Horn. Wer sind die Menschen, die nach Hamburg flüchten? Omid Hamidi arbeitete als Kind zwölf Stunden am Tag. Teil Vier der Abendblatt-Serie.
Omid Hamidi ist 18 Jahre alt, aber er lebt erst seit zweieinhalb Jahren. Genau genommen seit einer Novembernacht im Jahr 2012, als der Junge aus Afghanistan am Hamburger Hauptbahnhof aus einem Zug steigt und die nächste Polizeistation sucht. Die Polizei in Deutschland sei gut, hat Omid gehört, die werden ihm vielleicht helfen.
Was Omid noch über Deutschland weiß: Es gibt einen berühmten Fußballverein namens Bayern München und eine Stadt namens Hamburg. Andere Ortsnamen kennt Omid nicht, er denkt zu dem Zeitpunkt, Hamburg sei Deutschlands Hauptstadt. Fünf Stunden irrt Omid am Hauptbahnhof herum, bis er endlich die Polizeistation findet. Seine Augen, seine Ohren, seine Beine, sie können nicht mehr.
Hinter Omid liegt eine fünfmonatige Flucht von Afghanistan über die Türkei, Italien, Frankreich bis nach Deutschland. Hinter ihm liegt Todesangst, nicht nur auf dem überfüllten Schiff im Mittelmeer, das von zwei Meter hohen Wellen fast zum Kentern gebracht wird, sondern jeden Tag in Afghanistan, seitdem sein Vater spurlos verschwand und regelmäßig vermummte Männer in die Wohnung der Familie eindrangen und alles auf den Kopf stellten. Omid hat keine Ahnung, was sie suchen. Er ist noch ein Kind, aber er spürt genau, dass seine Heimat zum Feind mutiert.
Im Alter von Zehn beginnt Omids Flucht
Mit drei Freunden flieht der Zehnjährige in den Iran, um in einer Großbäckerei zu arbeiten. Von acht Uhr morgens bis 20 Uhr abends, als er älter wird, „darf“ er sogar bis 23 Uhr bleiben. Fünf Jahre stellt Omid klebrige Süßigkeiten her, schickt das Geld an seine Mutter und seinen kleinen Bruder nach Afghanistan. Er wird ein Meister des Versteckens, denn die iranischen Behörden dürfen ihn nicht finden. Unsichtbar arbeiten, unsichtbar wohnen, unsichtbar weinen, unsichtbar vermissen. Aber so sehr er sich auch bemüht, kein Mensch kann auf Dauer unsichtbar sein. Man findet Omid und schickt ihn zurück. Zurück in das Land, das sein Feind ist, das Land, das ihm seinen Papa weggenommen hat.
Omids Vater war Polizist. Er gehörte zu den Guten. In Deutschland seien die Polizisten auch die Guten, hat Omid gehört, da will er hin. Er überzeugt seine Mutter, die alles verkauft, was sie besitzt, um ihrem Sohn die Flucht zu ermöglichen. 1100 Dollar verlangt der Schlepper, dafür bringt er Omid und drei andere Familien bis nach Istanbul, verschwindet dann aber plötzlich. Omid ist verzweifelt, aber er gibt nicht auf. Er schlägt sich durch und was dabei alles passiert, das möchte er lieber nicht erzählen.
Letztendlich trägt ihn sein Überlebenswille die letzten Meter bis zur Polizeiwache neben dem Blumenladen am Hamburger Hauptbahnhof. Omid ist in Sicherheit und bricht auf der Stelle zusammen. Drei Tage Krankenhaus, drei Tage am Tropf, der ihm nach und nach sein neues, sein erstes richtiges Leben einflößt.
„Dann sprach eine nette Frau mit mir und ich spürte, ich musste mich nicht mehr fürchten“, sagt Omid. Zum ersten Mal nach 16 Jahren. „Bitte schreiben Sie in den Artikel unbedingt, dass ich Deutschland sehr dankbar bin, dass ich keine Angst mehr haben muss“, sagt er.
Seine Fußball-Pokale sind für ihn die Beweise, dass er überlebt hat
Omid spricht schon relativ gut Deutsch und ab und zu, wenn es um Fußball geht, huscht sogar ein Lächeln über das Gesicht des inzwischen 18-Jährigen. Das Minuskonto an Leid und Tränen können die glücklichen Momente noch lange nicht ausgleichen, aber es werden mehr. Vor allem bei Fußballspielen für seinen Verein Altona 93. Sein Trainer, seine Teamkameraden, sowieso alle Hamburger seien sehr nett zu ihm, sagt Omid: „Wäre ich eher hierher gekommen, dann hätte ich es vielleicht bis zum Profi geschafft.“
Anstatt dessen möchte er nun Kfz-Mechatroniker werden, dafür macht er gerade seinen Hauptschulabschluss. Nach dem Unterricht geht er bei der Kinder- und Jugendhilfe an der Horner Landstraße vorbei, die Betreuerinnen dort helfen ihm bei dem schwierigen Papierkram, und sie konnten bereits einen großen Sieg erringen: Seit vergangenem September besitzt Omid eine ID Card, das heißt, er wird nicht mehr nur geduldet, sondern er darf bleiben.
Er wohnt auch nicht mehr in einer großen Sammelunterkunft. Mit drei anderen jungen Flüchtlingen teilt er sich eine WG in Horn. Fußballpokale zieren das kleine, aufgeräumte Zimmer. In anderen Jungs-Zimmern wären es Beweise für Erfolge. Für Omid bedeuten die Pokale viel mehr. Sie sind der Beweis, dass er überlebt hat, dass er Dinge tun kann, die andere Jugendliche tun. Die meisten Trophäen schickt er daher zu seiner Mutter. „Ich mache mir große Sorgen um sie und meinen Bruder. Sie leben in ständiger Angst, und mein 14-jähriger Bruder arbeitet 16 Stunden am Tag in einer Fabrik, dabei würde er viel lieber so wie ich zur Schule gehen“, sagt Omid. Seine Augen füllen sich mit Tränen.
Doch Omid hat immerhin einen Funken Hoffnung. Wenn es mit seiner Ausbildung weiterhin so gut klappt, dann wird er eines Tages eventuell noch einen besseren Schulabschluss machen, vielleicht sogar Abitur, und in Deutschland Polizist werden dürfen. Wie sein Vater. „Dann kann ich meine Mutter und meinen Bruder endlich beschützen.“