Während die Politik eine neue „Willkommenskultur“ etablieren wollte, stürmten die Flüchtlinge aus den Krisengebieten die Erstaufnahme-Zentren in Hamburg, Bremen, Norddeutschland. Nun ist die Not groß.

Vielleicht ist es ja nur viel zu schnell gegangen für Deutschlands Politik, für unsere Bürokratie. Vielleicht haben sich die Krisenherde dieser Welt in viel zu hohem Tempo aneinander und gegeneinander entzündet. Afghanistan, Nordafrika, Iran, Irak. Schon liefert Deutschland Waffen nach Kurdistan, kein Mensch weiß, was damit eines Tages an der Grenze zum Nato-Land Türkei geschieht. Und was der Ukraine noch bevorsteht. Dem Libanon. Von Afrika gar nicht zu reden. Selbst vom Balkan fliehen die Menschen immer noch in der Hoffnung auf eine endlich menschenwürdige Zukunft. Unsere Zeit ist auch eine Schande für die Zivilisation.

Sie kommen dann hier an. In Hamburg-Harburg. Gleich hinterm Bahnhof. Das alte Phoenixwerk in Sichtweite, das nagelneue, hypermoderne Elbcampus der Handwerkskammer gleich um die Ecke. Schnellstraßen umzingeln den Neuländer Platz, auf dem junge Männer sich gelangweilt die Füße vertreten. Eine rauchen, beieinander stehen, sich auf die Mauervorsprünge hocken. Warten. Schlange stehen. Warten. Warten. Dass es Essen gibt. Dass einer was sagt. Dass vielleicht sogar mal etwas passiert.

Ein Handy klingelt. Zigarette wird ausgedrückt. Warten. Eine Frau mit Kopftuch setzt sich neben einen blauen Plastiksack mit ihrem Hab und Gut. Auch sie wartet. Vielleicht darf sie ja heute in den Bus einsteigen, der gleich gut drei Dutzend Flüchtlinge weitertransportieren soll in ein anderes Heim. Es wird dort, aber das sagt der Frau jetzt keiner, mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht besser werden.

Zentrale Erstaufnahmeeinrichtung (ZEA) Harburger Poststraße, 250 Plätze, 339 Flüchtlinge. Einer jener Orte, an denen es bundesweit in den vergangenen Wochen immer voller und voller geworden ist. An denen das Personal, die Sozialarbeiter, Wachleute, kaum noch hinterherkommt. Mit ihrer Arbeit und manchmal auch mit ihren Nerven. Drei Zelte haben Sie hier vor zwei Wochen aufgebaut, jeweils eins für 30 Flüchtlinge. Man glaubte, dass das reichen müsste. Nächste Woche werden es sechs Zelte sein. Und übernächste Woche? Kein Mensch weiß das.

Sofortige Integration: „Es zahlt sich aus“

Es sei „Gefahr im Verzug“, hat der Vorsitzende der SPD-Bürgerschaftsfraktion Andreas Dressel, in dieser Woche festgestellt und damit die Pläne des Senats, erneut Wohnschiffe in den Hafen zu schleppen, um das Entstehen von Zeltstädten rings um die bestehenden Flüchtlingsheime zu vermeiden. Auch jede Fläche, jede Kaserne, jedes leer stehende Gebäude werde auf zügige Tauglichkeit hin überprüft. Überwintern im Zelt komme in Hamburg nicht in Frage. Die Zeit des Suchens, Prüfens, Abwägens, so Dressel, sei vorbei. „Es geht nur noch um die schnelle Machbarkeit.“

Das ist richtig und falsch zugleich. Natürlich brauchen Menschen zu allererst Essen, Trinken und ein Dach über dem Kopf. Aber wofür manche vielleicht sogar einen Winter im beheizten Rendsburger Zelt in Kauf nehmen würde, was Flüchtlinge in einem fremden Land mindestens genau so brauchen, ist Perspektive. Weiterbildung, Arbeitsgelegenheit, der Abbau bürokratischer Hindernisse, das Recht, selbstständig Entscheidungen treffen zu können, sind für ihre Zukunft ebenso entscheidend wie für die Zukunft der sie aufnehmenden Kommunen.

„Es ist unterm Strich besser und günstiger für uns“, sagt die niedersächsische Migrationsbeauftragte Doris Schröder-Köpf (SPD), „sofort in die Integration dieser Menschen zu investieren, also jetzt Geld in die Hand zu nehmen und ordentliche Rahmenbedingungen für die Flüchtlinge zu schaffen. Auch wenn es jetzt teuer ist: Es zahlt sich aus.“

Nachkriegsdeutschland, selbst ein Land von Flüchtlingen, hat das ja schon einmal erlebt. Als Anfang der 90er Jahre infolge der Balkankrise die Zahl der Flüchtlinge dramatisch anstieg, als man schon einmal in aller Eile Unterkünfte hochzog und Wohnschiffe im Hafen vertäute, dabei aber Ausbildung, Beschäftigung und Perspektive der Neuankömmlinge vernachlässigte. Entsprechend aggressiv und hoffnungslos entwickelte sich die Lage in den Unterkünften, entsprechend konfliktreich das Verhältnis zu den Einheimischen. Es entstand jene jeden weiteren Zuzug ablehnende Stimmung, die der damalige Erste Bürgermeister Henning Voscherau unter Berufung auf Herbert Wehner als „demokratische Grundwelle“ bezeichnete, der sich die Politik nicht entgegenstellen dürfe.

Bis zu 300.000 Asylanträge im Jahr 2015

Soweit ist es noch nicht. Aber es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es wieder soweit kommt. Der heute aufgeschlosseneren Haltung der Bundesbürger, der Einsicht in die demografische Notwendigkeit, stehen Dauer, Unversöhnlichkeit und Radikalität jener Konflikte entgegen, denen die Flüchtlinge gerade entgangen sind. Die Bremer Sozialsenatorin Anja Stahmer (Grüne) hat in dieser Woche darauf hingewiesen, dass aggressives Verhalten unter den Flüchtlingen fast immer von jenen jungen Menschen ausgeht, „die zu Hause Straßenkinder waren und gelernt haben, sich mit Gewalt zu ihrem Recht zu verhelfen“. Das werden, angesichts der Lage in Nahost und im nördlichen Afrika nicht weniger werden in den kommenden Jahren. Und darauf sollte man sich ebenso vorbereiten wie auf den nächsten Winter.

Die Zahl derjenigen Menschen, die aus den Krisengebieten der Welt nach Deutschland gekommen sind, ist ja immer noch sehr überschaubar. Mit 170.000, vielleicht 200.000 Asylanträgen deutschlandweit rechnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in diesem Jahr, 230.000, vielleicht 300.000 könnten es 2015 sein. Im Verhältnis zu mehr als 80 Millionen Einwohnern und gemessen an der Vielzahl der aktuellen Krisenherde der Welt eine erstaunlich geringe Quote. Politik und Bürokratie melden dennoch längst „Land unter“.

In Berlin und in Bayern haben die Behörden zeitweise kapituliert und die Schotten der Erstaufnahmen tagelang dicht gemacht, nachdem sich dort teilweise tumultartige Szenen abgespielt hatten. In Bremen hat die Leitung der zentralen Aufnahmestelle in der vergangenen Woche einen Notruf verfasst, in dem von „unhaltbaren und von uns nicht mehr zu händelnden“ Zuständen die Rede ist, von zunehmender Gewalt und ständiger Aggression. Von Menschen, die inzwischen auf den Fluren des Heimes schlafen müssen, manche bleiben gleich ganz draußen.

In Niedersachsen sind die Erstaufnahmezentren mit aktuell mehr als 2800 Flüchtlingen längst hoffnungslos überfüllt. Regulär gibt es dort nur 1500 Plätze. In Schleswig-Holstein bereitet der zuständige Innenminister Andreas Breitner (SPD) die Menschen gerade darauf vor, dass man Asylbewerber im Winter in Zelten werde campieren lassen müssen. Auch in Hamburg, wo Politik und Verwaltung derzeit vieles tun, um Bilder von frierenden oder randalierenden Flüchtlingen vor der Bürgerschaftswahl im Februar zu vermeiden, spitzt sich die Situation zu.

Die Flüchtlinge warten immer länger

Nicht nur, dass die Geduld der Flüchtlinge wegen der viel zu geringen Aufnahmekapazitäten zwangsläufig in kaum zu verantwortender Weise auf die Probe gestellt wird. Der Mangel Unterkünften sorgt auch dafür, dass an einigen Stellen Menschen, die eigentlich nicht unter einem Dach zusammenleben sollten, auf engem Raum zusammengepfercht werden müssen. Frauen, die sich ihr Leben lang verschleiert haben, müssen nun mit fremden Männern in einem Raum schlafen. Muslime mit Christen. Krebskranke mit Schwangeren. Sunniten mit Schiiten.

Einzelfälle, nicht die Regel, man versucht solche Konstellationen ja unbedingt zu vermeiden. Aber die Ausnahmen werden häufiger und die Zeiten, die man in den Notunterkünften verbringen muss immer länger. 90 Tage maximal sollten es sein, daraus werden inzwischen acht Monate, neun. Warten. Warten. Warten.

Mitte der Woche konnte die Polizei am größten Standort der Zentralen Erstaufnahme Hamburg in der Schnackenburgallee gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen einer Gruppe junger moslemischer Tschetschenen und einer Gruppe von Christen aus Eritrea gerade noch verhindern. Die Leute waren kurz davor, sich an die Kehle zu gehen. Im Zusammenhang mit dieser Auseinandersetzung wurden, außerhalb der Flüchtlingsunterkünfte, auch Waffen, darunter eine Machete, gefunden.

„Neue Willkommenskultur“ in die Realität übersetzen

„Die Stimmung in den ZEA-Standorten ist in den vergangenen Wochen aggressiver geworden“, bilanziert Melanie Anger. Die 38-Jährige ist Bereichsleiterin für die Zentrale Erstaufnahme beim öffentlichen Dienstleister „Fördern und Wohnen“, zuständig für alle vier ZEA-Standorte, 1700 Plätze insgesamt. Derzeit leben in den dort zur Verfügung stehenden Häusern, Containern, Zelten mehr als 2300 Menschen, Tendenz steigend: „An jedem Morgen sind die Zahlen wieder ein bisschen höher als am Abend zuvor. Und das Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht." Anger versucht ihr dennoch tapfer zu trotzen, müht sich, die von der Politik in den vergangenen Jahren immer wieder wolkig eingeforderte „neue Willkommenskultur“ auch angesichts einer gegenüber dem Jahr 2007 mittlerweile verzehnfachten Zahl von Asylbewerbern in die Realität zu übersetzen.

In der Hamburger Poststraße gibt es immerhin noch zwei Klassenzimmer für die schulpflichtigen Kinder. Ein Arzt hält Sprechstunde, untersucht die Menschen, die hier mit äußeren und inneren Verletzungen gestrandet sind und auf eine bessere Zukunft warten. Hoffen. Warten. Auf ein Essen, bei dem es möglichst nicht immer nur Kartoffeln gibt. Auf ein Zeichen des Wachmanns, dass es jetzt weitergeht. Auf eine eigene kleine Wohnung, wenigstens ein Zimmer mit Küche und Bad in einer der Folge-Einrichtungen. Auf die Aufenthaltserlaubnis. Auf einen Anruf aus der Heimat. Auf Arbeit. Auf eine Chance zur Selbstständigkeit.

Gefahr im Verzug? Ja. Vor allem, wenn wir die Menschen hier buchstäblich hängen lassen.