Nach den Demonstrationen steht der WM-Gastgeber noch mehr unter Erfolgsdruck
Teresópolis. Das Tor zum brasilianischen Utopia ist gelb-grün geschmückt. Rechts grinst ein überdimensional großer Zeichentrick-Neymar, links strahlt ein Comic-Pelé und in der Mitte streckt eine Cafú-Karikatur den WM-Pokal in die Höhe. „Teresópolis – Casa da Seleção“, die Heimat der Nationalmannschaft, steht über dem umgestalteten Eingangstor, durch das jeder Besucher des 150.000-Einwohner-Städchens in der Serra dos Orgãos muss. Die Häuser sind mit kleinen Fähnchen verziert, über den Straßen hängt gelb-grüner Lametta und an jedem Laternenpfahl lacht ein weiterer Comic-Nationalspieler. Gerade mal 90 Kilometer von Rio de Janeiros WM-Endspielstadion Maracanã entfernt und 870 Meter über dem Meeresspiegel scheint die brasilianische Fußballwelt in Teresópolis anderthalb Wochen vor dem Eröffnungsspiel noch in Ordnung.
Seit einer Woche trainiert die Seleção in Granja Comary, dem schon historischen Zentrum der brasilianischen Nationalmannschaft. Der 8500 Quadratmeter große Bungalowkomplex der Fußballer liegt auf einem kleinen Hügel, am Fuß ein idyllischer See, daneben akkurat geschnittene Trainingsplätze. Bei gutem Wetter ist sogar der Dedo de Deus, der Finger Gottes, zu sehen. Der 1692 Meter hohe Felsen am Rande der Stadt ist das Lieblingsmotiv der Touristen. Und der steinerne Finger zeigt an, wohin auch der Weg der brasilianischen Nationalmannschaft führen soll: nach oben. „Wir wollen Weltmeister werden. Und hier können wir uns optimal darauf vorbereiten“, sagt Carlos Alberto Parreira, nur wenige Stunden nachdem die Mission Mundial am vergangenen Montag begonnen wurde.
Parreira, 71, sitzt auf dem Podium des Medienzelts, das der Verband für 800 akkreditierte Journalisten hat aufstellen lassen. Sechsmal hat der Grand Seigneur der Seleção als Trainer an einer WM teilgenommen, diesmal wird er als Technischer Direktor Nationaltrainer Felipão Scolari unterstützen. Jetzt will er vor allem eines: über Fußball reden. Parreira lobt Thiago Silva und David Luis als die „teuerste Innenverteidigung der Welt“, er spricht von Qualität, „die im internationalen Fußball respektiert wird“. Und Superstar Neymar sei bereits in Topform. Das Problem: Kaum einer der Medienvertreter will mit dem „Professor“, wie Parreira von den Nationalspielern ehrfürchtig genannt wird, über Fußball reden.
Was er denn zu den Protesten am Flughafenhotel sagt, will einer der Journalisten wissen, der am Morgen dabei war, als mehr als 200 Demonstranten die Abfahrt der brasilianischen Nationalmannschaft ins beschauliche Teresóplis verzögert hatten. Es waren Lehrer und Professoren, die sich mit ihren Plakaten vor den Bus stellten und sich auch nicht von der herbeigerufenen Militärpolizei verscheuchen ließen. In Deutschland erinnert man sich gerne an die Bilder vom Sommermärchen, als 2006 die Menschen den vorbeifahrenden Nationalspielern zujubelten. Acht Jahre später sind es die Bilder von wütenden Demonstranten, die für eine bessere Bildung protestieren und mit den Fäusten gegen den Bus hämmern, die um die Welt gehen. In Rio war es das Gesprächsthema des Tages.
Nur Parreira will darüber nicht sprechen. Der Nationalmannschaftsveteran zieht die Augen zu kleinen Sehschlitzen zusammen und funkelt den Fragesteller an. „Es gab da eine kleine Demonstration“, sagt er, „50 Leute müssen das wohl gewesen sein.“ Aber niemand habe doch im Ernst etwas gegen die Seleção. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass das ganze brasilianische Volk bei der WM hinter uns stehen wird. Als unser zwölfter Mann“, sagt er, und ergänzt noch, dass er den Rest des Weges bis nach Teresópolis keinen einzigen Protestler mehr gesehen habe: „Nur noch applaudierende Fans.“
Dabei hat Parreira, der in Brasilien grundsätzlich recht hat, in diesem Fall recht und unrecht zugleich. Noch immer ist Brasilien ein Fußballland, besser: das Fußballland. Fünfmal wurde die Seleção Weltmeister, keine Nation exportiert so viele hochklassige Kicker in die ganze Welt, und natürlich war der Jubel groß, als die Fifa 2007 entschieden hatte, dass nach 1950 zum zweiten Mal am Zuckerhut eine WM ausgetragen werden soll. Doch von der Euphorie ist außerhalb Teresópolis, dem Zuhause der Seleção, nach knapp sieben Jahren voller Probleme, Pannen und Protesten kaum noch etwas übrig geblieben.
Mehr als die Hälfte der Befragten einer aktuellen Umfrage des brasilianischen Meinungsforschungsinstituts Detafolha sind sich nicht sicher, ob diese 8,4 Milliarden Euro teure Heim-WM wirklich eine so tolle Idee war. Täglich wird in den zwölf WM-Städten gegen die miserable Situation im öffentlichen Nahverkehr, die offensichtlichen Mängel im Bildungs- und Gesundheitswesen und gegen die Verschwendung von Steuergeldern demonstriert. So wurden 2,6 Milliarden Euro Steuergelder in den Bau der WM-Arenen gesteckt, die zum Teil nicht einmal rechtzeitig fertig wurden. Und das sollen die Menschen jetzt auch noch feiern?
Sie sollen. Das findet zumindest Staatspräsidentin Dilma Rousseff, die nach dem Vorfall um den brasilianischen Bus eilig sämtliche Sicherheitsvorkehrungen rund um die nach und nach eintreffenden Nationalteams verstärken ließ. „Es gibt nichts, wofür man sich schämen muss“, sagt sie. Sie sei stolz auf das Erreichte und natürlich werde Brasilien die „Weltmeisterschaft aller Weltmeisterschaften“ austragen. Voraussetzung hierfür ist, und das sagt Rousseff nicht, dass vor allem die Seleção begeistert. Denn eilt die Nationalmannschaft erst einmal von Sieg zu Sieg, darauf setzen Politiker und WM-Organisatoren gleichermaßen, dann dürfte der Funke eben doch noch überspringen.
Wohl selten zuvor war ein WM-Gastgeber unter einem derart großen Erfolgsdruck wie Brasilien. Marschiert die Seleção bis zum Finale durch, dann dürften tatsächlich jubelnde und tanzende Menschen in gelben Trikots an der Copacabana, in Ipanema oder an den Stränden Bahias für den gewünschten Imageeffekt sorgen. Es ist, da ist man sich in Rio de Janeiro und in São Paulo ausnahmsweise mal einig, wahrscheinlich die einzige Chance, aus der Copa 2014 doch noch eine echte Erfolgsgeschichte zu machen. Dabei ist es nicht das erste Mal, dass eine WM politisiert wird. Auch in Argentinien (1978) wurde der Fußball instrumentalisiert. Anders als das Ausrichterland damals ist Brasilien zwar keine Diktatur, die von ihren Menschenrechtsverletzungen ablenken will, aber als Abwechslung zu herrschenden Missständen wäre die WM durchaus geeignet. Ein erfolgreiches Turnier der Seleção vorausgesetzt.
„Ich spiele nicht gegen den Druck, sondern für einen Traum“, sagt Júlio César, der es als Torwart gewohnt ist, in kritischen Momenten geschickt abzuwehren. Der 1,86 Meter große Keeper kann herzlich lachen, aber bei einer falschen Frage ähnlich wie Professor Parreira auch sehr böse gucken. César ist einer von drei brasilianischen Torhütern der Nationalmannschaftsgeschichte, der bereits zum zweiten Mal in Folge als Nummer eins in ein Turnier geht. 2010 bei der WM in Südafrika enttäuschten er und seine Kollegen beim Viertelfinalaus gegen den späteren Vizeweltmeister Niederlande, jetzt soll der Titel her. Oder besser: Er muss her.
„Wir sind der Favorit“, sagt Parreira, der es wissen muss. Zuletzt bereitete der Professor 1994 das brasilianische Team als Nationaltrainer in Teresópolis, im „Casa da Seleção“, auf die WM in den USA vor. Und den Titel damals holte – Brasilien.
Verfolgen Sie im Internet den täglichen WM-Bog Kai-Pirinha von Kai Schiller aus Brasilien unter abendblatt.de/wmblog