Die Wohnungsbauoffensive des Senats verändert das Bild der Stadt – nicht zum Besseren, so Experten. Der schnelle Bau neuer Wohnungen dürfte darüber hinaus auch zu Konflikten mit dem Naturschutz führen.

Hamburg. Sie ziehen sich kilometerweit an Bächen entlang und schützen Marschen, Geesten oder Moore vor tiefen Eingriffen des Menschen. Die insgesamt 35 Hamburger Landschaftsschutzgebiete sollen „Kulturlandschaften mit ihren regionaltypischen Besonderheiten, Landschaftsbildern und Funktionen für den Naturhaushalt“ erhalten, heißt es auf den Internetseiten des Senats. Rund 20 Prozent der Hamburger Fläche sind auf diese Weise geschützt. Das allerdings könnte sich womöglich schon bald ändern. Denn der dringend nötige Wohnungsbau braucht Flächen.

Der Landschaftsschutz könne an einigen Stellen zurückgenommen werden, ließ Volker Dumann, Sprecher der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt, kürzlich wissen. Da so gut wie alle großen Freiflächen in Hamburg unter Schutz stünden, sei davon auszugehen, dass einzelne Bereiche „aus den Landschaftsschutzgebieten entlassen werden, um bauliche Entwicklung zu ermöglichen“. Ja, es könne sein, „dass das Landschaftsprogramm teilweise bereinigt wird“, bestätigte sein Sprecherkollege Magnus-Sebastian Kutz. Große Landschaftsschutzgebiete gibt es beispielsweise in Niendorf entlang der Kollau.

Der SPD-Senat hat sich zum Ziel gesetzt, jedes Jahr 6000 Wohnungen zu bauen – und „nie wieder damit aufzuhören“, wie Bürgermeister Olaf Scholz gern sagt. Mit seinem ehrgeizigen Wohnungsbauprogramm, das die Wohnungsnot eindämmen und Mieten erschwinglich machen soll, setzt er bundesweit Maßstäbe. Allerdings: Wenn in 20 Jahren in Hamburg 120.000 Wohnungen entstehen werden, dann wird es nicht ausreichen, hier und da Baulücken zu füllen oder ein paar Brachflächen zu bebauen. Auch die frei werdenden Konversionsflächen von Bahn und Bundeswehr bieten nicht genug Platz für dieses gewaltige Volumen. Wer 120.000 Wohnungen errichten will, benötigt riesige Areale.

Der schnelle Bau neuer Wohnungen dürfte aber nicht nur zu Konflikten mit dem Naturschutz führen. Auch das Gesicht der Stadt verändert sich, wenn an vielen Stellen Grünflächen bebaut, überall aufgestockt und nachverdichtet wird – und nicht nur zum positiven. Professor Jörg Knieling, Leiter des Fachgebiets Stadtplanung und Regionalentwicklung an der HafenCity Universität, findet es „fraglich, ob jede Fläche, die bebaut werden kann, auch wirklich bebaut werden sollte“.

Als Beispiel nennt er Kleingärten. Zwar dürfe es nicht für jeden Kleingarten Bestandsschutz geben, sie seien aber eine wichtige Ergänzung zum Geschosswohnungsbau und sollten – nach Möglichkeit – erhalten bleiben. „In manchen bereits stark verdichteten Innenstadtvierteln wie etwa St. Georg stellt sich zudem die Frage, ob weitere Grünflächen überbaut werden sollen“, sagt der Wissenschaftler. Zwar sei Hamburg eine sehr grüne Stadt, es gebe deshalb schon noch Möglichkeiten zur Nachverdichtung, aber in einigen Vierteln müsse man damit behutsam umgehen – „damit die grüne Lebensqualität erhalten bleibt“.

Angesichts wachsenden Widerstands gegen bestimmte Bauprojekte sei es wichtig, darauf zu achten, dass es nicht zu einer Proteststimmung komme, weil das Gefühl um sich greife, die Belange des Wohnungsbaus hätten absoluten Vorrang. Denn das Ziel, mehr Wohnungen zu bauen, damit die Preise akzeptabel bleiben, so der Stadtplanungsexperte, sei richtig.

Knieling schlägt vor, dass sich Hamburg nicht als Stadt um Wachstum bemühen würde, sondern als Metropolregion insgesamt. „Es wäre konfliktfreier, wenn der durchaus erforderliche Wohnungsbau im engen Dialog mit den schleswig-holsteinischen, niedersächsischen und mecklenburgischen Nachbarn erfolgen würde und nicht Hamburg auf Biegen und Brechen allein zwei Millionen Einwohner zu erreichen versuchen würde.“

Denn mit ihrer extremen Angebotspolitik ziehe die Hansestadt Menschen aus den ländlichen Kommunen in die Stadt hinein. Manche Landstriche hätten als Folge mit Entvölkerung zu kämpfen. Knieling beschreibt dies als „Kannibalisierung durch den Wohnungsbau der Städte“. Das sei zwar aus der Hamburger Steuerlogik heraus verständlich, doch könnte dies durch Änderungen beim Länderfinanzausgleich aufgefangen werden.

Schon jetzt erhält Hamburg als Oberzentrum Ausgleichzahlungen für die Bereitstellung von Leistungen beispielsweise in der Kultur und der Gesundheitsversorgung. Das kleine Häuschen im Grünen, das sich viele wünschen, sei ohnehin eine Wohnform, die eine verdichtete Großstadt wie Hamburg nicht unbegrenzt vorhalten könne, weil die Flächen dabei zu wenig intensiv genutzt würden.

Die Risiken, die darin liegen, dass in sehr schneller Zeit sehr viele Wohnungen gebaut werden, sieht auch der Kunst- und Architekturhistoriker Helmut Hipp, emeritierter Professor an der Universität Hamburg – auch wenn er die Wohnungsbauoffensive des Senats sehr unterstützt. „Sie ist richtig und dringend notwendig“, sagt er. Die Hansestadt brauche unbedingt viele neue Wohnungen, damit der Markt wieder funktioniere.

Aber: „Wenn man blindlings überall Wohnungen baut und bei der Planung schnell vorangeht, dann passieren auch Fehler“, sagt der Experte und Verfasser des Standardwerks „Wohnstadt Hamburg“. „Ich würde mir wünschen, dass mehr dieser Fehler vermieden würden.“

Als Beispiel nennt er die Bebauung, die jetzt am Stintfang beschlossen wurde auf dem Hang mit dem Senatsweinberg unterhalb der Jugendherberge. Sie sei in höchstem Maße ärgerlich. „Es kann doch nicht sein, dass eine Stadt eine wertvolle Grünfläche mit erstklassigem Blick auf Hafen und HafenCity, die ausgerechnet auch noch im städtischen Besitz ist, ohne Ausschreibung an einen Investor verkauft, der hochpreisige Wohnungen bauen will“, sagt Hipp. Wer so etwas mache, habe nicht nachgedacht. „Diesen Fehler zurückzunehmen, wäre ein eindrucksvolles Signal, das viele Bürger honorieren würden.“

Ingesamt habe eine so gigantische Wohnungsbauanstrengung, wie der Senat sie unternehme, zur Folge, dass sich das Bild der Stadt verändere. „Es wird dichter – und das muss man leider auch sagen – vielfach weniger schön“, so Hipp. Das erlebe er beispielsweise in Volksdorf.

Das seit 100 Jahren gewachsene Einfamilienhaus-Gebiet werde derzeit stark nachverdichtet; schöne große Grundstücke, auf denen bislang ein Haus gestanden habe, würden kompakter und dichter mit Mehrfamilienhäusern bebaut. „Die Architektur, die dabei zum Einsatz kommt, ist nicht immer adäquat. Sie nimmt wenig Rücksicht in die benachbarte Bebauung und tritt mit ihr nicht in den Dialog. Die Baukultur könnte sehr viel besser sein“, sagt Hipp.

Er plädiert dafür, sich mehr Mühe zu geben: „Generell darf es nicht heißen ,Augen zu und durch‘, sondern vielmehr ,Augen auf und anstrengen‘“, sagt der Experte. Er ist überzeugt: „Wenn man mehr von den Architekten verlangen würde, käme Besseres heraus. Die Stadt könnte mehr verlangen, tut es aber nicht.“ Dies sei kein speziell Hamburger Versäumnis, sondern liege am Neoliberalismus, der zunehmend alles durchdringe.

Wenn sich der Staat als gestaltende Kraft zurückziehe und zugleich eine Massenproduktion in Gang setze, dann komme es zu Konflikten. „Früher gab es eine sehr viel strengere Bauordnung, sehr viel explizitere Baupflege, es gab Menschen in den Verwaltungen, deren Aufgabe es war, aufzupassen. Das wurde in den vergangenen 20 Jahren alles abgeschafft – in dem falschen Glauben, dass der Markt alles regele. Das tut er aber nicht. Da muss man sich einschalten, als Politik, aber auch als Bürger.“

Ex-Oberbaudirektor Egbert Kossak hat bereits 2012 davor gewarnt, dass Hamburg seine Identität verliere, weil die Gestaltung der Stadt der Immobilienwirtschaft überlassen werde. Eine gute Städtebaupolitik müsse dem sozialen Zusammenhalt gerecht werden, ökologisch vertretbar sein und Freiräume lassen für zukünftige Entwicklungen – wo auch in zehn Jahren weitergebaut werden kann.

Auch der SPD-Senat hat das Problem erkannt. So hat die Stadtentwicklungsbehörde Ende 2013 eine Fachkonferenz veranstaltet sowie zwei Gutachten erstellen lasse, in denen es darum geht, wie „mehr urbane Qualitäten für Wohnen und Freiraum in den Quartieren gewonnen werden können“.

Das Papier „Mehr Stadt in der Stadt. Gemeinsam zu mehr Freiraumqualität in Hamburg“ bietet konkrete Leitlinien, wie beispielsweise in einer stärker verdichteten Stadt Dachflächen, Verkehrsräume, Schulhöfe, Sportflächen und Wohnhöfe für Erholung genutzt werden können. Grünen und CDU reicht das nicht. Sie fordern ein übergreifendes Konzept für die Stadtentwicklung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten, in dem es auch um den Schutz der Grünflächen geht. Die Antwort aus SPD und Senat: Schwarz-Grün selbst habe auch kein Konzept vorgestellt und dazu noch beim Wohnungsbau versagt. Man werde „theoretische Stadtplanungsdiskussionen ohne Umsetzungsperspektiven nicht verfolgen“, so SPD-Stadtentwicklungspolitiker Dirk Kienscherf.

Für Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) geht es beim Wohnungsbau um eine gleichmäßige Belastung, gerechte Verteilung und gute Durchmischung innerhalb der Stadt. „Zu einer lebenswerten Stadt gehört, dass es für Stadtteile keine Grenzen nach Einkommensgruppen gibt. Wir wollen Hamburg als sozial gemischte Stadt erhalten“, sagt Scholz. „Das ist eine wichtige Aufgabe.“

Ein Beitrag dazu sei es, „dass wir auch wieder auf den sozialen Wohnungsbau setzen“. Deshalb soll bei großen Neubauvorhaben immer ein Drittel der Wohnungen Sozialwohnungen sein, so Scholz. „Und diese sind nicht an einem Ort konzentriert, wie man es aus früheren Zeiten kennt, sondern über die ganze Stadt verteilt.“

Heute um 21.45 Uhr diskutiert Jens Meyer-Wellmann in der „Hamburger Presserunde“ bei Hamburg 1 das Thema „Hamburg 2030 – wie wollen wir leben?“ mit seinen Gästen Stadtforscher Dieter Läpple, Charlotte Parnack (ZEIT), Oliver Schirg (Abendblatt) und Gernot Knödler (taz).