Nach einer Operation am Knie kann die 14-jährige Mia aus Bergstedt nicht in die Schule gehen, denn es gibt keine Betreuung. Die Mutter kann das nicht fassen: Inklusion funktioniere nur „oben in der Behörde theoretisch gut“.

Hummelsbüttel. Mia ist 14 Jahre alt und ein fröhliches Mädchen. Sie lebt mit dem Down-Syndrom und geht in die 9. Klasse der Stadtteilschule Bergstedt; Inklusion ist hier ein Schwerpunkt. Inklusion bedeutet Zugehörigkeit und ist ein Menschenrecht, das in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben ist. Wenn jeder, egal ob mit oder ohne Behinderung, überall dabei sein kann, ist Inklusion gelungen. Seit einigen Wochen ist Mia nicht mehr dabei. Sie ist zu Hause und kann nicht mehr am Unterricht teilnehmen, obwohl es in Hamburg die Schulpflicht gibt. Wie konnte es dazu kommen?

Als Mia im März nach einem Unfall am Knie operiert werden musste, konnte sie anschließend rund zwei Monate nicht zur Schule gehen. Ihre Mutter Sibylle Kahl: „So kurzfristig ließ sich für meine Tochter, die nach der Knie-OP erst einmal im Rollstuhl sitzen musste, keine Schulbegleitung finden.“ Also eine Person, die mit Mia in den Pausen auf den Schulhof fährt oder sie auf die Toilette begleitet. „Dabei gibt es doch die Schulpflicht in Hamburg“, sagt Sibylle Kahl.

Die Schule, sagt sie, habe ihr zugesichert, dass so etwas nicht noch einmal vorkommen werde. Aber: Die Knie-Operation verlief nicht wie gewünscht. Im Oktober musste Mia deshalb erneut operiert werden und anschließend auch wieder in den Rollstuhl. „Ich habe der zuständigen Abteilungsleitung deshalb bereits im September gesagt: Nun haben wir den Fall – was können wir tun, damit Mia nicht noch einmal so lange den Unterricht versäumt?“

Sibylle Kahl kennt sich aus. Sie arbeitet als Leitung für den Inklusionsbereich in einem integrativen Hort mit mehr als 160 Kindern. Sie kennt die Bedürfnisse der Kinder, die Hürden in der täglichen Arbeit und die Möglichkeiten, diese mit viel Kraft und großem Durchsetzungsvermögen zu überwinden.

„Warum sollen wir still bleiben, wenn es um unsere Kinder geht?“

Sibylle Kahl setzte alle Hebel in Bewegung, sprach mit dem Inklusionsbeauftragten in der Behörde, telefonierte mit der Schulaufsicht für den Bezirk und wollte eine Schulbetreuung für ihre Tochter beantragen: „Nur für die Zeit, die sie nach der OP im Rollstuhl sitzen musste.“ Lange hörte sie nichts, und als Mia nach der Operation im Oktober wieder zu Hause war, hieß es: Eine spezielle Betreuung für Mia ist personell nicht zu schaffen. Sibylle Kahl fiel aus allen Wolken.

Schließlich machte man ihr ein Angebot: Mia kann zwei Tage in der Woche, am Montag und am Freitag, in die Schule kommen. Sie erhält dort zwar eine Betreuung, kann aber in der Pause nicht auf den Schulhof gehen, sondern muss mit einer Pädagogin in der Klasse bleiben.

„Was ist das für ein Feilschen um mein Kind?“, ist Sibylle Karl empört, „in Hamburg gibt es schließlich eine Schulpflicht – nur für Mia scheint die nicht zu gelten.“

Sibylle Kahl will das nicht mehr so einfach hinnehmen: „Warum sollen wir still bleiben, wenn es um unsere Kinder geht?“ Sie will eine öffentliche Diskussion über das Thema Inklusion und ein System, „das immer so angepriesen wird, aber in vielen Fällen in der Peripherie nicht funktioniert, weil es an allen Ecken und Enden an Personal und den nötigen Mitteln fehlt“. Sie meint damit, dass „oben in der Behörde Inklusion theoretisch gut funktioniert, aber in der Praxis, unten an der Basis, häufig leider nicht“.

„Ein Beispiel, dass Inklusion in Hamburg an vielen Stellen noch nicht funktioniert“

Oft werde das durch den großen Einsatz der Lehrkräfte kompensiert, sagt Sibylle Kahl. Aber nach ihrem Empfinden würden viele Pädagogen zunehmend durch die Inklusion und die tägliche Arbeit mit immer mehr schwierigeren Schülern in den Klassen „verheizt“. Nur die Öffentlichkeit erfahre davon nichts, weil in den Schulen und in der Behörde „die Bälle flach gehalten werden, obwohl alle wissen, dass es große Lücken im System gibt“. Es gebe engagierte Pädagogen mit dem Herzen am rechten Fleck. „Die setzen sich ein, aber halten dann dem Gegendruck nicht stand, wenn ihnen in der Behörde gesagt wird, dass es gar keinen Sinn mache, Anträge zu stellen, weil es dafür sowieso keine Mittel mehr gebe.“

Ja, sagt sie, Mia sei ein Einzelfall. „Aber davon gibt es sehr viele. Und wenn alle Eltern ihre Geschichten erzählen würden, gebe es eine Flut.“ Sie kenne Eltern, die ihre Kinder mit Behinderung aufgrund der unzureichenden Zustände bereits wieder aus den Regelschulen herausgenommen und zurück in die Förderschule gebracht hätten, weil dort durch Fachkräfte und kleinere Gruppen eine viel intensivere Betreuung gewährleistet sei. „Das kann es aber nicht sein“, sagt Sibylle Kahl, „das ist ein großer gesellschaftlicher Rückschritt.“

Zurzeit erhält Mia Hausunterricht. Dreimal in der Woche kommt für anderthalb Stunden eine Pädagogin zu ihr nach Hause, um mit ihr den Unterrichtsstoff durchzugehen. Das Lernen und Erleben in der Klassengemeinschaft, sagt ihre Mutter, kann dadurch nicht ersetzt werden.

Die Ausgrenzung bleibt. Martin Eckert macht dieser Vorfall ärgerlich. „Das ist eines dieser Beispiele, dass Inklusion in Hamburg an vielen Stellen eben noch nicht funktioniert. Und das ist in keinster Weise akzeptabel“, sagt der Geschäftsführer des Hamburger Elternvereins Leben mit Behinderung. Er kennt Fälle, in denen wegen fehlender Betreuungsmöglichkeiten die Berufstätigkeit der Mutter in Frage gestellt worden ist. „Welcher Arbeitgeber macht das schließlich auch mit, wenn die Mutter sagt, sie könne nicht zur Arbeit erscheinen, weil ihr Kind zu Hause betreut werden muss, da es nicht in die Schule gehen könne?“

Besuch in der Klasse wurde abgesagt

Eckert: „Wir erwarten, dass endlich nicht mehr ausschließlich über Ressourcen gestritten wird, sondern an allen Grund- und Stadtteilschulen an der Qualitätsverbesserung gearbeitet wird. Eltern machen derzeit sehr widersprüchliche Erfahrungen. Während viele Lerngruppen erfolgreich und zum Nutzen aller Kinder, ob mit oder ohne Behinderung, arbeiten, gibt es in anderen Schulen – manchmal sogar schon in der Nachbarklasse – Ratlosigkeit, Überforderung oder das Fehlen von Konzepten. Und dies bei vergleichbarer Ausstattung mit Personal und Räumen.“

Eckert will, dass sich das schnell-stens ändert und dass solche Vorkommnisse deshalb festgehalten werden. „Wir erwarten, dass Fälle, in denen Kinder wegen fehlender Betreuungsmöglichkeiten nicht zur Schule gehen können, schriftlich dokumentiert und ebenso wie Unterrichtsausfälle an den Schulen erfasst werden. Die Schulpflicht ist nicht nur eine Pflicht, sondern auch ein Recht, das alle Kinder haben.“ Es gebe immer und für jeden Fall auch Lösungen, sagt Eckert, und das könne in der Behörde auch niemand bestreiten.

Nur reden will darüber niemand. Warum ist es auch beim zweiten Mal in diesem Jahr nicht möglich gewesen, für Mia eine Schulbegleitung zu organisieren, schließlich gibt es eine Schulpflicht? Schulleiter Alexander Rebers verweist an die Schulbehörde. Also geht die gleiche Frage an die Behörde. Die spielt den Ball zurück. Die Antwort von Behörden-Sprecher Peter Albrecht: „Die Schulleitung möchte den Vorwurf direkt mit der Familie klären und ist zuversichtlich, eine Lösung zu finden.“

Prompt erhielt Sibylle Kahl einen Anruf von der Schule. Die Mutter wollte am Mittwoch in die Klasse gehen, um den Mitschülern zu sagen, wie es Mia geht und dass sie sich schon freue, bald schon wieder am Unterricht teilzunehmen. „Auch die Klassenlehrerin fand es toll, wenn ich in die Schule komme“, sagt sie. Kurz nach dem Abendblatt-Anruf bei der Schulleitung wurde der Termin abgesagt. Man teilte Sibylle Kahl mit, sie solle nicht in die Klasse kommen.