Das neue Säugetiergutachten geht Zoodirektoren in vielen Punkten zu weit – und Tierschützern nicht weit genug. Vor allem der Platzbedarf für viele Tiere wurde neu bewertet.
Berlin/Hamburg Ein Leben wie in freier Wildbahn kann ein Zoo nicht bieten. Aber die Tiere sollen sich auch in Gefangenschaft so wohl wie möglich fühlen. So steht es im Tierschutzgesetz. Und deshalb hat die Bundesregierung die „Mindestanforderungen an die Haltung von Säugetieren“ komplett überarbeiten lassen. Dieses kurz Säugetiergutachten genannte Regelwerk hat Maria Flachsbarth (CDU), Staatssekretärin im Bundeslandwirtschaftsministerium, am Mittwoch in Berlin vorgestellt.
Das Säugetiergutachten beschreibt, wie der Tierschutz künftig in der Praxis umzusetzen ist. Vor allem der Platzbedarf für viele Tiere wurde neu bewertet. So soll das Gehege für ein Eisbären-Paar künftig mindestens 400 Quadratmeter groß sein, was doppelt so viel ist, wie bislang für notwendig erachtet wurde. Auch die Empfehlungen für Giraffen wurden verschärft. Statt bislang 500 Quadratmeter für sechs Tiere sollen es nun 1000 Quadratmeter für vier Tiere sein. „Zoos sind mehr als eine Ausstellung lebender Tiere“, sagte Flachsbarth. Zoos seien vor allem auch Lernorte. Und tiergerecht gehaltene Zootiere würden bei den Besuchern das Bewusstsein für deren Schutzbedürftigkeit schärfen.
Das alte Säugetiergutachten von 1996 hatte einen Umfang von gerade einmal 72 Seiten. Die neue Fassung ist mit knapp 300 Seiten sehr viel umfassender. Sie enthält erstmals ein Kapitel mit allgemeinen Grundsätzen, etwa was die Ausgestaltung der Gehege betrifft. So soll der Boden so beschaffen sein, dass sich Tiere „artgerecht“ bewegen können. Badebecken müssen regelmäßig gereinigt, Stallungen mit ausreichend Frischluft versorgt werden. Ausdrücklich erlaubt ist es, im Einzelfall und als letztes Mittel der Wahl überzählige Zootiere zu töten und an Raubtiere zu verfüttern. Damit sich Tiere im Zoo nicht langweilen, soll die Fütterung auf die jeweilige Art abgestimmt und die Nahrungsaufnahme möglichst mit einer „arttypischen Beschäftigung“ verbunden sein. Was für Schimpansen oder Orang-Utans bedeutet, dass ihr Futter teilweise versteckt wird.
Allerdings können Verstöße gegen die Empfehlungen nach wie vor nicht geahndet werden. Das Gutachten ist lediglich als Empfehlung und nicht als verbindliche Vorschrift formuliert. Insgesamt drei Jahre hatten Vertreter von Tierschutzorganisationen und Zooverbänden sowie unabhängige Sachverständige über die neuen Anforderungen zur Haltung von Zootieren beraten. Vom Ameisenbär bis zum Zwergböckchen haben sie für die einzelnen Tierarten detaillierte Anforderungen formuliert. Koalas brauchen in ihren Außengehegen ausreichend Schattenplätze. Kamele dagegen kommen nicht ohne trockene und sonnige Liegeplätze aus.
Großkatzen wie Löwe, Puma und Gepard müssen ausreichend „geruchliche Reize“ geboten werden, etwa Kot von verschiedenen Huftieren. Bei Elefanten ist darauf zu achten, dass bei Minusgraden keine Erfrierungen an Rüssel und Ohrspitzen auftreten. Dass es dieses neue Gutachten überhaupt gibt, ist bereits ein Erfolg.
Lange Zeit war es fraglich, ob sich Tierschützer und Zoodirektoren auf eine gemeinsame Neufassung verständigen würden. Die Verhandlungen waren zeitweise so verfahren, dass sich die Beteiligten zuletzt nicht mehr öffentlich zu den Details äußern wollten, um die weiteren Gespräche nicht zu gefährden. Noch bei der Vorstellung des am Ende doch noch gefundenen Kompromisses war deutlich zu spüren, wie weit die Vorstellungen auseinanderliegen. Tierschützern gehen die Mindestanforderungen nicht weit genug. Zoos dagegen wollen sich ungern zu detaillierte Vorgaben machen lassen.
In Deutschland gibt es rund 400 zoologische Gärten oder ähnliche Gehege und Parks. Die rund 50 größten Zoos sind im Verband deutscher Zoodirektoren (VDZ) zusammengeschlossen. VDZ-Präsident Theo Pagel, Direktor des Kölner Zoos, kritisierte, dass die verschärften Anforderungen im Gutachten nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierten, sondern lediglich eine Kompromissentscheidung seien. Er und seine Kollegen fühlten sich seit Jahrzehnten dem Tierschutz verpflichtet und sie wüssten, was für ihre Tiere gut sei.
James Brückner vom Deutschen Tierschutzverbund dagegen hält die Anforderungen für sogenannte Flaggschiffarten wie Eisbären, Delfinen und Menschenaffen, die bei den Zoobesuchern besonders beliebt sind, nicht für ausreichend. In einem sogenannten Differenzprotokoll zum Gutachten lehnen die Tierschützer die Haltung dieser Tiere im Zoo sogar grundsätzlich ab. Auch die Vertreter der Zooverbände haben in einem solchen Differenzprotokoll ihren Unmut formuliert. Sie bemängeln unter anderem, dass mehr als 100 ihrer Anträge, sie sie im Rahmen des Anhörungsverfahrens eingebracht hatten, nicht berücksichtigt wurden. Zudem fordern sie, dass sich der Anwendungsbereich des Gutachtens nicht nur auf Tiere in Zoos beschränkt. Auch private Halter von kleinen Säugetieren sollten sich daran halten und damit die Anforderungen an den Tierschutz erfüllen müssen.
Colin Goldner, Leiter der deutschen Sektion des „Great Ape Projects“, das Menschenrechte auch für Menschenaffen fordert, kritisiert gerade die Haltungsbedingungen von Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans als „katastrophal“. In den vergangenen zwei Jahren hat er sich alle 38 deutschen Zoos, die Menschenaffen halten, angeschaut. Das neue Säugetiergutachten sieht für Orang-Utans vor, dass mindestens zwei Innengehege und ein Außengehege zur Verfügung stehen müssen, die miteinander so verbunden sind, dass ein Rundlauf möglich ist.
Das 2004 bei Hagenbeck fertiggestellte Orang-Utan-Haus würde dem nicht entsprechen – hier wird das 350 Quadratmeter große Innengehege durch das Aufschieben der Dachkuppel zum Außengehege gemacht. Die Tierparkleitung wollte sich zu dem Säugetiergutachten und möglichen Auswirkungen auf den Hamburger Tierpark nicht äußern.