Die Übergabe des Landeskriminalamts zeigt, wie ernst die Polizei die Übergriffe nimmt. Für die Taten werden Hamburger Kiezgrößen, die Selbstjustiz begangen haben sollen, verantwortlich gemacht.

Hamburg. Nach den Selbstjustizangriffen vom Wochenende, bei denen Schlägertrupps jugendliche Flüchtlinge auf der Reeperbahn und an der Herbertstraße brutal zusammengeschlagen haben, hat das für Milieudelikte zuständige Landeskriminalamt (LKA) 65 die Ermittlungen übernommen. Zuvor hatte die örtliche Kripo die Fälle bearbeitet. Die Übergabe zeigt, wie ernst die Polizei die Übergriffe nimmt. Für die Taten macht die Ermittlungsbehörde Hamburger Kiezgrößen verantwortlich, die damit auf eine Diebstahlsserie der minderjährigen Flüchtlinge reagiert haben sollen.

Noch ist allerdings unklar, ob die schwer verletzten Jugendlichen wirklich für die Taschendiebstähle an Freiern und Prostituierten verantwortlich sind. Möglicherweise waren sie auch Zufallsopfer der Schläger. Von den Ermittlern konnten sie bislang nicht befragt werden, auch weil sie teils noch im Krankenhaus behandelt werden. Gesicherte Erkenntnisse gibt es nicht, auch keine Anzeigen seitens des möglicherweise betroffenen Rotlichtmilieus.

„Es gab keine Strafanzeigen, also haben wir auch nicht reagieren können“, sagte ein mit den Fällen betrauter Beamter. Wie das Abendblatt erfuhr, sollen szenekundige Beamte erst am Sonnabendnachmittag, also nur wenige Stunden vor den ersten Übergriffen, von ihren Rotlichtkontakten auf das Diebstahlproblem angesprochen worden sein. Das steht in Widerspruch zu Medienberichten, wonach Kiezvertreter der Polizei bereits seit drei Wochen wegen des Problems „auf den Füßen gestanden“ haben sollen.

Unklar ist zudem, ob die Fälle mit einem Angriff auf eine Gruppe Flüchtlinge an der Balduintreppe in Verbindung stehen, über den im Internet berichtet wird. Knapp 20 mit Knüppeln und Stangen bewaffnete Männer sollen mehrere Afrikaner am Wochenende nahe der Hafenstraße geschlagen haben. Die Polizei konnte den Vorfall aber nicht bestätigen.

Warum konnten sich minderjährige Flüchtlinge nachts auf dem Kiez rumtreiben?


Bekannt ist, dass die angegriffenen Jugendlichen, die aus Libyen und Marokko stammen und aktuell in der Erstversorgung für minderjährige Flüchtlinge des Kinder- und Jugendnotdienstes (KJND) an der Feuerbergstraße untergebracht sind, teils bereits Straftaten begangen haben. Ein 15-Jähriger aus Libyen war erst Anfang Oktober aus der Untersuchungshaft entlassen worden, er muss sich wegen Haus- und Wohnungseinbruchs verantworten. Ein anderer Jugendlicher ist seit Mitte Oktober wegen Diebstahls aktenkundig.

Wie das Abendblatt aus Polizeikreisen erfuhr, sind minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in den vergangenen Monaten immer häufiger mit Straftaten aufgefallen. Allerdings hat sich ihre Zahl auch deutlich erhöht. Auffällig seien einige Jugendlichen dabei nicht nur bezüglich ihrer kriminellen Energie, sondern auch bezüglich ihrer Aggressivität – was sehr oft auf das Trauma zurückgeführt werden könne, das die Jugendlichen durch die Erlebnisse auf ihrer Flucht entwickelt hätten.

Erstaunlich ist, dass sich die Minderjährigen überhaupt in den Nächten auf dem Kiez herumtreiben konnten. Aus der Sozialbehörde hieß es dazu, dass die Unterkünfte keine geschlossenen Einrichtungen seien, es aber festgelegte Rückkehrzeiten gebe. Sollte ein Jugendlicher diese überschreiten, würde eine Vermisstenanzeige bei der Polizei gestellt. Die wiederum kann die Jugendlichen in Gewahrsam nehmen und zur Feuerbergstraße zurückbringen.

Junge Flüchtlinge zeigen „deutliche Verhaltensauffälligkeiten“


Die Zahl der minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlinge lag 2007 noch unter 20 und steigt seit 2008 stetig an. 2011 wurden bereits 614 vermeintlich minderjährige Flüchtlinge aufgenommen, 2013 schon 833 und für 2014 werden 1050 erwartet. Als minderjährig ausgegeben hatten sich 2013 sogar 1296 Flüchtlinge. 463 (36 Prozent) von ihnen waren jedoch offensichtlich volljährig und kamen dann in der Regel in die normale Zentrale Erstaufnahme. Auch bei den verbleibenden 833, die zunächst in Obhut genommen wurden, ergab eine Altersfeststellung bei 348 (27 Prozent), dass sie 18 Jahre oder älter waren. Tatsächlich minderjährig waren also nur 485 von 1296 (37 Prozent).

Die Flüchtlinge werden an derzeit neun Standorten des KJND (zwei weitere sind in Planung) untergebracht. Die Aufnahmekapazität der Einrichtungen stoße „immer wieder an Grenzen“, heißt es in einem Bericht des zuständigen Landesbetrieb Erziehung und Beratung (LEB). Für aktuell 355 minderjährige Flüchtlinge gibt es nur 243 Plätze, bis Jahresende sollen es 284 sein. Laut dem LEB-Bericht zeigt „eine zunehmende Zahl“ der jungen Flüchtlinge „deutliche Verhaltensauffälligkeiten“.

Marcel Schweitzer, Sprecher der Sozialbehörde, betont aber, dass Kriminalität kein flächendeckendes Problem bei dieser Gruppe sei: „Das sind Einzelfälle.“ Dennoch habe man das Problem erkannt und arbeite daran: „Das ist eine Aufgabe für Sozialarbeit und Polizei, nicht für Schlägertrupps auf dem Kiez.“