Sein Ruf hallt Björn Engholm bis heute nach. Nun bestimmt aber nicht mehr die Politik sein Leben, sondern die Kunst. Er spricht über Willy Brandt, parteiinternes Stühlesägen und richtige Linke.

Er war nur fünf Jahre lang Ministerpräsident von Schleswig-Holstein und nur zwei Jahre lang SPD-Vorsitzender, aber Björn Engholms Ruf hallt bis heute nach, seine Ansichten finden großes Gehör. Vielleicht, weil er bei vielen Hoffnungen geweckt hatte, die sich dann doch nicht einlösen ließen – nach der Barschel-Affäre und ihren Folgen gab er 1993 alle Führungspositionen ab. Sein neues Leben bestimmt seither die Kunst.

Welt am Sonntag: Herr Engholm, was haben die Lübecker Thomas Mann, Armin Müller-Stahl, Björn Engholm, Günter Grass und Willy Brandt gemeinsam?

Björn Engholm: Eine, wie ich glaube, unstillbare Neigung für diese Stadt. Es zieht einen immer wieder in diese Stadt zurück. Lübeck hat Geschichte, besitzt Gesicht durch faszinierende Architekturen, die sich von den heutigen modernen Architekturen weit abheben, ist anspruchsvolle Heimat.

Welt am Sonntag: Und was haben die eben genannten Männer noch gemeinsam?

Engholm: Jeder auf seine Art hat sich bemüht, etwas Bedeutendes zu machen. Sie waren und sind Meister – ich vielleicht bemühter Lehrling.

Welt am Sonntag: Ragte jemand heraus?

Engholm: Eindeutig Willy Brandt. Er ist ein Weltpolitiker gewesen. Er hat Deutschland in die Neuzeit gebracht. Er hat das andere Deutschland verkörpert und hat uns ganz neue Chancen der Akzeptanz eröffnet, von denen beispielsweise mein Vater nach dem Krieg nicht zu träumen gewagt hat.

Welt am Sonntag: Wann und wie haben Sie Brandt kennengelernt?

Engholm: Das war zwischen 1963 und 1965 während eines Wahlkampfes, als er in Lübeck mit Günter Grass auftrat. Auch Siegfried Lenz war dabei. Man spielte nach der Veranstaltung Skat und wir durften als ganz junge Jungsozialisten über die Schulter zugucken und gelegentlich ein Bier reichen. Das war mein Zutritt zu dieser illustren Runde.

Welt am Sonntag: Was war er für ein Mensch?

Engholm: Er war ein Mann, der sein Leben lang mit Verletzungen zu kämpfen gehabt hat, die ihm andere zugefügt haben. Die ganz große Verletzung und zugleich Beschämung bestand darin, als Humanist erleben zu müssen, dass Menschen tun können, was die Faschisten getan haben. Und dass andere, die zu ihm parallel Politik gemacht haben, ihn, der sich in Europa um Frieden, Verständigung und Koexistenz bemüht hatte, Vaterlandsverrat vorwarfen. Das hat ihn bis zu seinen letzten Tag innerlich zutiefst gequält.

Welt am Sonntag: Er war als Politiker nicht eindeutig?

Engholm: Aber er stand doch voll für Deutschland ein! Er war ein Patriot! Er war ein Weltpolitiker mit ganz klar patriotischen Zügen – nie mit nationalistischen. Wie auch Egon Bahr. Beide sind verkannt worden im dem, was sie mit mühevollen Schritten gen Osten geleistet haben.

Welt am Sonntag: Ließ er Menschen an sich heran?

Engholm: Er ließ sie soweit ran, wie er ihnen nicht die Köpfe streicheln musste. Willy war nicht der Politiker, der durch eine Menge ging und jedem Baby über den Kopf strich und jede Hand schüttelte. Er war kein vordergründiger Populist.

Welt am Sonntag: Sondern?

Engholm: Willy hat sich aus Gründen des Selbstschutzes immer eine winzige Distanz bewahrt. Das ließ ihn spröde erscheinen. Wer aber diese Distanz kannte, Hanseaten sind ähnlich wie der Willy gewesen ist, der konnte sehr, sehr eng mit ihm.

Welt am Sonntag: Konnten Sie eng mit ihm?

Engholm: Ich war mit ihm per Du, das sowieso. Wir waren auf recht gutem Fuß beisammen. Ich habe diese leichte Sprödigkeit, den Selbstschutz bei ihm immer respektiert. Ich habe mir auch nie etwas rausgenommen. Deswegen gehörte ich zu denen, die er, so glaube ich, geschätzt hat.

Welt am Sonntag: Waren und sind Sie Willy Brands wahrer Enkel?

Engholm: Die Rolle, Enkel von Willy Brandt zu sein, die er vorgeformt und hinterlassen hat, wagte niemand wirklich zu übernehmen. Und es hat auch niemand wirklich geschafft. Da ich mit der Idee einer unbegrenzten Macht am wenigsten verheiratet war, im Gegensatz zu anderen Enkeln von Willy, kann ich sogar sagen, dass ich Willys Rolle niemals hätte ausfüllen können.

Welt am Sonntag: Hätten Sie die Rolle gerne ausgefüllt?

Engholm: Ja, das hätte ich schon. Willy ist ein großes Vorbild gewesen. Dem nachzueifern hat sich absolut gelohnt – auch, wenn es nicht erreichbar war.

Welt am Sonntag: Was würde Willy Brandt heutzutage anders machen?

Engholm: Willy Brandt wäre heute unermüdlich 24 Stunden am Tag auf diplomatischer Tour – was die Ukraine und Syrien angeht.

Welt am Sonntag: Er wäre vor Ort?

Engholm: Ja, er würde mit ein oder zwei anderen, die unbescholten in der Weltgeschichte dastehen, die keine Eigeninteressen haben und vertreten, unterwegs sein, um zu schlichten und diplomatische Stränge zu schlagen. Das würde Willy Brandt heute tun.

Welt am Sonntag: Können Sie das konkretisieren?

Engholm: Brandt würde immer versuchen, die Interessen des Gegenübers, zum Beispiel Russlands, einzukalkulieren und zu fragen, warum denken sie so, handeln sie so und welche Interessen sind berechtigt, und welche nicht.

Welt am Sonntag: Damit hat er bei Leonid Breschnew angefangen ...

Engholm: Exakt. Er hat damit ganz früh angefangen und ist dafür sehr stark angefeindet worden. Trotzdem war es der Zutritt zu diesem Imperium, der Sowjetunion, um überhaupt Gespräche aufzunehmen, koexistentielle Vereinbarungen zu schließen. Das würde er heute wieder bis ins Alter hinein tun. Das vermisse ich ein wenig. Es fehlen uns wohl die ganz großen Köpfe. Die zu finden, das wäre den Schweiß der Edlen wert.

Welt am Sonntag: Welcher Politiker hat heute ein „Willy-Brandt-Gen“?

Engholm: Unter den Deutschen würde ich eindeutig auf Frank-Walter Steinmeier hinweisen. Ja, ich glaube, dass er die außenpolitische Philosophie von Brandt verinnerlicht hat. Ob er dieselbe Rolle spielen kann, das werden wir sehen.

Welt am Sonntag: Wer hat noch in der SPD das „Brandt-Gen“?

Engholm: Das ist schwer zu sagen. Es gibt gute Ansätze bei Sigmar Gabriel. Man kann ja Willy nicht kopieren. Aber Gabriel hat die SPD, nachdem sie viele Vorsitzende verschlissen hat, mich eingeschlossen, die vergangenen Jahre gut über die Runden gebracht. Er trägt ein gutes Stück Brandt in sich.

Welt am Sonntag: War es schwer, das Amt des Kanzlerkandidaten abgeben zu müssen?

Engholm: Ich habe eine Aufgabe, eine Funktion immer als Verpflichtung empfunden, nicht als die Chance persönlicher Machtgewinnung. Mir hat das Macht-Gen gefehlt. Das habe ich auch gewusst. Von daher ist mir der Abschied innerlich nicht schwer gefallen. Äußerlich schon.

Welt am Sonntag: Wie war es mit der SPD-Solidarität?

Engholm: Man lernt auch in der eigenen Partei, in der Solidarität das höchste Gut ist, Menschen kennen, die einen fröhlich von vorne links anlächeln und hinten am rechten Stuhlbein die Säge angesetzt haben.

Welt am Sonntag: Haben Sie viele Nackenschläge einstecken müssen?

Engholm: Das kann man so sagen. Mit mir sind viele Leute gewachsen und groß geworden. Wenn von denen die Hälfte plötzlich verschwunden ist, dann tut das verdammt weh.

Welt am Sonntag: Kann man nach Niederlagen wieder neu anfangen?

Engholm: Die Voraussetzung, das zu können, ist, dass man sich nicht mit Magen, Leib und Seele an das Ressort Politik verkauft und ein zweites Standbein hat.

Welt am Sonntag: Hatten Sie ein zweites Standbein?

Engholm: Ich habe das zweite Standbein Kultur gehabt. Ich habe ganz viele Freunde im Bereich von bildender Kunst und Musik. Die haben mir den Übertritt von der hohen Politik in das ganz normale Leben sehr erleichtert.

Welt am Sonntag: Sind Sie ein zu gutgläubiger Mensch?

Engholm: Ja, im Prinzip bin ich so groß geworden. Ich bin anständig erzogen worden. Ich habe in meinem Leben nie Prügel bezogen – außer mal in der Schule. Daher bin ich immer guten Glaubens gewesen, habe prinzipiell auf das Gute im Menschen gesetzt.

Welt am Sonntag: Können Sie auch austeilen?

Engholm: Ja, auf eine hanseatische Art.

Welt am Sonntag: Was bedeutet das?

Engholm: Man kann rhetorisch hübsche Finten schlagen. Das habe ich in meinem Leben hier und da gemacht. Aber nie so, dass es unter die Gürtellinie geht. Aber so, dass es intellektuell sehr weh getan hat.

Welt am Sonntag: Darf ein Politiker überhaupt Schwächen zeigen?

Engholm: Die Mehrheitsmeinung ist wohl eher, nein. Meine persönliche Meinung war immer: Ich bin ein Mensch, habe meine Schwächen. Ich bin kein Puritaner, ich bin kein Abstinenzler. Ich habe Schwächen, und ich zeige sie auch.

Welt am Sonntag: Wie hat man sich Ihren Führungsstil vorzustellen?

Engholm: Autorität muss man haben. Aber man muss zwischen Macht und Herrschaft unterscheiden. Wenn man sich im legalen Herrschaftsrahmen gut bewegt, dann hat man genug Macht. Wer darüber hinaus will und immer an Gitterstäben rüttelt und mehr und mehr will, der muss aufpassen, dass er in seinem Machtverständnis nicht überbordet.

Welt am Sonntag: Kennen Sie Menschen, die in Macht verliebt sind?

Engholm: Ich kenne solche Überverliebten. Einige sind auch hinterher am tiefsten abgestürzt, wenn sie keinen Führungsjob mehr hatten. Ihnen hat dann der ganze Machtzirkus gefehlt, in dem allein sie Größe darstellen konnten. Das ist verhängnisvoll.

Welt am Sonntag: Björn Engholm, der Schöngeist. Stimmt das?

Engholm: Schöngeist wird ja immer etwas negativ verwendet. Gerade, wenn einer in der Politik, im Herrschaftsbereich, tätig ist. Ich versuche, meine ästhetischen Fähigkeiten aufrechtzuerhalten, die müden Sinne immer wieder zu ermuntern.

Welt am Sonntag: Sie waren schon 1965 Vorsitzender der Jungsozialisten in Lübeck. Gelten die Parolen von damals für Sie auch heute noch?

Engholm: Nicht alle Parolen. Aber im Grunde meines Herzens bin ich Linker geblieben.

Welt am Sonntag: Was macht einen guten Linken aus?

Engholm: Ein guter Linker ist derjenige, der, wie Willy Brandt gesagt hat, frei, sozial und gerecht denkt und handelt. Der vor allem guckt, wo ist die Freiheit des Menschen am besten gewährleistet oder wo wird sie eingeschränkt.

Welt am Sonntag: Links wird meistens negativ gesehen.

Engholm: Weil uns der dogmatische und autoritäre Osten in der Geschichte vorgemacht hat, wie beschissen, entschuldigen Sie, das falsche Links sein kann.

Welt am Sonntag: Beschreiben Sie das richtige Links ...

Engholm: Links ist nichts Verwerfliches. Links heißt möglichst viel Demokratie machen, wie Willy gesagt hat. Dafür Sorge tragen, dass kein Mensch Angst haben muss, durchzuplumpsen bis zum Fußboden. Dass es noch ein kleines Netz gibt, das ihn auffängt. Dass seine Würde gewahrt und geachtet wird, wer immer er ist und wo immer er steht. Das ist Links.

Welt am Sonntag: Sie sind seit 50 Jahren SPD-Mitglied und kein bisschen müde?

Engholm: Die SPD ist für mich in erster Linie eine große Idee. Eine Idee, die in der Geschichte wirklich etwas in Bewegung gesetzt hat.

Welt am Sonntag: Was meinen Sie?

Engholm: Demokratie im Staat. Demokratie in der Wirtschaft. Gleichstellung. Sozialität. Friedfertigkeit. Die ganze Kette durch. Dieser Idee bin ich verhaftet und auch wenn die Partei als Organisation mir gelegentlich nicht gefällt, ändert das nichts an meinem Zutrauen zur Idee.

Welt am Sonntag: Waren Sie als Politiker glaubwürdig?

Engholm: Willy hat gesagt, „wir haben uns bemüht“. Im Großen und Ganzen habe ich das auch getan. Und als es infrage gestellt wurde, habe ich die Segel gestrichen. Ich habe einen tüchtigen Preis bezahlt.

Welt am Sonntag: Warum der Wechsel zur Kultur?

Engholm: Kultur ist das Hobby meiner Familie schon seit ganz vielen Jahren. Eine Tochter hat eine Galerie in Wien. Meine Frau malt seit vielen Jahren. Ich selbst habe mich immer um Bildkunst, Literatur und Musik gekümmert. Aus dem Hobby habe ich ein sehr ernsthaftes Ehrenamt gemacht.

Welt am Sonntag: Sie werden am neunten November 75 Jahre alt. Ist man dann weise?

Engholm: Weise? Hauptsache, dass es noch im Kopf funktioniert. In den Gliedern merkt man das Alter schon deutlicher.

Welt am Sonntag: Was merken Sie?

Engholm: Man läuft nicht mehr wie früher. Das Kreuz sagt gelegentlich Hallo. Jeder hat schon seine Einschläge gehabt. Hier und da eine kleine Operation. Man weiß, dass 75 vielleicht ein weises, aber kein besonders glückliches Gesundheitsalter ist.

Welt am Sonntag: Genießen Sie Ihren Unruhestand?

Engholm: Nach so einem Rücktritt, wie ich ihn gemacht habe, da braucht man ein oder zwei Jahre, um sich zu berappeln. Ich habe das als eine Chance für ein zweites Leben empfunden.

Welt am Sonntag: Haben Sie jemals etwas bereut?

Engholm: Das ist schwer zu sagen. Es gibt eigentlich nicht sehr vieles, was ich bewusst bereut habe. Ich habe mich immer bemüht, wie ich es von meinen Eltern gelernt habe und wie ich mit meinem Freundeskreis auch weit um die Politik herum praktiziert habe, mich an Werten zu orientieren.

Welt am Sonntag: Und wenn Sie einen Fehler gemacht haben?

Engholm: Dann hat es mir leidgetan. Und ich habe dafür die Verantwortung übernommen.

Welt am Sonntag: Was würden Sie gerne rückgängig machen?

Engholm: Mein Gott, ich glaube, es war vieles glücklich vorgegeben und es lief in Bahnen, die ich auch habe ausfüllen können. Ob ich bewusst etwas rückgängig machen möchte? „Hätte, hätte“ , Sie kennen das ... Doch, ich hätte kein Parteivorsitzender werden sollen.

Welt am Sonntag: Warum nicht?

Engholm: Ich war zu wenig mit der Parteiorganisation verheiratet und habe auch dieses Macht-Gen nicht gehabt. Das konnte Schröder sehr viel besser. Lafontaine auf seine Art natürlich auch.

Welt am Sonntag: Sie hätten auch ablehnen können.

Engholm: Damals bin ich genötigt worden, den Job zu machen. Die anderen waren noch nicht soweit. Oskar hatte seine Verletzung am Hals. Gerhard war noch vor den Toren. Auf mich fiel automatisch die Wahl. Ich glaube, das war ein Fehler. Den hätte ich nicht machen sollen. Das wäre für die Partei besser gewesen. Für mich insbesondere auch. So what?

Welt am Sonntag: Sie sind auch Großvater. Was geben Sie Ihren Enkeln mit auf den Weg?

Engholm: Ich halte sie an, von vornherein und immer Mensch sein. Zu lernen, wie der Mensch dem Menschen Mensch sein und bleiben kann. Schlicht und einfach: Humanismus. Und ich würde ihm raten, Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen, sie aber friedlich zu lösen. Anteil zu nehmen am Schicksal von anderen, denen es nicht gut geht. Ihnen unter die Arme greifen, in der Hoffnung „du bekommst es auch irgendwann mal zurück“, und: „Was du von anderen erwartest, tue auch ihnen.“ So heißt es im Neuen Testament bei Matthäus. Einer der schönsten Sätze. Das ist die goldene Regel.

Welt am Sonntag: Sind Sie denn ein guter Mensch?

Engholm: Puh, im Wesentlichen, so hoffe ich.

Norbert Vojta ist Journalist und Honorarprofessor an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg