Hamburg. “Sozialer Sprengstoff“: In den Erstaufnahmen leben Bewohner in Unsicherheit auf engem Raum – und warten lange auf eine feste Bleibe. Ein Feature.
Der Anlass zur Eskalation war scheinbar banal. Einige Männer aus Eritrea und Albanien stehen am vergangenen Sonnabend im Waschraum der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung an der Schwarzenbergstraße. Eine der zwölf Maschinen in der Unterkunft ist von einem Benutzer nicht ausgeräumt worden, nun will der Nächste seine Wäsche waschen. Die Männer streiten nur kurz mit Worten, dann kracht es auch schon.
Wenige Minuten später kreist der Polizeihubschrauber „Libelle“ über dem Containerdorf in Harburg, in dem 580 Flüchtlinge leben. Auf dem Hof gehen 40 Bewohner aufeinander los, sie prügeln mit Holzknüppeln, Hanteln und Besenstielen. Ein Großaufgebot von Polizei und Feuerwehr rückt aus, 15 Flüchtlinge werden verletzt, erleiden Kopfverletzungen, Knochenbrüche. 16 Personen werden in Gewahrsam genommen. Kaum ist die Polizei weg, wird am Sonnabendabend die Kleidung und die Matratze eines Bewohners in Brand gesteckt. Am Sonntag kann die Polizei eine erneute Massenschlägerei in letzter Sekunde noch abwenden. Am Montag ist es das Gleiche.
Wie bei einem Dampfkessel unter zu hohem Druck entlädt sich in den Hamburger Erstaufnahmeeinrichtungen die Wut der Bewohner. Sowohl in den zehn Zentralen Erstaufnahmen für Flüchtlinge (ZEA) als auch in den zehn separaten Erstversorgungsheimen für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge (MUFL) kommt es verstärkt zu Gewalt und Sachbeschädigung.
Mitte September 2014 liefern sich 100 Männer eine Massenschlägerei im Containerdorf an der Schnackenburgallee. Die Gewalt verlagert sich später zum S-Bahnhof Stellingen. Stunden später legen sich Bewohner mit dem Wachpersonal an.
Ende Oktober besetzen 100 Flüchtlinge die Kreuzung Schnackenburgallee/Ausfahrt Volkspark – aus Angst vor einer angeblichen Ebola-Infektion in der Unterkunft.
Nachdem ein 21 Jahre alter Eritreer im Februar ein elfjähriges Mädchen aus Syrien in der ZEA Schwarzenbergstraße sexuell bedrängt hat, will sich ein Mob an ihm rächen. Der Mann muss von der Polizei gerettet werden.
Hilferuf der Betreiber
Die Vorfälle stehen exemplarisch für ein Hilfssystem, das oftmals traumatisierte Flüchtlinge nur noch mit Mühe zu versorgen weiß. „Wir sind absolut auf Kante genäht“, sagt Rembert Vaerst, der als Geschäftsführer des städtischen Unternehmens Fördern & Wohnen für rund 4800 Flüchtlinge in acht der zehn Hamburger Erstaufnahmestellen verantwortlich ist. Die Kapazitäten seien seit Langem „an Grenzen gestoßen“, schreibt auch der der Landesbetrieb Erziehung und Beratung (LEB), der die Betreuung der MUFL koordiniert und 2014 insgesamt 879 Jugendliche in Obhut nahm. „Eine spezielle Hilfe kann teilweise kaum noch geleistet werden“, sagt Marcel Schweitzer, Sprecher der Sozialbehörde. Wer sich in Behörden und Senat nach der Erstversorgung erkundigt, hört schnell die Worte„sozialer Sprengstoff“.
Hamburger Containerschiff rettet Flüchtlinge
Nach Abendblatt-Informationen erfasste die Polizei alleine in der ZEA Schnackenburgallee mit 1200 Bewohnern im Jahr 2014 rund 100 Straftaten, bis Mitte April 2015 waren es weitere 30 Straftaten. Die Feuerwehr rückte 2014 zu 366 rettungsdienstlichen Einsätze an der ZEA an. Damit liegt das Einsatzvolumen im Vergleich zum Hamburger Durchschnitt fast doppelt so hoch. An der MUFL-Unterkunft am Bullerdeich musste die Feuerwehr zuletzt am Dienstag einen Brand löschen, der möglicherweise von einem der 15 Bewohner gelegt wurde. Die Unterkunft ist nun unbewohnbar.
Flüchtlinge versuchen, sich das Leben zu nehmen
Von Natur aus seien Erstaufnahmen „gefährlich für alle Beteiligten“, sagt Ingrid Breckner, Professorin für Stadt- und Regionalsoziologie an der HafenCity-Universität. Flüchtlinge litten meist unter schweren Traumata, die auf Erlebnisse in ihren Herkunftsländern oder die Flucht selbst zurückgehen. „Die gesamte Situation sorgt dafür, dass Flüchtlinge häufig keine Frustrationstoleranz haben.“ Allein in den Erstaufnahmen Schwarzenbergstraße und Schnackenburgallee haben im Vorjahr 14 Menschen versucht, sich das Leben zu nehmen. Zusätzlich verschärft wird die Lage in den Unterkünften dadurch, dass der Platz für Flüchtlinge knapp bemessen und der Aufenthalt in den Erstaufnahmen viel zu lang ist.
Es gibt 15 Quadratmeter Platz für maximal vier Personen
Drei Stühle, ein kleiner Tisch, zwei Stockbetten, das ist die Einrichtung der 80 Container, die Flüchtlinge bei ihrem Einzug in der ZEA Schwarzenberg erwartet. Maximal vier Personen können auf 15 Quadratmetern untergebracht werden. „Unsere Erfahrung zeigt, dass Enge ein großer Problemherd ist“, sagt Rembert Vaerst. Zwar gehörten auch ethnische Auseinandersetzungen zum „Tagesgeschäft“ der Betreuer in den Erstaufnahmen. „Deutlich häufiger sind es aber Alltagsstreitigkeiten, die sich auf kleinem Raum hochschaukeln.“ Das trifft auch oder insbesondere auf die jungen Flüchtlinge zu, die MUFL, die laut Polizei auf engstem Raum untergebracht sind. Allein diese Enge führe nicht selten zu „Spannungen und Konflikten“.
Genug Platz ist angesichts des unvermindert hohen Flüchtlingszustroms die größte Mangelware. „Eigentlich müssen wir etwa fünf Prozent an Leerstand in den Erstaufnahmen gewährleisten, um entsprechend auf Streitigkeiten reagieren zu können“, sagt Vaerst. In den großen Erstaufnahmestellen in der Schnackenburgallee und am Schwarzenberg ist die offizielle Kapazität jedoch nahezu ausgeschöpft. „Dabei handelt es sich um rechnerische Größen. De facto hätten wir jeden Tag einen Polizeieinsatz, wenn ein Containerdorf wie die ZEA Schwarzenberg mit 720 Bewohnern vollbelegt ist“, sagt Rembert Vaerst.
Monatlich etwa 700 neue Flüchtlinge in Hamburg – offiziell
Derzeit kommen monatlich etwa 700 neue Flüchtlinge nach Hamburg. Mindestens bis zum Herbst bleibt die Lage prekär. „Mittelfristig sollen die Kapazitäten in der Erstaufnahme abgebaut werden“, sagt Frank Reschreiter, Sprecher der zuständigen Innenbehörde. Bis aber die nötigen Folgeunterkünfte gebaut sind, um die Asylbewerber weiter zu verteilen, sucht der Senat nach Plätzen für weitere Erstaufnahmen. Im Mai soll die ZEA „Neuland“ mit etwa 500 Plätzen in Harburg eröffnen. Geprüft wird auch eine weitere Erstaufnahme an der Paul-Ehrlich-Straße in Othmarschen. Nach Abendblatt-Informationen sollen Obdachlosenplätze aus dem Winternotprogramm für Flüchtlinge genutzt werden (siehe Text unten).
Mit dem zusätzlichen Platz, so die Hoffnung bei Fördern & Wohnen, könnte die Sozialstruktur in den Erstaufnahmen besser gestaltet werden, etwa, indem mehr Familien untergebracht werden. Während von den knapp 500 Bewohnern in der ZEA Sportallee knapp 93 Prozent Familien sind, wird das Containerdorf am Schwarzenberg zu fast zwei Dritteln von alleinstehenden Flüchtlingen bewohnt, die weit überwiegend männlich sind. „Wenn man Menschen mit den gleichen Problemen zusammenpackt, können sich diese gegenseitig verstärken“, sagt die Soziologin Ingrid Breckner. Nach der Massenprügelei am Schwarzenberg hat Fördern & Wohnen mehrere Dutzend Männer ausquartiert. „Dass diese Ansammlung gefährlich ist, wurde im Vorfeld der Prügelei möglicherweise nicht bemerkt“, berichtet Rembert Vaerst.
Flüchtlinge bleiben doppelt so lange wie geplant im Container
Je länger die Flüchtlinge in den Erstaufnahmen der Stadt verweilen, desto höher ist nach Einschätzung von Betreuern auch das Risiko verschlimmerter Traumata. Vorgesehen ist, dass die Flüchtlinge nach drei Monaten aus den Erstaufnahmen in eine betreute Unterkunft umziehen - in der Hamburger Praxis bleiben die Asylbewerber häufig doppelt so lange in den provisorischen Lagern. Nach Senatsangaben werden Flüchtlinge im Durchschnitt erst nach fünf Monaten in eine Folgeunterkunft umgesiedelt. Die minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge müssen sogar acht bis zehn Monate in den Erstversorgungseinrichtungen ausharren. Hinzu kommt, dass in den Stellen für Minderjährige weiterhin Dolmetscher und Betreuer fehlen. „Diesen Job will sich kaum jemand antun“, heißt es aus dem Umfeld der Sozialbehörde. Die Betreuer aus Folgeeinrichtungen beklagen sich darüber, dass Jugendliche nach langem Aufenthalt in der Erstversorgung oft verschlossen und gebremst sein. „Es kommt auf den Einzelfall an. Eine Instabilität kann sich jedoch verschärfen“, sagt Franziska Krömer von der Hamburger Kinder- und Jugendhilfe.
Alle Folgeunterkünfte sind mit nahezu 12000 Flüchtlingen bis zum Anschlag belegt, neue Anlagen werden dringend benötigt. Derzeit leben knapp 1600 Menschen bereits länger als drei Monate in den Erstaufnahmen. Fördern und Wohnen und Senatsvertreter sprechen einhellig von einem „Flaschenhals“, der beseitigt werden muss.
Der Hamburger Senat steht vor großen Aufgaben
Zusätzlich zu den geplanten 6000 Plätzen für Flüchtlinge würden bis zu 4000 weitere benötigt, schätzt die Sozialbehörde. Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) fordert, dass Asylbewerber bundesweit stärker verteilt werden. „Es ist nicht zu verstehen, dass in mittelgroßen Städten Wohnungen wegen Leerstand abgerissen werden, während wir in Hamburg Flüchtlinge in Wohncontainern unterbringen müssen.“
Dennis Gladiator, innenpolitischer Sprecher der CDU-Bürgerschaftsfraktion, fordert angesichts der jüngsten Vorfälle, die Sicherheit in den Erstaufnahmen nicht zu vernachlässigen. „Der Senat ist verantwortlich für den Schutz der Hamburger Bevölkerung und auch der Asylbewerber. Wenn die Polizei bereits im Vorfeld ausreichend eingebunden würde, ließen sich gewalttätige Auseinandersetzungen leichter vermeiden“, sagt Gladiator. „Auch muss der Senat ethnische Konflikte berücksichtigen und eine räumlich getrennte Unterbringung verfeindeter Gruppen sicherstellen. Nicht zuletzt müssen unsere rechtlichen Rahmenbedingungen ernst genommen werden: Wer kein Aufenthaltsrecht hat oder gegen unsere Rechtsordnung verstößt, muss abgeschoben werden.“