Nach 13 Jahren ohne Nachwuchs liegt die Erlaubnis des Europäischen Erhaltungsprogramms vor. Die Tiere sind stark gefährdet: Weltweit gibt es nur noch 450 frei lebende Amurtiger.

Stellingen. Ein Ohr, mehr ist nicht zu sehen. Die große, gestreifte Hoffnung im Tierpark Hagenbeck gibt sich an diesem Frühsommertag schüchtern, tarnt sich hinter dichtem Buschwerk und versteckt ihre geballte Männlichkeit in regungsloser Hab-Acht-Stellung. Dabei hat der drei Jahre alte Lailek schon einige Wochen der Gewöhnung hinter sich und als stattlicher Kerl so viel Understatement gar nicht nötig: Fast 200 Kilogramm bringt der neue Amurtiger auf die Waage, täglich vertilgt er fünf Kilogramm Fleisch. Bescheiden geht anders.

Andererseits ist Zurückhaltung derzeit noch angebracht. Denn erst 2015, nach etlichen nachwuchslosen Jahren und einer langen Suche nach einem geeigneten Männchen wie Lailek, darf der Tierpark wieder die stark gefährdeten Sibirischen Tiger züchten. Die Freigabe des Europäischen Erhaltungszuchtprogramms (EEP) liegt nun vor. Aber eben erst für das kommende Jahr. Deshalb begegnen sich die beiden Tiere bisher nur am sogenannten Schmusegitter im Innengehege, sagt Tierpfleger Tobias Taraba. Ein bisschen Schnuppern – mehr ist noch nicht erlaubt. Demnächst sind aber auch Annäherungsversuche im jüngst umgebauten, fast 600 Quadratmeter großen Freigehege geplant. Allerdings nur, wenn Tigerdame Maruschka nicht rollig ist. Zwischendurch wechseln sich die Tiere auf der großen Anlage ab. Vorerst gilt überall: nur gucken, ein bisschen anfassen, aber nicht mehr!

Weltweit gibt es nur noch 450 frei lebende Amurtiger, sagt Tierarzt Michael Flügger. In den europäischen Zoos seien es etwa 260 Tiere, der verfügbare Genpool ist dementsprechend begrenzt, die Zuchtauflagen streng. Im Züricher Zoo hat sich mit Tigerkater Lailek dennoch ein genetisch passendes Exemplar gefunden. Artgenossin Maruschka, die schon 2012 aus Novosibirsk nach Stellingen kam, war ohnehin gesetzt. Zumal ihr Stammbaum wenig verbreitet war. Deshalb steht sie im Zuchtprogramm an Ranglistenplatz sechs. Für Hagenbeck ein Glücksfall. Je weiter oben ein Tier steht, desto zügiger kann die Arbeit am Erhalt der gefährdeten Art beginnen.

Nach 13 Jahren ohne Tigernachwuchs sollen im kommenden Jahr gesunde Babys geboren werden, mit denen europaweit weitergezüchtet werden kann. „Zwei bis drei Jungtiere pro Wurf wären ideal“, sagt Tierpfleger Taraba. Im Jahr 2002 kamen die vorerst letzten Jungtiere in Hamburg zur Welt. Dann wurden die genetischen Testmethoden des EEP verfeinert und der damalige Kater Sascha als nicht reinrassig eingeordnet. Fortan durfte nicht mehr mit Sascha und Taiga gezüchtet werden, immerhin wurde das Paar zusammen alt, bevor es starb. Nun ist das Gehege frei für junge Artgenossen.

Damit die Zucht gelingt, wird ein gesunder und möglichst vielfältiger Genpool benötigt. Für jede der mehr als 170 Tierarten im Europäischen Erhaltungszuchtprogramm gibt es einen Fachmann in den rund 350 beteiligten Zoos. Er führt Buch, dokumentiert, koordiniert. Im Fall der Sibirischen Tiger ist die zuständige Zuchtkoordinatorin eine Frau, heißt Jo Cook und sitzt im Londoner Zoo. Sie wertet Daten aus, verkuppelt passende Tigerpärchen und entscheidet, welches züchten darf.

Für die Hamburger Konstellation ist Tierarzt Flügger zuversichtlich: „Katzen zu verpaaren ist erfahrungsgemäß wenig problematisch.“ Das sei bei Stubentigern nicht anders als bei ihren großen Verwandten. Selbst wenn Tiger als Einzelgänger gelten. In der Wildnis durchstreifen Männchen ein bis zu 1000 Quadratkilometer großes Revier, das sich mit den Lebensräumen der Weibchen überlappt. Besonders wählerisch seien die Tiere bei der Partnerwahl nicht, Gelegenheit macht hier Kinder. Im Zoo läuft das zielgerichteter ab, künstlich nachgeholfen werde aber nicht, sagt Flügger. „Die Tiere sollen ja auch ihren Spaß haben.“ Vorher wurde auch nicht getestet, ob Lailek und Maruschka überhaupt zeugungsfähig sind.

Obwohl von der Zuchtkoordinatorin ein Wurf genehmigt wurde, besteht ein gewisses Restrisiko. Laut Tierarzt Michael Flügger ist bei jungen Paaren ein sogenannter Übungswurf nicht unwahrscheinlich. Dabei überleben die Tigerbabys nicht. Doch was würde dieses Szenario für den Tierpark bedeuten? „Es würde uns in unseren Bemühungen jedenfalls nicht zurückwerfen“, sagt Flügger. „Dann dürften wir noch mal.“

Trotz höherer Lebenserwartung sind fünf Würfe wohl das Maximum

„In jedem Fall wird es interessant, wie sich die beiden Tiger ohne Gitter begegnen“, sagt Tierpfleger Tobias Taraba. Seit März beobachtet er die Tiere. Nach anfänglicher Ignoranz konnte er in letzter Zeit immerhin ein grobes Interesse ausmachen. Und selbst im Fall herzlicher Abneigung, also bei einer offenen Konfrontation, habe jeder Tiger die Möglichkeit, sich im weitläufigen Gehege zurückzuziehen.

Für den umgekehrten Fall, das Ergebnis einer innigen Liebschaft, ist sowieso vorgesorgt. Im Innengehege sei ein Ruhebereich für die Tigerin vorgesehen, wohin sie sich nach ihrer Tragzeit von 95 bis 112 Tagen zurückziehen könne. In einer Box mit Kamera würden dann Tierpfleger und Tierarzt verfolgen können, was sich bei der werdenden Mutter tut. Für die Öffentlichkeit werde dieser Bereich gesperrt. Wichtig sei Ruhe, sagt Tobias Taraba.

Da Tiger in Gefangenschaft weniger Risiken eingehen müssen, um an Nahrung zu gelangen, haben sie mit 20 Jahren zwar eine höhere Lebenserwartung als in freier Wildbahn, sagt Michael Flügger.

Mehr als fünf Würfe seien bei Hagenbeck trotzdem unwahrscheinlich. Hochgerechnet würde das immerhin 15gesunde Sibirische Tiger ergeben. Für den Fortbestand der Art