Vor 100 Jahren wurde neben Hagenbeck der riesige Hugo Haase Vergnügungspark eröffnet. Jan Haarmeyer über eine vergessene Hamburger Attraktion und einen Zufallsfund.

Als Rolf Niemeyer, 71, den Schatz entdeckte, war selbst er überwältigt. Plötzlich hielt der pensionierte Oberschulrat alte Postkarten in den Händen, auf denen eine gewaltige Wasserrutsche zu sehen ist. Rundherum eine Gebirgslandschaft, davor ein riesiges Wasserbecken und drum herum Menschenmassen. Auf einer anderen Karte ist ein monumentales Eingansportal zu sehen, davor ragen sechs Fahnenmasten in den Himmel. Über dem Eingangstor prangt in großen Buchstaben: Vergnügungspark Hugo Haase AG.

Rolf Niemeyer kam aus dem Staunen nicht heraus. Er hielt ein Stück Hamburger Geschichte in den Händen, von deren Existenz kaum noch jemand etwas wusste. Vor genau 100 Jahren wurde in Stellingen direkt neben Hagenbecks Tierpark ein riesiger Vergnügungspark eröffnet. „Von der Dimension her war er wohl vergleichbar mit Coney Island, dem damals größten zusammenhängenden Vergnügungspark der Welt in New York“, sagt Niemeyer.

Es ist der 19. Mai 1914. Um 17 Uhr setzt sich Fritz Wegner in die Straßenbahn, Linie 16, und fährt nach Stellingen. „Zur Eröffnungsfeier des HH.Vergnügungsparks“, wie er seinem Tagebuch anvertraut. Fritz ist 18 Jahre alt, Stift in einer Hamburger Im- und Exportfirma und einer von mehreren Hundert geladenen Gästen. Er trägt dunklen Anzug, Vatermörder, also einen offenen hohen Stehkragen, und Schlips. Er durchtanzt die Nacht „mit der lieben kleinen Elvira“ und nimmt „sämmtliche Attractionen in Anspruch“. Und davon gibt es in Stellingen so viele, dass das „Hamburger Fremdenblatt“ schwärmt, Hamburg habe „eine einzig dastehende Bereicherung seiner Sehenswürdigkeiten erhalten“.

Monumentaler Eingang

In der Tat sind es gewaltige Attraktionen, die sich den Besuchern ab dem 20. Mai täglich bis Mitternacht bieten. Die Menschen kommen zu Tausenden, um sich zu amüsieren. Sie steigen aus der Straßenbahn aus, die direkt vor dem Elefantentor hält, dem Haupteingang von Carl Hagenbecks Tierpark, der sieben Jahre vorher eröffnet worden ist. Von dort gehen sie nur 200 Meter bis zu Hugo Haases Vergnügungspark. „Eine mit Ornamenten reich geschmückte Pergola bildet den monumentalen Eingang“, schreibt das „Fremdenblatt“. Dieser liegt an der Kaiser-Friedrich-Straße, der heutigen Hagenbeckstraße.

Als Erstes erblicken die vergnügungswilligen Gäste die Wasserrutsche. Ein rollender Gehsteig bringt die Menschen an der Seite auf eine 33 Meter hohe Plattform. Auf der anderen Seite werden die Boote mit ihrem Bootsmann per Schleppseil hochgezogen. In der Mitte schießen sie dann mit den Besuchern in die Tiefe und landen in dem 75 mal 22 Meter großen Becken. „Gelegentlich geht ein kreischender Fahrgast über Bord und wird vom Bootsmann unter schadenfrohem Jubel der Besucher aus dem Wasser gefischt“, schreibt Rolf Niemeyer. Er hat über den Stellinger Vergnügungspark eine 30-seitige Broschüre herausgegeben, die von der Hamburger Grafikerin Harriet Armbrust liebevoll gestaltet worden ist.

Neben der Wasserrutsche stehen auf beiden Seiten zwei große Beleuchtungstürme, die Kuppeln tragen mehrere Hundert Glühlampen, unter der Platte hängen starke Scheinwerfer. „Diese und vier weitere Beleuchtungstürme bieten mit einsetzender Dunkelheit ein wahrhaft märchenhaftes Bild“, schreibt Niemeyer. Es gibt in dem Park eine Seilbahn, mit der die Gäste auf einen 25 Meter hohen Hügel gelangen. Dort oben bietet ein Restaurant Ausblick auf das gesamte Gelände. In einem lebenden Irrgarten können sich die Besucher verlaufen, auf einer Wellenbahn, dem Vorläufer der Auto-Scooter, können sie ihre Fahrkünste austesten.

Ein Zuschauer-Magnet ist die „Riesen-Gebirgsbahn“. Laut Hugo Haase die größte aller bisher gebauten Szeneriebahnen. Sechs Züge mit offenen Waggons rattern über eine 1,5 Kilometer lange Strecke. Über Brücken und Viadukte, durch Tunnel und Unterführungen. „Auf die Sicherheit dieses Wunderwerks der Technik ist größte Sorgfalt verwendet worden“, so das „Fremdenblatt“. Vom Gebirge kann man sich in einem Kahn auf dem 700 Meter langen Grottenbach ins Tal befördern lassen. Er fließt durch eine Tropfsteinhöhle, ein Eismeerpanorama und durch Stollen mit Aquarien und Terrarien.

Zufällige Entdeckung

Im Grunde ist es Zufall, dass Rolf Niemeyer den Stellinger Vergnügungspark entdeckt hat. Der Hamburger ist im Hagenbeck-Archiv auf die Postkarten gestoßen, für die sich so recht keiner mehr interessiert hat. Niemeyer hat in den alten Unterlagen gewühlt, und wenn er recherchiert, dann tut er das äußerst gründlich. Er gräbt sich durch Zeitungsartikel, befragt Zeitzeugen und klettert sogar auf Dachböden, um Dinge herauszufinden, die eben noch nicht in jedem Geschichtsbuch stehen. So entdeckte er bei der Tochter von Fritz Wegner in der Heide auch die Tagebücher ihres Vaters.

Andererseits: Wer, wenn nicht Rolf Niemeyer, hätte den Stellinger Vergnügungspark mit Achterbahn und Bierzelt, Palais de Dance und Kegelbahnen wiederentdecken sollen? „Mein Vater war lange Pressechef bei Hagenbeck. Ich bin im Tierpark groß geworden.“ Und so fand er auch heraus, dass es finanzielle Gründe waren, die Heinrich Hagenbeck veranlassten, einen Teil seines Geländes an Hugo Haase, den damaligen Karussell-König und größten deutschen Schausteller, zu verpachten.

Nur acht Jahre später, am 31. März 1922, wurde der Park geschlossen. „Die nach dem Krieg einsetzende Hyperinflation“, so Niemeyer, „hatte zur Folge, dass die Besucherzahlen der beiden kooperierenden Stellinger Unternehmen trotz Sonderveranstaltungen und intensivierter Werbung mehr und mehr zurückgingen.“ Während der Tierpark zwei Jahre später wiedereröffnet wird, ist das Vergnügen auf dem Gelände nebenan buchstäblich eine Nummer kleiner: Statt Fahrten mit der Gebirgsbahn in 30 Meter Höhe finden hier fortan Kinderfeste statt.