In Hamburg gibt es immer mehr Menschen, die aus Eigenmarken ein Geschäft machen. Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion?

Ungeduld kann etwas sehr Lautes sein, in diesem Fall drückt sie sich in Form von Magenknurren aus. Wären die Dinger doch nun endlich fertig, scheint das Bauchgefühl der Teilnehmerin am „Pralinenschnupperkurs“ zu sagen. Seit fast 40 Minuten hat sie Schokolade, Himbeercreme, Sahne und andere köstliche Zutaten vor Augen, in den Händen, rührt und erhitzt die Masse und misst immer wieder die Temperatur. Mit der des Raumes fängt es schon mal an, sie muss 20 Grad betragen. Die Sahne sollte 80 Grad heiß sein, wenn sie mit der geraspelten Schokolade vermischt wird, und die der Füllung muss auf 28 Grad runterkühlen. Pralinenherstellung scheint mehr mit einem Klimadiagramm zu tun zu haben als man dachte. „Es kommt auf halbe Grade an“, sagt Kursleiterin Julia Kieck. „Schokolade ist zickig, deshalb heißt es ja die Schokolade.“ Und es dauert eben, bis die Sünden fertig sind.

Das ist der Nachteil am Selbermachen gegenüber dem Selberkaufen. Der Vorteil? „Ich weiß, was drin ist“, sagt die Magenknurrendame, und ein Herr im dunklen Anzug ergänzt: „Wenn ich etwas selbst gemacht habe, schmeckt es besser als der Supermarktmist.“ Besonderes Vergnügen scheint ihm das Laserthermometer zu bereiten, das er immer wieder mit Begeisterung auf die Schokomasse richtet. Der Anblick erinnert ein bisschen an James Bond, der seine Waffe zückt – nur die Kochschürze stört das Agentenbild ein wenig.

Vorher Artdirector in der Werbeagentur – jetzt werden Nüsse gebrannt

Insgesamt sind an diesem Abend 26 Personen erschienen. „Die Nachfrage ist sehr groß, die Leute wollen immer mehr wissen, was in ihrem Essen steckt, und woher es kommt“, sagt Kieck. Die Hamburgerin gibt diese Seminare, weil sie den Blick hinter die Produkte eröffnen möchte. Sie schreibt gerade ihre Doktorarbeit über Kakaobohnen, war daher viel in Südamerika unterwegs, und kann wenn gewünscht die ganze Produktionskette von der Bohne bis zur Schokolade erklären, während ihre Zuhörer rühren und Laserthermometer schwingen. Eine Mutter mit Kind ist dabei, Studenten, sogar eine Frau aus Ecuador, die kaum Deutsch versteht. Der Trend zum Selbermachen kennt keine soziale Zielgruppe, aber ist er vielleicht nur ein kurzlebiger, der bald vorüberzieht? Nein, das ökologische Bewusstsein breite sich global aus, erklärt Kieck. „Es wird immer Firmen geben, die ausschließlich auf Profit aus sind, aber die einzelnen Menschen sind immer häufiger gegenteiliger Meinung.“ Wer das nicht glaubt, der muss nur einen Blick auf die Internetseite DaWanda werfen, der Online-Plattform für Selbstgemachtes und Unikate. Insgesamt mehr als 300.000 Anbieter bieten dort ihre Produkte an, darunter viele Privatpersonen, die so testen, wie gut ihre Idee ankommt, und ob man damit dauerhaft Geld verdienen könnte.

In Hamburg gibt es eine ganze Reihe von Leuten, die es gewagt haben, ihre alten Jobs an den Nagel zu hängen, um sich mit der Herstellung eines eigenen Produktes selbstständig zu machen. Die etwas mit ihren Händen schaffen wollten, anstatt vor dem PC zu sitzen. Sinnliches und haptisches Erlebnis versus Computerabsturz und Papierstau.

Die Hand war schon immer das wichtigste Werkzeug des Menschen. Doch im Zuge der Industrialisierung wurde sie immer weniger bedeutend. Fast verkam alles, was man mit seinen Händen erstellte, zum bloßen Hobby. Dabei wollten es Maike Grosch und Daniel Thaung nicht belassen. Acht Jahre lang arbeiteten sie gemeinsam als Artdirectoren in einer Werbeagentur. Während der Zeit kamen Maikes Chutneys und ihre Erdnussbutter, die sie in ihrer Freizeit herstellte, stets gut an, aber seit sechs Monaten ist aus dem Hobby ihre Existenzgrundlage geworden. „Wir brennen für Hamburg“ heißt das Motto ihrer Firma Brandgut, die Aufstriche aus Nüssen herstellt. In der Produktionsstätte in Lokstedt riecht es den ganzen Tag wie auf dem Dom. Herzstück der Herstellung ist der Brennofen, für den die Firmengründer sehr viel Geld bezahlen mussten. „Dafür hält er 100 Jahre“, sagt Grosch. So viel Zeit müsste reichen, um ihre Idee zu monetarisieren. Obwohl Mutterland die veganen Pasten bereits führt, sind die Umsätze ausbaufähig. „Aber immer wieder stehen Menschen beim Probieren vor mir und lachen vor Freude. Das ist doch ein ganz anderes Feedback als bei meinem früheren Job“, sagt Grosch.

Individuelle Gestaltungsfreiheit und die Möglichkeit, sich in seiner Arbeit auszudrücken, punkten gegenüber Fremdbestimmtheit und Angst vor Arbeitslosigkeit. War man vorher ein ersetzbarer Angestellter, ist man nun sein eigener Chef. „Wir sind davon überzeugt, dass die sich abzeichnende Renaissance von kleinteiliger Manufakturproduktion und unternehmerischer Eigeninitiative, gepaart mit digitaler Technologie, den Weg aus dem Dilemma von Massenarbeitslosigkeit auf der einen, Massenunzufriedenheit auf der anderen Seite weist“, schreiben die Autoren Holm Friebe und Thomas Ramge in ihrem Buch „Marke Eigenbau. Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion.“

Es gibt auch Selbermacher, die nicht nur von einem Aufstand sprechen, sondern einen radikaleren Wandel voraussehen. Guy Galonska von Infarm sagt: „Die Revolution wird definitiv stattfinden, es ist nur eine Frage der Zeit. Wir haben doch keine Wahl, ansonsten bräuchten wir bis 2050 zwei Erden, um alle ernähren zu können.“

Galonska und seine zwei Mitbegründer sind davon überzeugt, dass sich jeder in Zukunft sein Essen selbst anbauen wird. Das würde nicht nur die Trennung von Produzent und Konsument bedeuten, sondern auch das Ende von langen Transportwegen. Das Büro von Infarm sieht aus wie ein Labor, dort wurde ein System entwickelt, das es ermöglicht, zu Hause Gemüsepflanzen frisch anzubauen, unabhängig von der Saison und den räumlichen Gegebenheiten. Viel Recherche steckt in dem Minigewächshaus, das zurzeit im Mercedes me Store am Ballindamm 17 angeschaut werden kann. Es soll auch in der kleinsten Mietwohnung funktionieren. So zieht die Landlust in die Städte. Grüner Daumen hoch!

Der Gedanke der Nachhaltigkeit übernimmt bei der Do-it-yourself-Bewegung – die sich im Gastronomiebereich übrigens „Crafted Food-Szene“ nennt – eine große Rolle. Wer Selbstgemachtes herstellt oder auch kauft, der interessiert sich oft für die Geschichte hinter dem Produkt und guckt gerne genauer hin. „Wer hat denn schon Lust, erst einen Doktortitel in Chemie zu machen, bevor er die Zusatzstoffe auf einem Etikett versteht?“, fragt Birgit Draeger von my place 2 be.

Draeger stellt Fruchtaufstriche mit Namen wie „Gediegener Schnoopkram“ oder „Rasante Variante“ her, und zwar auf die Art, wie ihre Großmutter es früher tat, also mit reinem Apfelpektin statt mit Gelierzucker. Es war nicht so einfach, die richtige Mischung herauszufinden. Altes Handwerk sowie fast verlorenes Wissen mussten wieder aktiviert werden, dadurch kann Draeger auf Ersatz- und Zusatzstoffe verzichten.

Der Boom der Biobranche und die allseits geforderte Regionalität der Produkte spielen den Selbermachern genauso in die Karten wie die Sehnsucht nach Traditionellem. Die globale Massenproduktion scheint ein diffuses Unbehagen bei den Menschen hervorgerufen zu haben, die immer häufiger versuchen, ihrem Konsum und ihrem Tun einen Sinn zu geben. „Es entspricht dem Prinzip des Lebens, etwas herzustellen, es macht glücklich und hat mit Authentizität zu tun“, sagt Harriet Grundmann von der Edition Gute Geister. Grundmann entwirft seit Kurzem Postkarten und Keramiken, dabei war sie zuvor als Autorin ganz erfolgreich. Den Trend zum Selbermachen erklärt sie mit dem Wunsch der Menschen, bemerkt zu werden, und zwar nicht nur auf der virtuellen Ebene, wie es zum Beispiel Facebook ermöglicht. „In dem, was man schafft, zeigt man sich und wird sichtbar. Und das ist doch das Ziel eines jeden: sichtbar zu sein.“

Die Gegenbewegung zur industriellen Massenproduktion läuft auf Hochtouren. Ob sie jedoch auch ökologische Relevanz erreichen kann, ob die Zeit der Kleinunternehmen angebrochen ist? Wie immer bei Trends verhält es sich so, dass die Kleinen die Großen antreiben, die dann wiederum auf den Zug aufspringen. Jüngster Fall: Auf einmal will McDonald’s seinen Respekt vor der Natur signalisieren und ändert die Farbe des Firmenschildes von Rot auf Grün. Kritiker finden das zum Schwarzärgern, doch die Aufregung ist unnötig. Ein Fast-Food-Konzern wird nie mit den Vorteilen eines lokalen Anbieters konkurrieren können. „Ab einer gewissen Größe kann man die Qualität überhaupt nicht mehr liefern“, sagt Isabel Elmenhorst, die als Gründerin von Eat like Eve Seminare und Workshops zum Thema veganes Raw Food gibt.

Größere Firmen wiederum können sich teure Labortests leisten, die vielen kleinen Produzenten Sorge bereiten. Ab Ende 2016 wird die Nährwertkennzeichnung in Europa zur Pflicht. Manche glauben, das Gesetz sei vor allem von den Big Playern vorangetrieben worden. „So eine Lebensmittelanalyse können sich Firmen wie Nestlé oder Unilever doch tausendmal eher leisten als wir“, sagt Maike Grosch von Brandgut, die für ihre fünf Sorten dann jeweils 500 Euro zahlen müsste – und zwar immer wieder neu, sobald sich etwas an der Rezeptur ändert.

Ohnehin gewinnen die industriell hergestellten Lebensmittel jeden Kostenvergleich. Liebevolle Handarbeit kostet mehr als Fließbandproduktion, wollen die Produzenten nur halbwegs über die Runden kommen. Der Freude an der Einzigartigkeit und der Originalität setzen viele Kunden das Preisschild entgegen. Nicht jeder kann sich eine Revolution leisten. „Eine alleinerziehende Mutter wird froh sein, ihr Kind satt zu bekommen, die gönnt sich keinen Smoothie für vier Euro“, sagt Maike Palm von Hellogreen. Palm steht manchmal bis 23 Uhr in der Küche, um Spinat, Hanfsamen, Banane oder Mango zu grünen Trinkmahlzeiten, die sie direkt an die Kunden ausliefert, herzustellen. Sie ist Realistin, was das Wachstumspotenzial ihres Start-ups angeht, aber auch Optimistin. „Die Leute sind das Vorproduzierte leid. Überall bekommen sie das Gleiche, es gibt kaum Unterschiede.“

Und genau darin liegt die Chance der Selbermacher. Nur in einer Gesellschaft des Überflusses kann man sich kreative Tätigkeiten überhaupt leisten, und erst gesättigte Märkte ermöglichen Differenzierung. Anders gesagt: Es muss erst ganz viel Gleiches geben, damit man den Hunger auf Individuelles verspürt ­– womit wir wieder beim Magenknurren wären.