Hamburg. Der 17-jährige Syrer Ahmad ist erst seit drei Monaten in Deutschland und lebt nun in Hittfeld. Das Haus seiner Familie in Kobane ist komplett zerstört.

Seit drei Monaten ist Ahmad in Deutschland. Weil der Syrer erst 17 Jahre alt ist, darf er hier zur Berufsschule gehen. In der kurzen Zeit ist sein Deutsch so gut geworden, dass er seine Geschichte erzählen und bei Bedarf dolmetschen kann. „Ich komme aus Kobane“, sagt der höfliche junge Mann mit dem sympathischen Lächeln. „Alle Häuser sind zerstört, das meiner Familie auch.“ Die Stadt an der Grenze zur Türkei ist nur noch ein Trümmerfeld. Ahmads Mutter hat es mit einigen seiner elf Geschwister in die Türkei geschafft, er ist mit seinem Vater auf der Flucht in Hittfeld gelandet. „Es ist gut hier“, sagt er. „Aber ich möchte irgendwann zurück. Syrien ist doch mein Heimatland.“

Jeden Freitag und jeden Sonntag geht Ahmad ins Hittfelder Gemeindehaus. Wie so viele, die sich hier im internationalen Café zu treffen, ist er froh, sein karges Zimmer in dem hellhörigen Container in der Straße am Bauhof in Hittfeld verlassen zu können. Die Männer stammen aus Syrien und Afghanistan, aus dem Iran und dem Irak.

Der Krieg hat sie vertrieben. Ahmad ist der Einzige aus der Gruppe, der zurück möchte. Alle anderen wollen in Deutschland bleiben, obwohl sie hier kaum etwas anderes kennen als das Leben im Container, wo das Internet nicht funktioniert und der Fernseher den ganzen Tag läuft. Die meisten sprechen weder Englisch noch Deutsch. Die gemeinsame Sprache der Flüchtlinge und der ehrenamtlichen Helfer im Café ist das Lachen, die Musik – und das Spielen.

Das Angebot in der Gemeinde Seevetal ist ein Beispiel dafür, wie Integration auf dem Land funktionieren kann. Zusammen mit 30 Helfern hat Karsten Friedling die Flüchtlingshilfe auf die Beine gestellt. „Ich dachte, wir sollten einen Weg zum guten Zusammenleben finden“, sagt der Mann, der hauptberuflich als Polizist, ehrenamtlich als stellvertretender Bürgermeister und daneben auch noch im Kirchenvorstand arbeitet. „Immerhin haben wir hier in Hittfeld schon etwa 100 Flüchtlinge, und es werden immer mehr.“ Dass der 5600 Einwohner große Ort die Zuweisung bisher gut verkraftet hat, liegt auch an Friedling und seiner Initiative.

Die Flüchtlinge sind vor allem dankbar

Inge und Karin, zwei Helferinnen, haben im internationalen Café ein Mensch-Ärgere-Dich-nicht-Spiel aufgebaut. Seif und Nasso aus dem Irak schauen ein bisschen verwirrt, haben dann aber schnell verstanden, wie gespielt wird. Notfalls springt Ahmad ein und übersetzt. „Ich habe schon fünf Freunde in Deutschland“, erzählt er stolz. Neben ihm sitzt Finn, 17, Gymnasiast aus Hittfeld. „Die Flüchtlingsproblematik interessiert mich, ich bin heute zum zweiten Mal hier“, sagt er. Ahmad und er verstehen sich gut. Sieht so aus, als hätte der Syrer bereits seinen sechsten Freund in Deutschland gefunden.

Karsten Friedling kommt mit einem anderen Spiel vorbei. „Memory, das funktioniert am besten und einfachsten“, sagt der Initiator der internationalen Begegnungsstätte. „Außerdem ist das zugleich ein bisschen wie Vokabellernen.“ Erstaunt hat er festgestellt, dass seine Mitspieler aus dem Iran das Wort „Apfel“, das sie irgendwann gelernt hatten, auch beim nächsten Treffen noch kannten, während er längst vergessen hatte, was „Apfel“ auf Farsi heißt.

Weil Karsten Friedling ein Mann der Tat ist, hat er gleich angepackt, als damals die Flüchtlinge kamen. Fünf Arbeitsgruppen haben sich gebildet – eine betreibt das Café, eine andere Gruppe kümmert sich um Sprachunterricht, wieder andere Helfer gehen mit den Flüchtlingen zu Ämtern, zum Arzt oder zum Anwalt, eine Gruppe kümmert sich um Spenden, und ein Teil der Helfer organisiert Freizeitaktivitäten. Dazu gehört zum Beispiel das Angebot, gespendete Fahrräder zu reparieren und dann behalten zu dürfen. Oder Sport. Fußball verbindet. Probleme hat es bislang nirgendwo gegeben. Keine politischen Auseinandersetzungen, keinen Streit. Kein Widerstand. Und die Flüchtlinge sind vor allem eins: dankbar. Und Karsten Friedling sagt: „Nach so einem Nachmittag gehe ich immer ganz glücklich nach Hause.“

Auch in den Nachbargemeinden tut sich etwas. In Winsen und Tostedt versuchen die Einwohner, ein Miteinander zu finden, den fremden Nachbarn auf einem menschlichen Weg zu begegnen. Im „Café Refugio“ in Harburg haben Mitarbeiter und Flüchtlinge die Räume des ehemaligen Jugendtreffpunkts gemeinsam renoviert und können dank der zahlreichen Helfer das Café täglich öffnen. Wenn sich die Menschen aus Syrien oder Afghanistan heute mit den Einheimischen beim Einkauf bei Penny treffen, winken sie sich zu wie alte Freunde. Früher, als sie sich noch nicht kannten, haben sie sich nur misstrauisch beobachtet.

Aus der Heimat konnten nur Erinnerungen mitgenommen werden

Inzwischen hat sich der Gemeindesaal gefüllt. Auch Nader ist gekommen, ein Iraner, der bereits seit drei Jahren auf sein Asylverfahren wartet. „Die Menschen im Asylantenheim kommen und gehen. Kaum habe ich sie kennengelernt, sind sie wieder fort“, erzählt er. „Nur ich bleibe, denn mein Verfahren kommt nicht in Gang.“ In der langen Wartezeit hat er sich selbst Deutsch beigebracht, hilft als Dolmetscher aus, spielt Schach und Volleyball.

„Bis jetzt hatte ich noch keine Chance, meine Träume wahrzumachen“, sagt der 53-Jährige. Dabei sind seine Träume ganz bescheiden. Ein Job als Lastkraftfahrer, eine eigene Wohnung, eine Familie. Selbstverständliche Dinge, die für ihn derzeit unerreichbar sind. Hat er irgendetwas mitnehmen können aus seiner Heimat? „Nein, gar nichts. Kein Foto, nichts. Nur die Kleidung, die ich getragen habe“, sagt er. „Und Erinnerungen.“ Auch Nader hat Schlimmes durchgemacht, während seiner Flucht tagelang im Wald geschlafen. Dann kommt Ayef dazu, ein junger Mann mit modischer Frisur, der viel lacht. „In seinem Herzen sieht es anders aus“, sagt Nader. Ayef hat sich auf seiner Flucht aus Afghanistan tagelang in einem Lkw versteckt, um sein Leben gefürchtet. Mehr möchte er nicht erzählen. Er lächelt, aber sein Lächeln sieht auf einmal traurig aus.

Hamburger Demo für Flüchtlingsrechte

Rund 4000 Menschen nahmen an der Demonstration teil
Rund 4000 Menschen nahmen an der Demonstration teil © dpa
Demonstranten mit Transparenten ziehen  in Hamburg durch die Innenstadt zum Rathausmarkt
Demonstranten mit Transparenten ziehen in Hamburg durch die Innenstadt zum Rathausmarkt © dpa
Eine junge Frau hält der Demonstration auf dem Rathausmarkt ein Schild mit der Aufschrift
Eine junge Frau hält der Demonstration auf dem Rathausmarkt ein Schild mit der Aufschrift "Augen öffnen, Herzen öffnen, Türen öffnen" © dpa
Mehr als 80 Organisationen kritisieren auf der Demonstration die Flüchtlings- und Ausländerpolitik des Hamburger Senats
Mehr als 80 Organisationen kritisieren auf der Demonstration die Flüchtlings- und Ausländerpolitik des Hamburger Senats © dpa
Schilder mit den Aufschriften
Schilder mit den Aufschriften "Nein zu Entrechtung und Ausgrenzung" und" Ja zu Mitmenschlichkeit und Menschenwürde" © dpa
Die Flüchtlingspolitik ist eines der am meisten umkämpften Themen in Hamburg
Die Flüchtlingspolitik ist eines der am meisten umkämpften Themen in Hamburg © dpa
"Break Isolation" und "Abschiebung stoppen" steht auf den Schildern © dpa
Der Senat hatte ein Gruppen-Bleiberecht für die so genannten Lampedusa-Flüchtlinge von Anfang an abgelehnt
Der Senat hatte ein Gruppen-Bleiberecht für die so genannten Lampedusa-Flüchtlinge von Anfang an abgelehnt © dpa
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Frauen gibt es keine im Hittfelder Flüchtlingsheim. Flüchtlinge, das sind meistens junge Männer. Nur die widerstandsfähigsten, zähesten, halten so eine Strapaze aus. Für die meisten Frauen und Kinder ist eine Flucht zu anstrengend. Doch selbst wenn sie überlebt haben und in einem neuen Land angekommen sind, bleibt es schwierig. „Wir sitzen den ganzen Tag im Heim herum und machen nichts“, sagt Nasso aus dem Irak. In seiner Heimat war er Tischler. In Hittfeld sitzt er nur herum, schläft viel, sucht bei Facebook nach Freunden. „Aber das Internet funktioniert nicht gut.“ Im Café können sie das Kirchen W-LAN nutzen, kostenlos.

Flüchtlinge wollen Arbeit und eine Familie

„Uns interessiert es selbstverständlich nicht, welchen Glauben die Flüchtlinge haben“, sagt Friedling. Jeder ist willkommen. Einige sind Christen, andere Muslime. Yosef zum Beispiel hat sich in Hittfeld sogar taufen lassen. Davor hatte er einen anderen Namen. Und ein anderes Leben.

Die jungen Männer hoffen auch, eine Frau in Deutschland kennenzulernen, eine Familie zu gründen, einen Job zu finden. Bleiben zu dürfen. Alle sehnen sich danach, irgendwo einen Platz zu finden, anzukommen, angenommen zu werden. Die älteren vermissen natürlich ihre Frau und Kinder, die sie nicht mitnehmen konnten auf die Flucht. Aber davon sprechen sie hier nicht. Das Café soll ein Ort der Freude sein. Vorn am Tisch spielt eine Gruppe Karten. Die Spielregeln verstehen die Besucher auch ohne Worte. Und gelacht wird immer. Auch Kuchen ist immer da.

An diesem Tag hat Friedling selbst gebackene Muffins mitgebracht, andere Helfer und Helferinnen haben Käsekuchen und Schokotorte gebacken. Es gibt Tee und Kaffee, manchmal auch Überraschungen. Kürzlich setzte sich plötzlich ein Mann ans Klavier, Abu Abozar. Er spielte so bewegend und so gut, dass es ganz ruhig im Raum wurde. „Später erzählte er uns, dass er gar keine Noten lesen kann, nur nach Gehör spielt.“ Jetzt hat Friedling einen Klavierlehrer gefunden, der ihm das Notenlesen beibringen möchte.

Zum Abschluss des Tages wird „Guten Abend, gute Nacht“ gesungen. In dieser Woche hören die Flüchtlinge die Melodie zum ersten Mal und verstehen noch kein Wort. Aber in der nächsten werden sie mitsingen.

Das Wohnschiff für Flüchtlinge

Das Wohnschiff
Das Wohnschiff "Transit" im Harburger Binnenhafen © dpa
Der Geschäftsführer des Landesbetriebs Fördern & Wohnen, Rembert Vaerst
Der Geschäftsführer des Landesbetriebs Fördern & Wohnen, Rembert Vaerst © dpa
So sehen die Betten aus
So sehen die Betten aus © dpa
Ein Familienzimmer
Ein Familienzimmer © dpa
Eingang zum Küchenbereich
Eingang zum Küchenbereich © dpa
Fördern & Wohnen-Geschäftsführer Rembert Vaerst
Fördern & Wohnen-Geschäftsführer Rembert Vaerst © dpa
Blick in einen Sanitärbereich auf dem Wohnschiff
Blick in einen Sanitärbereich auf dem Wohnschiff "Transit" © dpa
Das Wohnschiff
Das Wohnschiff "Transit" bietet Platz für 216 Flüchtlinge © dpa
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