Acht oder neun Jahre bis zum Abitur? Mareile Kirsch und die Elterninitiative „G9-Jetzt-HH“ müssen innerhalb von drei Wochen rund 63.000 Unterschriften sammeln.
Hamburg. Seit ein paar Tagen sind die Plakate der G9-Initiative am Straßenrand in Hamburg zu sehen. „Lasst uns mehr Zeit zum Lernen und Leben!“, lautet das zentrale Argument der Kampagne zur Wiedereinführung des längeren Wegs zum Abitur am Gymnasium (G9) aus Schülersicht. Vom Donnerstag an wird es ernst für die Elterninitiative „G9-Jetzt-HH“ um Gründerin Mareile Kirsch: Die Journalistin und Mutter zweier Kinder startet zusammen mit ihren Mitstreitern um 8 Uhr morgens auf dem Goldbekmarkt (Winterhude) das Volksbegehren. Innerhalb von drei Wochen müssen die Aktivisten rund 63.000 Unterschriften sammeln.
Die Initiative fordert die Bürgerschaft auf, „das neunjährige Gymnasium unverzüglich wieder einzuführen“. Der CDU-Schill-FDP-Senat hatte 2002 beschlossen, den achtjährigen Bildungsgang an allen Gymnasien zu starten. Die ersten G8-Abiturienten verließen 2010 die Schulen. Die G9-Initiative will jetzt ein Elternwahlrecht zwischen G8 und G9 an allen Gymnasien schaffen. „Nach dem jahrelangen Zwang zu G8 wollen wir keinen neuen Zwang ausüben“, sagt Kirsch.
Kirsch und ihre Anhänger setzen darauf, dass die Bürger ihr Anliegen unterstützen – die meisten Verbände und Parteien in Hamburg stellen sich jedoch gegen eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium. Eltern-, Lehrer- und Schülerkammer sowie die Schulleiterverbände haben dem Vorhaben schon früh eine Absage erteilt. Auch wenn Bürgerschaftsparteien wie SPD und Linke ursprünglich große Vorbehalte gegen die verkürzte Schulzeit hatten, sind sie nun gegen eine erneute Reform zurück zu G9.
Die FDP wirbt dafür, G8 zu verbessern, anstatt G9 wiedereinzuführen. Auch die CDU unterstützt das Volksbegehren nicht, war aber auf die Initiative zugegangen und hatte in Aussicht gestellt, dass die Schulen selbst entscheiden sollten, ob sie bei G8 bleiben oder auf G9 umsteigen wollen. Als prominenter Vertreter der Hochschulen lehnt Universitäts-Präsident Dieter Lenzen, selbst Erziehungswissenschaftler, eine Rückkehr zu G9 ab.
Die Initiative „G9-Jetzt-HH“ weiß vor allem den Deutschen Philologenverband an ihrer Seite. Verbandschef Heinz-Peter Meidinger wirbt seit längerem für eine Rückkehr zu G9. Das „Turbo-Abi“ nach acht Jahren sei nie in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Unterstützung erhält die Initiative auch von Teilen der Wirtschaft.
Der Vorsitzende des Bankenverbandes Hamburg, Marcus Vitt, hat sich deutlich gegen G8 ausgesprochen. Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann glaubt nicht, dass G8 in den westdeutschen Flächenländern langfristig eine Zukunft hat. Eine Reform, so meint er, sei auf mittlere Sicht unausweichlich.
Schützenhilfe erhalten Parteien und Verbände von einer Gruppe mit dem Namen „Schulfrieden“. Das Bündnis vorwiegend aus Eltern und einigen Lehrern hatte sich eigens gegründet, um der Kirsch-Initiative in der öffentlichen Diskussion Paroli zu bieten. Auch sie verteilen in diesen Wochen Flyer und planen Aktionen.
Pikant: Viele der Akteure auf beiden Seiten kennen sich aus der Zeit, als sie in der Initiative „Wir wollen lernen“ (WWL) 2010 erfolgreich gegen die Primarschule des damaligen schwarz-grünen Senats kämpften.
Während „Wir-wollen-lernen“-Kopf Walter Scheuerl heute mit der Kirsch-Initiative sympathisiert, stehen die WWL-Aktivistinnen Heike Heinemann und Ute Schürnpeck mit ihrer „Schulfrieden"-Gruppe auf der anderen Seite. Wegen des Streits ist es im Elternbündnis „Wir wollen lernen“ in dieser Woche faktisch zum Bruch gekommen. Heinemann und Schürnpeck werfen Scheuerl vor, er täusche „falsche Inhalte des Volksbegehrens“ vor. So sei er allein für die täglichen Rundmails des WWL-Bündnisses verantwortlich, in dem unter anderem ein „nicht objektiver Faktencheck G8/G9“ veröffentlicht worden sei.
Die Ausgangslage bei der heutigen G9-Initiative mag ähnlich sein wie beim Kampf gegen die Primarschule: hier alle Bürgerschaftsparteien und dort eine Elterninitiative. Und doch ist vieles anders. In der Schulpolitik dreht sich die Debatte eher um Inklusion, die Nachmittagsbetreuung oder die Unterrichtsqualität. Viele wünschen sich zwar für ihre Kinder mehr Zeit zum Lernen, sehen aber auch die Stadtteilschulen, die G9 bereits anbieten, durch eine Rückkehr zu G9 am Gymnasium in Gefahr.
Vor allem ist die bürgerliche Gesellschaft kaum in ähnlicher Weise von diesem Thema berührt wie einst von der Primarschulreform, die ganze Stadtviertel in Aufruhr versetzte und die Gegner zu mehreren großen Demonstrationen auf die Straße trieb. Und Geld? „Wir sind sicherlich sehr viel bescheidener ausgestattet als damals ,Wir wollen lernen'“, sagt Mareile Kirsch.