Bahrenfeld. Die Albaner Valdete und Mehdi Kasemi litten in ihrer Heimat unter Todesangst, wegen ihres Glaubens wurden sie verfolgt. Teil drei der Serie.
Wenn Valdete, 51, das Fenster in ihrer kleinen Wohnung in Bahrenfeld öffnet, schaut sie direkt auf die graue Lärmschutzwand und hört die Autos auf der A 7 dahinter vorbeirauschen. Ihr Mann Mehdi, 58, sitzt auf der Eckbank am Küchentisch. In dem 20 Quadratmeter großen Wohnzimmer steht auch das Doppelbett des albanischen Ehepaars. Auf dem Kleiderschrank daneben liegt ein Koffer, auf dem kleinen Kühlschrank am Fenster steht ein Fernseher. Die Tür zum Flur steht offen, gegenüber liegt das Bad.
Vali und Mehdi Kasemi sind vor fünf Monaten hier eingezogen. Alles, was sie besitzen, befindet sich jetzt in diesen vier Wänden. Ihr Leben ist auf wenige Quadratmeter zusammengeschrumpft.
In Shkodra, der 80.000-Einwohner-Stadt im Norden Albaniens, hatten die Kasemis ein kleines Häuschen. Und ihre beiden Söhne hatten ein eigenes Zimmer. Mehdi hat als Mechaniker in einer Matratzenfabrik gearbeitet, Vali als Näherin. Als Mehdi zehn Jahre alt war, erließ Diktator Enver Hoxha ein totales Religionsverbot. Albanien wird offiziell der erste atheistische Staat der Welt.
„Wir sind Muslime“, sagt Vali. In Shkodra fanden im Januar 1990 die ersten Demonstrationen in Albanien gegen das kommunistische Regime statt. Ihren Glauben durften die Kasemis erst im Dezember des Jahres wieder öffentlich ausüben. Einen Monat zuvor war auf dem Friedhof von Shkodra die erste katholische Messe seit 1967 gefeiert worden.
Jetzt steht Vali im Gemeindezentrum der evangelischen Lutherkirche in der Lyserstraße in Bahrenfeld hinter einem Tisch voller Lebensmittel – Obst und Gemüse, Quark und Joghurt von der Hamburger Tafel für bedürftige Familien. Hier arbeiten Flüchtlinge ehrenamtlich, um etwas zurückzugeben. „Für die Hilfe, die wir hier erfahren haben“, sagt Vali. Gerade hat sie von der Gemeinde eine Nähmaschine geschenkt bekommen, die jetzt daheim auf ihrem Tisch steht. „Und um gebraucht zu werden.“ Die Religionszugehörigkeit spielt hier keine Rolle. „In Shkodra leben Christen und Muslime auch friedlich zusammen.“
Doch in Shkodra konnten sie nicht bleiben, sie wurden bedroht. Vor einem Jahr sind Vali und Mehdi mit Sack und Pack in den Bus gestiegen. Es sind nur 34 Kilometer Richtung Norden bis zur Grenze nach Montenegro. Und dann noch einmal knapp 30 Kilometer bis zur Hauptstadt Podgorica. Von dort sind sie mit dem Flugzeug nach Brüssel geflogen. Dann mit dem Bus nach Trier und weiter mit dem Zug nach Dortmund. Dort haben sie sich bei der Behörde gemeldet und wurden im Flüchtlingsheim in Burbach untergebracht, das im Herbst 2014 wegen der menschenunwürdigen Behandlung von Flüchtlingen in die Schlagzeilen geriet.
Danach kamen Valdete und Mehdi Kasemi nach Hamburg in das Containerdorf an der Schnackenburgallee. Sie ziehen einen Pass hervor, auf dem ihr Name steht und ein Datum: 24. Mai. So lange gilt erst einmal ihre sogenannte Aufenthaltsgestattung. Als sie zur Behörde kamen, um ihren Asylantrag zu begründen, wurden sie gefragt: „Warum sind Sie nach Deutschland gekommen?“ „Wir wollen leben“, haben sie geantwortet. „Was ist Ihr Problem?“, wurden sie gefragt. „In Shkodra“, haben sie gesagt, „können wir nicht mehr bleiben. Wir wurden bedroht. Wir haben Todesangst.“
Die Söhne von Vali und Mehdi Kasemi haben Albanien auch verlassen
Auch die Söhne von Vali und Mehdi haben Albanien verlassen. Zuerst der ältere und danach der jüngere. Egli ist 22 Jahre alt, er ist in Nordrhein-Westfalen in einem Flüchtlingslager untergebracht und besucht seine Eltern in Hamburg regelmäßig. Egli erzählt, dass sein älterer Bruder sich in Shkodra mit einem Geschäft selbstständig gemacht hat. Irgendwann kamen Leute und verlangten Geld. „Mein Bruder hat sich dann ins Ausland abgesetzt.“ Doch die Männer ließen sich nicht abwimmeln und bedrohten ihn und seinen Vater.
Warum sind sie nicht zur Polizei gegangen? „Die Polizei bei uns beschützt dich nicht“, sagt Egli. Es sei denn, man bezahle die Beamten. Laut einer US-Studie hat jeder zweite Albaner schon einmal Bestechungsgelder bezahlt – in Behörden, Krankenhäusern, vor Gericht, bei der Polizei. Albanien belegt damit den Spitzenrang auf dem Balkan, die Zahl ist mehr als doppelt so hoch wie in anderen Ländern der Region.
„Wir haben eine hohe Kriminalität, ein Leben ist nichts wert“, sagt Egli. Menschen würden durch Autobomben getötet, 16-Jährige verschwänden einfach. „Mein Vater ist damals vor Angst sechs Monate lang nicht mehr aus dem Haus gegangen.“ Er selbst hat sich morgens von einem Arbeitskollegen direkt an der Haustür abholen und abends wieder zurückbringen lassen. Dann hat auch Egli Skhodra verlassen. Und seine Eltern überredet, ebenfalls nach Deutschland zu kommen. Sein Vater ist hier an Krebs erkrankt. An Brustkrebs, was bei Männern sehr selten vorkommt. „Es war bestimmt alles zu viel für ihn“, sagt Egli. Mehdi wurde operiert und bekommt jetzt Chemotherapie. Er hat die Haare verloren, trägt jetzt immer eine Mütze und kämpft sich wieder ins Leben zurück. Ein Zurück nach Shkodra sei ausgeschlossen, sagt Egli. „Wenn man meinen Vater zurückschickt, ist das der sichere Tod.“ Man würde ja auch keine Flüchtlinge aus Syrien zurückschicken, sagt er.