Gemäß bundesweit einmaligem Transparenzgesetz sind von heute an sehr viele städtische Dokumente online abrufbar. Firmen können Daten kostenfrei nutzen. Die Wirtschaft ist allerdings skeptisch.

Hamburg. Man soll ja vorsichtig sein mit diesem Begriff, aber das, was am heutigen Donnerstag in Hamburg passiert, kommt einer Revolution sehr nahe. Es ist nicht nur eine technische, sondern auch ein radikale politische Umwälzung – jedenfalls für deutsche Verhältnisse. Von heute an können die Bürger alle wesentlichen Akten der Hamburger Verwaltung im Internet abrufen: alle staatlichen Gutachten, Vermessungsdaten, Luftmessdaten, Senatsentscheidungen, die Empfänger von Subventionen und Zuwendungen, ein Baumkataster, das sämtliche Straßenbäume ver- und bezeichnet – und fast alle Verträge, die Hamburg mit Unternehmen schließt.

Vieles davon wurde früher lieber unter Verschluss gehalten. Jetzt aber hat der Senat gemäß dem seit 2012 geltenden bundesweit einmaligen Hamburger Transparenzgesetz Schriftstücke im Umfang von rund 33 Millionen DIN A4 Seiten digital aufbereitet, um sie den Bürgern jederzeit unentgeltlich unter der Adresse transparenz.hamburg.de zur Verfügung zu stellen.

Das ist nicht nur eine große technische Herausforderung gewesen – es ist auch ein scharfer Bruch mit den spätestens seit dem 19. Jahrhundert gültigen Prinzipien von Staatsverwaltung und Beamtentum. Noch 1970 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass eine Verwaltung nur dann einwandfrei arbeite, wenn sichergestellt sei, dass über Behördenvorgänge nach außen „grundsätzlich Stillschweigen bewahrt“ werde. Nun gilt in Hamburg fast schon das Gegenteil: Je offener die Verwaltung arbeitet, so die neue Philosophie, umso effizienter arbeitet sie – und umso besser auch für die Bürger. Offiziell geht das Transparenzportal am 1. Oktober online. Aber schon jetzt kann eine Beta-Version genutzt werden. Firmen können alle Daten kostenfrei verwenden – etwa zur Erstellung von Smartphone-Anwendungen, die zum Beispiel Geodaten nutzen.

„Das, was wir hier in Hamburg machen, ist bundesweit einmalig“, lobt der verantwortliche Justiz-Staatsrat Nikolas Hill (CDU). „Und ich bin überzeugt, dass es für viele andere Bundesländer ein Vorbild sein wird.“ Besonders stolz ist man im Senat von SPD-Bürgermeister Olaf Scholz darauf, dass man bei dem Großprojekt nicht nur im gesetzlich vorgegebenen Zeitrahmen geblieben ist – sondern auch nicht mehr Geld ausgegeben hat als die veranschlagten 5,2 Millionen Euro. Rund zwei Jahre waren zehn Mitarbeiter damit beschäftigt, das System einzurichten, das sich aus 50 unterschiedlichen Datenlieferdiensten speist und sich ununterbrochen aktualisiert.

Hamburg ließ sich von ungewöhnlicher Seite helfen


Alle neuen Luftmessdaten, Informationen über Baumbestände, Senatsbeschlüsse und Verwaltungsakten sollen künftig umgehend in die Datenbank eingespielt werden. Laut Gesetz müssen diese danach mindestens für zehn Jahre online abrufbar sein. Der Senat hat daher zum Start wesentliche Dokumente für die zurückliegenden zehn Jahre eingestellt.

Hamburg hat sich bei der Erstellung des neuen Transparenzportals von ungewöhnlicher Seite helfen lassen: Sowohl die Anti-Korruptions-Gruppe Transparency International als auch die Hacker vom Chaos Computer Club haben die Behörden beim Aufbau des Registers unterstützt. Die Zusammenarbeit hat einen simplen Grund: Es waren diese beide Gruppen, die gemeinsam mit dem Verein „Mehr Demokratie“ 2011 eine Volksinitiative für mehr Transparenz ins Leben riefen. Nachdem die Initiative „Transparenz schafft Vertrauen“ die erste Hürde der Volksgesetzgebung genommen hatte, übernahm die Bürgerschaft, in der die SPD die absolute Mehrheit besitzt, das Anliegen weitgehend. Bereits seit Oktober 2012 mussten staatliche Institutionen auf Antrag Dokumente der Verwaltung herausgeben. Zwei Jahre später ist die Stadt nun zur automatischen Veröffentlichung verpflichtet.

Der SPD-Senat hat bereits in den vergangenen Monaten gezeigt, dass er es ernst meint und zum Beispiel den Vertrag zur Einigung mit der Firma Hochtief über den lange stockenden Bau der Elbphilharmonie online verfügbar gemacht. Außerdem veröffentlichte die Stadt die Gehälter der Geschäftsführer städtischer Unternehmen und Gesellschaften – teilweise gegen deren erbitterten Widerstand. Nun wissen die Hamburger, was die Chefs der Theater, der Messe-Gesellschaft oder der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Saga verdienen – und dass deren Einkommen bisweilen x-fach so hoch ausfallen wie die des Bürgermeisters. Parallel wurden bereits rund 2000 Mitarbeiter der Hamburger Verwaltung geschult. Denn das Gesetz verlangt auch von den städtischen Beamten einen radikalen Mentalitätswandel.

Handelskammer fürchtet Verunsicherung der Beamten


Insgesamt ist noch nicht abzusehen, welchen Effekt es langfristig haben könnte, dass die Verwaltung in weiten Teilen gläsern wird, dass so viele wichtige Staatspapiere plötzlich für jedermann einsehbar sind. Nach der Veröffentlichung der Elbphilharmonie-Verträge im Internet etwa hat sich kaum jemand das umfangreiche Dokument angesehen. Offenbar herrschte die Meinung vor: Wenn der Senat das veröffentlicht, ist das sowieso alles okay. In Zukunft geht es für Öffentlichkeit und auch für Journalisten nun nicht mehr nur darum, an geheime Dokumente heranzukommen – sondern in einem unendlichen Wust von freizugänglichen Daten und Dokumenten Dinge zu finden, die interessant, anrüchig oder womöglich sogar skandalös ist – und sie kompetent zu interpretieren. Datenjournalismus nennt man diese Art von Recherche. In den USA ist man Deutschland in puncto Transparenz um Jahrzehnte voraus. Schon seit 1966 bzw. seit der Novellierung 1974 haben Amerikaner durch den „Freedom of Information Act“ Zugang zu nicht als geheim eingestuften Dokumenten ihrer Regierung.

In der Hamburger Wirtschaft sind derweil nicht alle glücklich mit der neuen Offenheit. Die Handelskammer fürchtet eine Verunsicherung der Beamten und „Stillstand in der Verwaltung“. Außerdem sieht sie Betriebsgeheimnisse von Firmen gefährdet, die sich um städtische Aufträge bewerben. Die Pflicht zur Veröffentlichung von Verträgen könne zum Standortnachteil werden.

Im Senat der Hansestadt schätzt man das anders ein. Erstens würden wirklich sensible Daten vor der Veröffentlichung geschwärzt. Und außerdem betreffe die Regelung ja alle Firmen gleichermaßen. Das Transparenzgesetz sei daher keinesfalls ein Standortnachteil, so Staatsrat Hill. „Im Gegenteil: Mit dem Transparenzportal heben und veredeln wir einen gewaltigen Datenschatz. Das ist Wirtschaftsförderung 2.0.“