Tausende Radfahrer traten am Freitagabend in Hamburg in die Pedale. Für mehr Sicherheit. Und mehr Beachtung. Jeden letzten Freitag im Monat gehören die Straßen der „Critical Mass“.
Hamburg. Wo sonst Autos das Bild bestimmen, machen sich die Radfahrer breit. Manche haben Hollandräder dabei, andere Rennräder, aus Boxen dröhnt laute Musik, ein kleiner blonder Junge im Messi-Trikot hat einen Fußball auf den Gepäckträger seines Kinderfahrrads geklemmt. Nach und nach steigen alle – Männer, Frauen, Kinder, Junge und Alte – auf die Räder und fahren. Es ist mal wieder „Critical Mass“ in Hamburg, rund 3300 Menschen sind laut Polizei an diesem Freitagabend zum Startpunkt am Manilaweg in der City Nord gekommen.
Eine von ihnen ist Anna Siegert. Die 21-Jährige trägt eine kurze Jeanshose, ein dunkles Shirt, einen schwarzen Fahrradhelm und eine große Umhängetasche. Sie hat ein grünes Stadtmountainbike, das sie „Lurchgurke“ nennt. Das Wetter, das diesmal nicht mitspielt, kann sie nicht vom Radfahren abhalten. Und auch nicht davon, sich bei der „Critical Mass“ für Gleichberechtigung der Radfahrer im Straßenverkehr einzusetzen: „Ich will zeigen: Es gibt mich, es gibt Tausende andere Radfahrer in Hamburg, und wir wollen gesehen und wahrgenommen werden.“
Autofahrer müssen warten, nicht immer tun sie das gerne
Die Teilnehmer von „Critical Mass“ berufen sich auf den Paragrafen 27 der Straßenverkehrsordnung. Demnach gilt eine Gruppe von mindestens 16 Radfahrern als geschlossener Verband – und damit als ein einziger Verkehrsteilnehmer. So können die Radler mehr Raum im Straßenverkehr einnehmen: Sie dürfen nebeneinander fahren und den anderen folgen, auch wenn die Ampel bereits auf Rot umgesprungen ist.
Autofahrer müssen warten, nicht immer tun sie das gerne. Besonders aufgebrachten Fahrern erklären einige der Polizisten, die die Kolonne begleiten, die ungewohnte Situation. Henner Depenbusch stört das Warten hingegen nicht. „Das ist eine super Sache. Und es ist ja Freitagabend“, sagt er, während die Zweiräder an ihm vorbei ziehen.
Anna kommt seit zwei Jahren zu der „kreativen Straßenprotestform“, wie die „Critical Mass“ auf der Hamburger Homepage beschrieben wird. Bis zu 5000 Radfahrer beteiligen sich jeden letzten Freitag im Monat an der größten Aktion dieser Art in Deutschland. Drei Stunden zieht die Kolonne quer durch die Hansestadt - durch Barmbek, Uhlenhorst, die Innenstadt bis nach Altona und über Eimsbüttel zurück zum Stadtpark nach Winterhude. Wo es langgeht, entscheiden die Radfahrer an der Spitze spontan.
Die Idee hat Tradition
Die Idee hat Tradition. 1992 zog die erste „Critical Mass“ durch San Francisco im US-Bundesstaat Kalifornien. 18 Jahre später sammelten sich freitagabends in Hamburg die ersten Radfahrer. Doch es dauerte, bis die die „Critical Mass“ in Europa zu einer Massenbewegung wurde. 2008 nahmen in Budapest 80.000 Radfahrer teil – die bislang größte Aktion weltweit.
In Hamburg gibt es nach Ansicht der „Critical Mass“-Teilnehmer noch einiges zu tun. Laut einer Studie des Allgemeinen Fahrradclubs Deutschland (ADFC) gehört die Hansestadt zur den fahrradunfreundlichsten Städten Deutschlands. Auch Annas Liste der Kritikpunkte ist lang: „Die Radwege sind größtenteils zu schmal, man kann selten überholen, die Wurzeln heben den Asphalt an, und die Wege sind oft hinter Gebüsch verdeckt, so dass abbiegende Autos mich übersehen.“ Im Herbst liegt Laub, im Winter Schnee auf den Wegen. Annas Urteil: „Die Fahrradwege sind Mist.“
Umso mehr genießt sie die abendliche Tour auf der Straße. Als die Kolonne über die Reeperbahn zieht, jubeln ihr Touristen und Hamburger zu. Nach 28 Kilometern, die Sonne geht gerade unter, ist im Stadtpark Schluss. Geschafft, aber glücklich trudeln die Teilnehmer ein und stemmen ihre Räder zum abschließenden „Bikeup“ in den Himmel. „Wir sind da, wir dürfen hier fahren und wir sind wichtig“, sagt Anna. „Es zählen nicht nur die Autofahrer.“