Sexting, das Verschicken eigener Intimfotos an Vertraute, ist unter Jugendlichen weit verbreitet. Was als Liebesbeweis beginnt, wird zum Schrecken – wenn die Bilder unkontrollierbar in sozialen Netzwerken kursieren. Ein Fallbeispiel.
Dies ist die Geschichte von Antje, deren Nacktbilder die halbe Schule zu sehen bekam. Eine Geschichte über die fatale Macht des Internets und über die Folgen eines zu leichtfertigen Umgangs mit intimen Fotos in sozialen Netzwerken. Es ist die Geschichte einer 14-Jährigen, die Opfer von Cybermobbing wurde. Eine Geschichte, die auch die Frage aufwirft: Warum tun sich Jugendliche so etwas bloß an?
Sexting. Der Begriff, eine Kombination aus den Wörtern Sex und Texting, bedeutet den Austausch von Nacktbildern über Smartphones. Für die einen ist Sexting nicht mehr als eine eine moderne Form der Liebesbekundung. Doch immer häufiger werden intime Fotos ohne Einverständnis der Betroffenen weitergeschickt – die Nacktheit der anderen wird so insbesondere unter Schülern zum öffentlichen Thema. Auch der Kriminologe Christian Pfeiffer schlägt Alarm. „Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass wir hier in etwas Neues reingerutscht sind.“
Wie viele Jugendliche in Deutschland derartige Bilder schon verschickt haben und wie viele bereits bloßgestellt worden sind, ist unklar. Das Ausmaß, so Pfeiffer, müsse nun erfasst werden. Eine Studie in den USA ergab, jeder fünfte Jugendliche im Alter von 13 bis 19 Jahren habe bereits ein Intimfoto von sich verschickt. Eine Umfrage der Fachhochschule Merseburg unter ostdeutschen Schülern kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Demnach hatten 19 Prozent der Mädchen und elf Prozent der Jungen Nacktbilder oder -videos von sich an andere weitergeleitet. Entweder um eine bestehende Beziehung zu retten, eine neue Beziehung anzubahnen oder um einen Flirt aufzupeppen.
Intimfotos werden aus den unterschiedlichsten Gründen ungewollt veröffentlicht. Neben Prahlerei und Geltungsbedürfnis spielen Rachegelüste eine wichtige Rolle. Wird das Foto weitergeleitet, kommt ein Schneeballeffekt zustande, der kaum einzudämmen ist. Das Weiterleiten, so die Sexualforscherin Nicola Döring, dürfe nicht nur als „harmloser Witz“ verstanden werden, „sondern durchaus auch mit schädigender Absicht im Sinne des Mobbings“.
Ganz ähnlich hat es sich auch im Fall der 14 Jahre alten Antje D. abgespielt. Ihr Name und der ihres Heimatdorfs sollen geheim bleiben. Ihr Vater Hermann D. arbeitet als Zivilfahnder bei der Hamburger Polizei. Auch er will seinen echten Namen nicht veröffentlicht sehen. Antje besucht im Sommer 2013 die achte Klasse eines Gymnasiums und kommt aus einem behüteten Elternhaus. Sie verliebt sich in einen gleichaltrigen Jungen, der in dieselbe Klasse geht wie sie. Der Junge heißt Marcel (Name geändert).
Damit fängt es an.
Die Eltern von Antje tolerieren die Beziehung. Ein bisschen Händchenhalten hier, ein Küsschen da, so etwas gehört zum Erwachsenwerden eben dazu, sie sind da recht tolerant, aber Toleranz hat auch Grenzen. Hermann D. sagt, er habe eine „konservative Grundhaltung“. Er ist so ein bäriger Typ mit breiten Schultern, gütigen Augen und dem Herz am rechten Fleck. Einer, der aufpasst auf seine zwei Töchter, Antjes Schwester ist 17. Hermann D. findet, dass jeder im Leben seine Erfahrungen machen soll. Doch vor der Erfahrung, die Antje machen wird, hätte er sie am liebsten bewahrt.
Die Beziehung zwischen den Teenagern kriselt schon nach wenigen Wochen. Hermann D. findet Marcel zwar ein bisschen kauzig, aber nun gut, seine Tochter schwärmt für ihn. Antje ist groß gewachsen, hat lange dunkle Haare, eine echte Schönheit. Und weil sie so intelligent, vernünftig und selbstbewusst ist, vertraut ihr Hermann D.
Irgendwann im September erfährt er von befreundeten Eltern, deren Tochter auf dieselbe Schule geht, dass von Antje Nacktbilder kursieren. Als Hermann D. darauf den Computer seiner Tochter durchsucht, erlebt er einen der schwärzesten Momente seines Lebens: Er findet zwei Videoclips, eins zeigt seine nackte Tochter, das andere ihren Freund Marcel – ebenfalls nackt. Unter Tränen gesteht ihm Antje, dass Marcel das Video von ihr verlangt habe, dass sie damit doch nur ihre Beziehung habe retten wollen und dass sie Marcel vertraut habe. Tatsächlich hat der 14-Jährige ein Foto aus Antjes Video herausgelöst und in der Schule herumgezeigt. Der Vater ist derart außer sich, dass er auf dem Weg zur Arbeit wieder umkehrt und drei Tage zu Hause bleibt. „Ich habe mich einfach nur ohnmächtig gefühlt“, sagt er.
Es kommt aber noch schlimmer. Je mehr der Polizist nachbohrt, desto schlimmer wird es. Hermann D. erfährt von weiteren Nacktbildern seiner Tochter, die bei WhatsApp im Umlauf sind. Die Mitschüler von Antje haben dort eine geschlossene Gruppe eingerichtet, mit zahlreichen Mitgliedern. Die Bilder hat ein Junge aus Hannover verschickt, der einen Draht zu einer Schülerin in dieser geschlossenen Chat-Gruppe hat. Die wiederum, eine Intimfeindin von Antje, hat die Fotos an die anderen Gruppenmitglieder weitergeleitet. Der Vater sagt, Antje und der Junge aus Hannover hätten sich im Urlaub auf Korfu kennengelernt. Der 14-Jährige sei sehr nett gewesen, die Kinder hätten ein bisschen herumgeturtelt und Drachen steigen lassen. Alles ganz harmlos.
Hermann D. fällt aus allen Wolken, als Antje ihm gesteht, dass sie dem Jungen ein Oben-ohne-Bild von sich geschickt hat. Für den Polizisten unfassbar: „Antje dachte wohl, dass so etwas bei einer Freundschaft dazugehört.“ Er lässt sich daraufhin zeigen, was sich die beiden geschrieben haben, da sei ihm „kotzübel“ geworden. Nachdem sich Antje geweigert habe, dem Jungen nach dem Oben-ohne-Bild ein Nacktvideo zu schicken, sei sie von ihm „auf unterstem Niveau“ und sexistisch bepöbelt worden. „Eine schäbigere Wortwahl kann ich mir kaum vorstellen“, sagt Hermann D.
Die Geschichte von Antje ist kein Einzelfall. Zwar sei Sexting im schulischen Betrieb „noch kein Hype-Thema“, sagt der Sprecher der Schulbehörde, Peter Albrecht. 2013 habe die Abteilung Gewaltprävention lediglich sieben konkrete Beratungsanfragen von Mädchen im Alter zwischen zwölf und 14 Jahren erhalten. Typischerweise seien die Fotos in diesen Fällen nach einer nicht einvernehmlichen Trennung veröffentlicht worden, nicht selten mit vulgären Begleittexten wie „Alte Schlampe, die mit jedem f…“.
Trotz der geringen bekannten Fallzahl sieht die Behörde Handlungsbedarf. „Das Thema und die sich daraus ergebende Gefährdung müssen in der Sexualerziehung und in Kooperation mit den Fachberatungsstellen aufgegriffen werden“, sagt Albrecht. Hamburger Schulleiter wollen sich zu der Problematik aus Furcht vor Rückschlüssen auf ihre Schulen jedoch nicht äußern.
Dabei wird der Missbrauch mit Nacktbildern an Schulen mittlerweile durchaus als ernsthaftes Problem wahrgenommen. So schrieb der Leiter eines Gymnasiums aus Cloppenburg bereits im Vorjahr den Eltern seiner Schüler einen Brief, um eindringlich vor den Gefahren zu warnen. Dass sich die Opfer aber meist nicht an die Schule oder an die Polizei wenden, hat einen naheliegenden Grund: „Das Thema ist schambehaftet, da geht niemand mit hausieren“, sagt Kriminaloberkommissar Wiro Nestler von der Abteilung Prävention des Landeskriminalamtes.
Beim Verein Dunkelziffer, der sich um die Belange sexuell missbrauchter Kinder kümmert, ist Sexting längst ein Thema. „Die Nachfragen zu Sexting und Cybermobbing nehmen zu“, sagt Simone Bauer, Fachberaterin für Psychotraumatologie bei Dunkelziffer. Betroffen seien Mädchen im Alter zwischen zwölf und 15 Jahren – alle seien sich der Tragweite ihres Handelns nicht bewusst gewesen, als sie intime Bilder von sich verschickt hätten.
Häufig würden sich in Chatrooms Erwachsene gegenüber Minderjährigen als Jugendliche ausgeben. Haben die Kinder ein Nacktbild geschickt, pressen die Täter häufig weitere Bilder ab, indem sie drohen, das Nacktfoto an die Eltern weiterzuleiten oder bei Facebook zu veröffentlichen. 85 Prozent der auf diese Weise erschlichenen Bilder, schätzt Nestler, tauchten früher oder später in kinder- und jugendpornografischen Veröffentlichungen auf.
Sexting wird unter Schülern häufig nach einer Trennung gezielt eingesetzt, um Rache zu nehmen an der oder an dem Ex. Um die Bilder zu verbreiten, dient die Nachrichten-Applikation WhatsApp, die 70 Prozent der Jugendlichen auf ihren Smartphones installiert haben. WhatsApp ermöglicht das Verschicken von Texten und Bildern, ohne dass dafür bezahlt werden muss. Theoretisch kann ein intimes Foto an Hunderte von Empfänger versandt werden, die es dann ihrerseits an Hunderte weiterverschicken können – so entsteht ein Schneeballeffekt. Eine andere bei Teens beliebte Applikation heißt Snapshot. Absender können das Programm so einstellen, dass Bilder vom Empfänger nur für ein paar Sekunden zu sehen sind, bevor sie wieder verschwinden. Allerdings können erfahrene Nutzer die Fotos durch einen Trick gleich wieder sichtbar machen.
„Tatsächlich begreifen viele Jugendliche gar nicht, was sie anderen antun, wenn sie auf ,senden‘ oder ,weiterleiten‘ drücken“, sagt Nestler. Im Jahr 2009 brachten sich nach Sexting-/Mobbing-Attacken zwei Teenager in den USA um. Ein Mädchen war erst 13 Jahre alt, das andere 18.
Elisabeth Rebernig von der kriminalpsychologischen Einsatz- und Ermittlungsunterstützung unterscheidet drei Täter-Typen: den planungslosen Täter, der seinem Opfer bewusst Schaden zufügen will, sich aber über das Ausmaß seines Tuns keine Gedanken macht. Dann gibt es den Mitläufer, der ein Foto weiterleitet, um in der Community nicht weiter aufzufallen. Typ 3 ist der abgefeimteste, Rebernig nennt ihn den „planungsvollen, hoch manipulativen Täter“, der die intimen Fotos verwendet, um die Betroffenen sexuell auszubeuten. Gerade in solchen Fällen sei der Schaden „immens“.
Es ist kaum zu ermessen, was es für die Opfer bedeutet, wenn intimste Bilder durch die Klassenzimmer geistern oder unter lautem Gackern im Sportverein herumgezeigt werden. Antje D. hatte noch Glück: Ihre Mitschüler stärkten ihr den Rücken, nachdem sie den Sexting-Fall in der Klasse offen angesprochen hatte. Trotzdem kommt es noch heute vor, dass sie von Jugendlichen, die gar nicht ihre Schule besuchen, mit obszönen Gesten behelligt wird.
Während in der Schule die Bilder ihrer nackten Tochter kursierten, waren Antjes Eltern völlig ahnungslos. Besonders verärgert sei er, weil andere befreundete Elternpaare geschwiegen hätten, obgleich sie von ihren Kindern bereits von den Fotos erfahren hatten, sagt Hermann D. Mehreren Eltern hat er deshalb die Freundschaft gekündigt. Er hat die Sache nicht auf sich beruhen lassen, aber nach langem Hin und Her auf eine Anzeige verzichtet, um seiner Tochter ein quälendes Gerichtsverfahren mit sehr ungewissem Ausgang zu ersparen.
Er sprach mit den Jungs, die Antje gedemütigt hatten. Und mit ihren Eltern. „Die Jungs waren reumütig, immerhin“, sagt Hermann D. Mit „kompletter Fassungslosigkeit“ habe der Vater des Jungen aus Hannover, ein humanistisch gebildeter Sozialpädagoge, reagiert, als er vom Treiben seines Sohnes erfahren habe.
Er habe den „Deckel draufmachen“ wollen, sagt Hermann D. und meint: die peinlichen Bilder löschen. Doch diese Möglichkeit gibt es praktisch nicht, wenn sie erst einmal in den Netzwerken kursieren. Ein populäres Beispiel ist der Fall des amerikanischen Kongressabgeordneten Anthony Weiner, der 2011 zurücktreten musste, nachdem er versehentlich Fotos von seinem Penis an seine Twitter-Followers geschickt hatte.
Was also tun? Aufklären ist das Gebot der Stunde, da sind sich alle Experten einig. Entsprechend werden Lehrer in Fortbildungs- und Fachveranstaltungen geschult. Der Arbeitskreis Grenze, in dem Vertreter von Beratungsstellen zur sexualisierten Gewalt sitzen, bereitet aktuell einen Internetauftritt unter dem Motto „Zu nah dran“ vor.
Angebote gibt es auch vom Verein Dunkelziffer, Pro Familia und dem Familienplanungszentrum. Dunkelziffer befürwortet sogar eine Aufklärung schon im Grundschulalter: Themen wie sexuelle Gewalt, Cybermobbing und der richtige Umgang mit privaten Daten gehören auf den Unterrichtsplan. „Sie sollten nicht nur die Regeln über das Verhalten im Netz erfahren, sondern auch Täterstrategien kennenlernen.“