutig. Und doch haben zu viele geschwiegen und schweigen jetzt für immer, die „Spurensuche“ wird immer schwieriger. Auch, weil die heutige Generation nicht selten nichts mehr hören will von dem, was einst lieber verschwiegen wurde.

„Nachkriegsland. Eine Spurensuche“ Lesung
und Gespräch mit Autor Michael Brenner,
Di 19.5., 19.30 Uhr, Zentralbibliothek Hühnerposten, Eintritt 5 Euro/erm. 3 Euro