Elf Tage vor Start der Weltmeisterschaft: Brasilien wartet auf wirklich gute Nachrichten
Es gibt sie also doch noch: die guten Nachrichten aus Brasilien. 88 Prozent der Bewohner Rio de Janeiros werden sich nicht an den Protesten und Demonstrationen gegen die Weltmeisterschaft beteiligen. Und noch besser: Sie alle wollen die WM-Spiele sehen. Diese Nachricht war „O Globo“, der größten brasilianischen Tageszeitung, am Sonntag gar die Schlagzeile auf der Titelseite wert. Es ist wohl der verzweifelte Versuch, elf Tage vor Start der 20. Weltmeisterschaft doch noch ein wenig positive Stimmung am Zuckerhut zu verbreiten. Zumindest um poucinho, wie man in Brasilien zu sagen pflegt.
Die Wirklichkeit ist natürlich eine andere. Ausgerechnet im Land des Fußballs spielt futebol so kurz vor dem Anstoß nur noch eine Nebenrolle. Es wird gestreikt und demonstriert. Möglicherweise werden tatsächlich 88 Prozent der Leute die Fußballspiele im Fernsehen verfolgen. Die Brasilianer sind eben Fußballfans. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass mehr als die Hälfte von ihnen nicht mehr von einer WM im eigenen Land überzeugt sind. Viele Brasilianer verstehen einfach nicht, warum 2,6 Milliarden Euro für zwölf Stadien ausgegeben wurden, obwohl es noch immer 13 Millionen Brasilianer gibt, die nicht genug zu essen haben. Sie verstehen nicht, warum für die Gesamtausgaben von 8,4 Milliarden Euro 80 Prozent Steuergelder herhalten mussten, obwohl das Gegenteil angekündigt worden war. Und sie verstehen nicht, warum nicht mehr Geld in Bildung, Infrastruktur und Gesundheitssystem gesteckt wird.
Es ist auch unbegreiflich.
Natürlich war der Jubel groß, als sich die Fifa 2007 für Brasilien als Ausrichter der WM entschieden hatte. Doch der Kater nach der damaligen Feier ist nun umso heftiger. Während die Nationalmannschaft noch immer als großer Favorit in das Turnier geht, scheint Brasiliens ambitioniertes Ziel, sich endlich als Erste-Welt-Land zu präsentieren, schon vor dem Auftaktspiel der Seleção gegen Kroatien am 12. Juni gescheitert. Die Probleme des Landes, das nach der Jahrtausendwende eine Entwicklung auf der Überholspur machte, sind offensichtlich. Und zum großen Ärger der Regierung und der Fifa wollen die Brasilianer, die vom Turbo-Aufschwung nur wenig bis gar nicht profitierten, diese Probleme nun nicht mehr so einfach hinnehmen.
Auf was für eine copa do mundo muss sich die Welt also gefasst machen? Klar ist jedenfalls, dass weder Superstar Neymar noch Trainerguru Felipão Scolari die Probleme Brasiliens lösen können, auch wenn das manch einer hoffen mag. Natürlich wird der Fußball, sobald er erst mal rollt, in der Wahrnehmung schnell eine Hauptrolle einnehmen. Doch genauso selbstverständlich werden Bilder von Busblockaden sein, von kleinen und großen Demonstrationen. Ausgerechnet die angeblich so unpolitischen Brasilianer politisieren nun ihr liebstes Kind: den Fußball.
Und es ist gut, dass sie das Scheinwerferlicht nutzen.
Jedenfalls meistens. WM-Botschafter Ronaldo (der moppelige Brasilianer, nicht der waschbrettbäuchige Portugiese) hat nun eine ganz eigene Idee, wie man mit den Protesten umzugehen hat. Was er über die Demonstranten denke?, wurde der frühere Nationalstürmer in der vergangenen Woche gefragt. Seine Antwort, die auf deutlich zu viele Kopfbälle während seiner Profikarriere schließen lässt: „Mit dem Knüppel draufschlagen und runter von der Straße.“ Ronaldos Meinung, die offenbar auch von Teilen der Regierung und der Militärpolizei geteilt wird, ist ein klassisches Eigentor.
Und trotzdem: Man darf sich natürlich auf diese Weltmeisterschaft freuen. Auch als Brasilianer. Aber wichtiger als das Endspiel am 13. Juli im Maracanã wird das sein, was nach der WM in diesem großartigen Land passiert. Und sollte durch die Weltmeisterschaft ein Umdenken stattfinden, sollte die Regierung die Sorgen der Bevölkerung so ernst nehmen wie die Vorgaben der Fifa, dann wäre das noch viel mehr wert als der ersehnte sechste WM-Titel. Und das wäre dann: eine wirklich gute Nachricht.