Auf die Frage, ob es unter Rot-Grün ein Leitbild für die Stadtentwicklung geben wird, heißt es: „Über ein Leitbild haben wir nicht gesprochen.“
Nicht einmal eine Stunde lag am späten Montagnachmittag zwischen zwei Ereignissen im Rathaus, von denen ganz unterschiedliche Signale ausgingen. Bevor gegen 18 Uhr die Nachricht zu SPD und Grünen vordrang, dass Hamburg Bewerberstadt für die olympischen Spiele 2024 wird, hatten beide Parteien um 17 Uhr ihre Koalitionsverhandlungen im Bürgersaal unterbrochen, um die wartenden Medienvertreter darüber zu informieren, was sie bis dahin in Sachen Stadtentwicklung erreicht hatten.
Zwischen viel Klein-Klein und der Botschaft, dass weiter fleißig Wohnungen gebaut werden sollen, kam dabei auch die Frage auf, ob es unter Rot-Grün ein Leitbild geben werde, also einen visionären Überbau für die Entwicklung der Stadt. Die beiden Fraktionschefs Andreas Dressel (SPD) und Jens Kerstan (Grüne) zögerten kurz, dann antwortete Kerstan knapp: „Über ein Leitbild haben wir nicht gesprochen.“ Bevor Dressel zu weiteren Ausführungen ansetzen konnte, schob der Verhandlungsführer der Grünen nach: „Wir haben keines angesprochen – und die SPD auch nicht.“ Punkt.
Hamburg - eine wachsende Stadt
Diese zwei dürren Sätze wären nicht weiter der Rede wert, wenn das Thema Leitbild in Hamburg nicht zwischenzeitlich eine so herausgehobene Bedeutung gehabt hätte. Es war 2002, als der von CDU, Schill-Partei und FDP gestellte Senat den Slogan „Metropole Hamburg – Wachsende Stadt“ geprägt hatte. Dahinter steckte ein immerhin 73 Seiten starkes Konzept, das im Kern beschrieb, wie die Stadt in Richtung zwei Millionen Einwohner anwachsen und auf vielen Feldern ihre überregionale Bedeutung stärken sollte – von der Wirtschaftskraft bis hin zur Kultur.
Nun ließe sich trefflich darüber streiten, wie viel Politik der dann folgenden Jahre auch ohne das Leitbild der „wachsenden Stadt“ möglich gewesen wäre. Aber da die wirtschaftliche Entwicklung Hamburgs positiv war und die Einwohnerzahl stieg, galt der Slogan allgemein als gelungener Coup. Groß war daher das Gejammer, vor allem in der Wirtschaft, als die CDU 2008 vor ihrem neuen Koalitionspartner von den Grünen einknickte und das Leitbild „Wachsende Stadt“ preisgab. „Wachsen mit Weitsicht“ hieß es von nun an – das klingt zwar so ähnlich, aber der Schwung war dennoch dahin.
Im Gegensatz zur CDU hat die SPD 2011 ganz auf ein Leitbild verzichtet
Als die SPD 2011 allein die Regierung übernahm, verzichtete sie ganz auf ein Leitbild oder große Visionen. Mehr noch: Mit dem Anspruch „Hamburg muss wieder ordentlich regiert werden“, hatte der neue Bürgermeister Olaf Scholz schon im Wahlkampf klar zu verstehen gegeben, wo er den Schwerpunkt setzen will. Was Scholz von forsch formulierten Visionen hält, machte er Anfang 2013 überdeutlich, als ihm die CDU in der Bürgerschaft vorwarf, keine zu haben. „Bleiben Sie mir mit Ihren Phantasien vom Halse“, blaffte er wütend zurück. „Die eine heißt HSH Nordbank, die andere Elbphilharmonie. Beide haben die Stadt viel Geld gekostet.“
Nachdem sie den Scholz-Senat vier Jahre lang von der Oppositionsbank aus beobachten konnten, haben auch die meisten Grünen ihre Illusionen aufgegeben. „Ich glaube nicht, dass man mit der SPD ein Leitbild aufstellen kann“, sagt ein Mitglied der Bürgerschaftsfraktion. „Dafür ist diese Partei viel zu visionslos.“ Allerdings, und das ist neu, treffen sich am Verhandlungstisch im Rathaus durchaus Brüder im Geiste. Denn nicht nur die Sozialdemokraten haben das mahnende Beispiel vor Augen, wie die CDU-Senate mit Großprojekten baden gingen, während sie die Bürger damit verschreckten, dass Alltägliches wie der Winterdienst nicht funktionierte.
Die Grünen wollen die Bürger nicht mehr mit großen Visionen erschrecken
Auch die Grünen, in deren DNA eigentlich der Anspruch verankert ist, die Gesellschaft verändern zu wollen, haben diese Lektion gelernt. In die Koalition mit der CDU, damals ohnehin ein visionäres Projekt, waren sie noch mit den Ambitionen gegangen, Hamburg ein neues Schulsystem und mit der Stadtbahn ein neues Verkehrsmittel zu bescheren. Die sechsjährige Primarschule und die Tram scheiterten jedoch am Widerstand aus dem Volk, das Wahlergebnis der Grünen 2011 war mit elf Prozent unerwartet schlecht, und die Quintessenz lautete: Wir backen ab jetzt kleinere Brötchen. In ihrem Wahlprogramm 2015 baten die Grünen die Wähler geradezu um Entschuldigung: „Vielleicht sind wir Ihnen ... sogar schon das eine oder andere Mal gehörig auf die Nerven gegangen.“ In der SPD meint man daher auch erkannt zu haben, dass sich die Begeisterung der grünen Unterhändler für Leitbilder und Visionen arg in Grenzen hält.
Fast eine Ironie der Geschichte ist es, dass der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) ebenfalls an diesem Montag Hamburg als Bewerber für die Spiele 2024 empfahl – denn dabei geht es ja um vielmehr als die Organisation eines Sportfestes. Ein komplett neuer Stadtteil mitten im Hafen soll entstehen – ökologisch auf dem neuesten Stand, barrierefrei und im Anschluss an die Spiele möglichst sinnvoll zu nutzen.
Olympia mit Grünen nur mit „Nachhaltigkeit“
Die Grünen, so ist zu hören, werden schon aus Prinzip massiv auf die „Nachhaltigkeit“ dieser Pläne pochen, sie ist sogar die Bedingung dafür, dass sie die Bewerbung überhaupt mittragen. Doch auch in der SPD spricht man davon, eine „stadtentwicklungspolitische Vision ersten Ranges“ aufstellen zu wollen. Denn nur dann, so das Kalkül, habe Hamburg international überhaupt eine Chance auf den Zuschlag.
Dass „Olympia 2024“ zum rot-grünen Leitprojekt stilisiert wird, ist dennoch unwahrscheinlich. Denn erstens könnte es damit schon im Herbst vorbei sein, falls die Bürger per Referendum dagegen stimmen sollten. Oder 2017, falls eine andere Stadt den Zuschlag erhielte. Zweitens wollen sowohl SPD als auch Grüne nicht den Eindruck erwecken, sie würden nur noch Olympia-Träumen nachhängen und darüber die Realität in der Stadt übersehen.
Also kein Leitbild und keine übergeordneten Visionen – aber eine Überschrift und eine Präambel soll der Koalitionsvertrag schon bekommen. Darüber spreche man am Ende, wenn alle Inhalte verhandelt seien, heißt es ganz nüchtern aus beiden Lagern. Als Grundlage dürften die Titel der Wahlprogramme dienen: „Hamburg weiter vorn“ (SPD) und „Mit Grün geht das.“ Ein Kompromiss, so wird geunkt, dränge sich doch auf: „Hamburg weiter vorn – Mit Rot-Grün geht das.“