Die Pflegemutter kämpfte bei ihrer Aussage im Prozess gegen die Eltern der kleinen Yagmur immer wieder mit den Tränen. Sie hatte schon früher den Verdacht, dass das Mädchen misshandelt wurde.
Hamburg. Sie hat das Mädchen gewickelt, ihm das Fläschchen gegeben und vorgesungen: Für die Pflegemutter Inés M. war Yagmur, die mehr als zwei Jahre bei ihr lebte und mutmaßlich von ihrer leibliche Mutter totgeschlagen worden ist, wie eine eigene Tochter. Am Freitag sagte Inés M. im Prozess gegen Yagmurs Eltern aus, dass sie schon damals den Verdacht hatte, dass die Kleine misshandelt wird. „Aber Melek Y. hatte immer eine plausible Erklärung“, sagte die 44-Jährige.
Bei ihrer Aussage kämpfte Inés M. immer wieder mit den Tränen, sprach mit brüchiger Stimme. Den Blickkontakt zu den Angeklagten vermied sie. Melek Y. wird Mord aus Hass auf ihre Tochter vorgeworfen. Ihr Ehemann Hüseyin Y. soll tatenlos mitangesehen haben, wie seine Frau Yagmur über Monate immer wieder misshandelte. Am 18. Dezember 2013 starb die Dreijährige an den Folgen eines Leberrisses. „Ihr Tod hat mir das Herz gebrochen“, sagte Inés M. im Januar im Gespräch mit dem Abendblatt. Eine überraschende Neuigkeit zum Fall Yagmur wurde erst am Ende der Vernehmung von Inés M. in einem Nebensatz erwähnt. Der Richter wollte von der Zeugin wissen, ob Melek Y. ihre Schwester mal um Hilfe gebeten habe – diese arbeitet als Fachkraft in einem Hamburger Jugendamt. Beantworten konnte Inés M. die Frage nicht.
„Als Yagmur etwa ein Jahr alt war, kam sie häufig mit mehreren blauen Flecken nach Hause, wenn sie zuvor bei ihren Eltern war“, sagte Inés M. am letzten Prozesstag vor der Sommerpause. „Ein Mal war ihr halber Kopf blau.“ Melek Y. habe ihr jedoch erklärt, dass sie mit dem Kind auf dem Arm im Schwimmbad ausgerutscht sei. Ein anderes Mal habe ihr der Bruder ein Spielzeugauto ins Gesicht geschmissen, mal sei sie gegen ein Metallbett geknallt. Bei massiven blauen Flecken sei sie immer zum Kinderarzt gegangen und haben die Vorfälle dem Jugendamt gemeldet, gab Ines M. an, die von Yagmur „Mama“ genannt wurde.
Neben den blauen Flecken gab es auch andere Warnsignale
Die Kinderärztin habe für Misshandlungen typische Griffspuren an Yagmurs Oberarm und Oberschenkel festgestellt, berichtete die Zeugin. „In einem Hilfeplangespräch sind die Eltern verwarnt worden“, so Inés M. „Ihnen wurde gesagt, dass sie vorsichtiger mit Yagmur sein müssten, ansonsten gefährdeten sie die geplante Rückführung.“ Ihre Mutter habe sie damals noch gewarnt. „Sei nicht so gutgläubig, hat sie zu mir gesagt“, erinnerte sich die 44-Jährige. „Sie war der Meinung, dass solche Verletzungen bei einem so kleinen Kind nicht passieren dürften.“ Anfang des Jahres hatte Inés M. bereits berichtet, dass ihr auch eine Freundin geraten habe, die Vorfälle zu protokollieren und Fotos zu machen. „Aber ich dachte: Ich bin doch nicht von der Stasi“, sagte Inés M. damals.
Neben den blauen Flecken gab es auch andere Warnsignale. „Nach ein paar Monaten hatte ich den Eindruck, dass irgendetwas vorgefallen sein muss, weil Yagmur total hysterisch auf ihre Mutter reagierte“, sagte Inés M. „Sie hat geschrien und sich an mir festgehalten, wenn ihre Eltern sie abholen wollten.“ Auch in der Kita habe sich Yagmur gewehrt, wenn Melek und Hüseyin Y. sie mitnehmen wollten. „Das Jugendamt hat mir gesagt, diese schwierigen Übergaben seien normal. Weil wir ihre Familie, ihr Lebensmittelpunkt sind.“ Als der Richter die Zeugin fragte, ob Yagmur mal erfreut gewesen sei, wenn ihre Mutter sie abholte, weinte Inés M. erneut heftig und sagte: „Nicht, das ich mich erinnern könnte.“
Inés M. war vor Schluchzen kaum zu verstehen
Im Dezember 2012, als die Rückführung zu den leiblichen Eltern bereits seit zwei Monaten lief, spitzte sich die Situation zu. Als Yagmur nach einem mehrtägigen Besuch bei ihren Eltern nach Hause kam, habe sie apathisch gewirkt und nach Erbrochenem gerochen, sagte Inés M. Im Krankenhaus hätten die Ärzte jedoch nichts feststellen können. Am 6. Januar musste das Kind erneut ins Krankenhaus. „Es wurde eine Bauchspeicheldrüsenentzündung diagnostiziert“, sagte Inés M. Dass diese durch Gewalteinwirkung verursacht sein könnte, habe ihr damals niemand gesagt. Während des Klinikaufenthalts habe sie Hüseyin Y. als „sehr liebevoll und kreativ“ im Umgang mit seiner Tochter erlebt. Auch Melek Y. sei ihr liebevoll erschienen.
Als Inés M. am Freitag von ihrem letztem Zusammensein mit Yagmur berichtete, war die Frau mit den langen blonden Haaren vor Schluchzen kaum zu verstehen. „Vom Jugendamt gab es die Anweisung, dass wir uns am 11. Januar von Yagmur verabschieden sollten“, sagte sie. Dass es das letzte Mal sein würde, dass sie das kleine Mädchen im Arm hält, ahnte Inés M. damals nicht.
Als Yagmur Ende Januar unter anderem wegen schwerer Kopfverletzungen wieder im Krankenhaus behandelt werden musste, befürchtete Inés M., dass sie Schuld daran sein könnte. In einer E-Mail an Polizei und Jugendamt habe sie geschildert, dass sie Yagmur im Maxi-Cosi-Kindersitz stark geschüttelt habe. „Während der Rückführungsphase war ich fertig mit den Nerven und habe zwei Mal überreagiert“, erklärte Inés M. Monate später stellte sich jedoch heraus, dass ihre Schilderungen nicht zu den Verletzungen passten. Neben dem schlechten Gewissen, sie könnte verantwortlich sein, wollte Inés M. aber auch unbedingt verhindern, dass Yagmur im Kinderschutzhaus bleiben muss. „Ich wollte dafür kämpfen, dass sie dort raus kommt – zu mir oder zu ihren Eltern“, sagte sie.
Ihr Verhältnis zum Ehepaar Y. sei „ambivalent, aber durchaus freundschaftlich“ gewesen, sagte Inés M. dem Richter. „In den letzten drei Lebensmonaten von Yagmur war Melek Y. wesentlich netter zu mir als vorher.“ Kontakt hätten sie jedoch nur per Whats-App-Kommunikation gehabt. „Sie hat mir gesagt, dass es Yagmur sehr gut geht und hat mir Fotos und im November noch ein Video geschickt.“ Aber zu einem persönlichen Treffen sei es leider nicht gekommen. „Den Grund kann ich mir jetzt denken“, sagte Inés M. mit leiser Stimme. „Vielleicht sollte ich sie nicht sehen.