Das Ringen um die Energiewende geht in die entscheidende Phase. Für den Norden ist die Zwischenbilanz durchwachsen. Dabei bildet die Windkraft an und vor den Küsten das Fundament für eine zukunftsfähige Energiewirtschaft in ganz Deutschland.

Eine geisterhafte Konferenz tagte an einem Freitag im März spätnachmittags im Hamburger Rathaus. Allen Beteiligten waren Symbolik und Gewicht des Treffens auf dem Weg zu einem neuen Energiegesetz bewusst. Doch nichts wurde offiziell über den Inhalt der nur rund einstündigen Konsultation bekannt, zu der sich die fünf norddeutschen Ministerpräsidenten mit Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) getroffen hatten. Gabriel, der direkt aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew in den Norden gereist war und der danach ins heimische Goslar weiterfuhr, verließ kommentarlos den Tagungsort, äußerst ungewöhnlich für den wortgewaltigen Parteichef der Sozialdemokraten. „Bei dem Treffen handelte es sich um ein Arbeitsgespräch, das sich in die zahlreichen Energie-Gespräche des Ministers und des Hauses auf EU-, Bundes- und Landesebene einreiht“, ließ ein Regierungsrat des Wirtschaftsministeriums diese Zeitung auf Anfrage wissen.

Es ging ums Eingemachte bei dem kurzen Treffen im Rathaus, berichten Insider. Die Regierungschefs der Nordländer hatten Gabriel ihre Vorstellungen über die künftige Rolle der Windkraft an Land und auf See rund um die deutschen Küsten vorgetragen, die ein zentraler Bestandteil der deutschen Energiewende ist. Der Wirtschaftsminister, der in Personalunion als Energieminister in dieser Legislaturperiode den Umbau der Energiewirtschaft dirigiert, will das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) bis zur Sommerpause reformieren, damit es am 1. August in Kraft treten kann. Bis Anfang April laufen die Beratungen mit den Bundesländern und etlichen Verbänden, die ihre Meinung zur Gesetzesnovelle einbringen wollen. Am 8. April soll das Bundeskabinett den Entwurf zur EEG-Reform beschließen. Ein Parforceritt.

Schleswig-Holstein will dauerhaft Exporteur von Windstrom sein

Nach der Konferenz verzichteten die fünf SPD-Ministerpräsidenten auf eine öffentliche Erklärung, um ihren Parteichef nicht zu kompromittieren. Denn Gabriel hatte die Einlassungen der eigens angereisten Länderchefs ohne inhaltliche Reaktion lediglich zur Kenntnis genommen. Wochen zuvor hatte Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig noch über „sozialistische Planwirtschaft“ geschimpft, als bekannt geworden war, dass Gabriel den Zubau bei Windkraftwerken an Landstandorten bundesweit auf jährlich 2500 Megawatt Nennleistung begrenzen will. Das würde vor allem die Wachstumschancen von Niedersachsen und Schleswig-Holstein, der Länder mit den besten landseitigen Standorten für die Windkraft in Deutschland, stark beschneiden. Schleswig-Holstein will bis 2020 dauerhaft zum Exporteur von Windstrom werden.

Die deutschen Küstenländer müssten schon im eigenen Interesse vor allem bei der Windkraft öfter und lauter als bislang mit einer Stimme sprechen. Deutschlandweit schwoll die Debatte um die Energiewende in den zwei zurückliegenden Wochen zu einem schrillen Konzert an. Am Mittwoch forderte Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) die Höchstsumme für die Vergütung von Ökostrom auf acht Cent je Kilowattstunde zu begrenzen, um die Kostenanstiege bei der EEG-Umlage für Privathaushalte zu stoppen. Gabriel strebt eine Deckelung bei zwölf Cent je Kilowattstunde an. Derzeit sind im Durchschnitt aller Ökostrom-Technologien – neben der Windkraft sind das vor allem Solarstrom- und Biomassekraftwerke – rund 17 Cent Vergütung je Kilowattstunde fällig. Die Windkraft an den deutschen Küsten ist dabei der wichtigste Kostensenker. Neue Windturbinen erzeugen in den besten deutschen Lagen Strom zu fünf bis sieben Cent je Kilowattstunde. Bei der Offshore-Windkraft sind es rund zehn Cent im Durchschnitt eines 20-jährigen Förderzeitraums. Allerdings sinken die Gestehungskosten mit jeder neuen Generation von Windparks auf dem Meer weiter deutlich.

Seehofer hat kein Problem mit abrupten politischen Kurswechseln

Seehofer weiß: Eine Deckelung auf acht Cent bedeutet zwingend, dass die gesetzlich festgelegten Beträge aus der Ökoenergie-Förderung dann teilweise auch aus Steuermitteln finanziert werden müssten, was im Zweifel eine Erhöhung der Staatsverschuldung nach sich zöge. Einen ähnlich lautenden Vorschlag seiner bayerischen Wirtschafts- und Energieministerin Ilse Aigner hatte der CSU-Chef im Januar vor der jährlichen Klausurtagung der Partei in Wildbad Kreuth umstandslos gekippt. Generell hat Seehofer kein Problem mit abrupten politischen Kurswechseln: Den Bau von Strom-Ferntrassen von Nord- nach Süddeutschland zur Übertragung von norddeutschem Windkraft-Strom etwa, dem er 2013 im Bundesrat noch zugestimmt hatte, lehnt er mittlerweile ab. Viele teils fortgeschrittene Windkraftprojekte in Bayern dürften scheitern, wenn Seehofers überraschender Vorstoß Gesetz wird, die Mindestabstände von Windparks zu Siedlungen stark zu erhöhen.

Die Nordländer könnten angesichts des bayerischen Polittheaters im Vorfeld der dortigen Kommunalwahlen, die am heutigen Sonntag stattfinden, als Stimme der Vernunft auftreten, sie tun es aber nicht. Dabei liegt die Kraft für die deutsche Energiewende vor allem an den Küsten. Das immense Potenzial der meeresnahen Windkraft und die jahrzehntelange Erfahrung im Umgang damit, die geologischen Gegebenheiten für die Speicherung von Windenergie, die enge geografische Verbindung zu Ländern wie Norwegen oder Dänemark machen den Norden zum Vorreiter beim Umbau der Energiewirtschaft. Vor allem hier kann es gelingen, umweltfreundliche Energie in neuen Anlagen schon in einigen Jahren ohne Subventionierung durch die Stromverbraucher zu erzeugen. „In den vergangenen Jahren ging es vor allem um den Zubau auf der Erzeugungsseite, von Windparks, Solar- oder Biomasseanlagen“, sagt Professor Werner Beba von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). „Jetzt müssen die entsprechenden Übertragungs- und Verteilnetze und außerdem auch Speicherkapazitäten für die Einspeisung fluktuierender erneuerbarer Energien folgen.“ In Bergedorf legte Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz Ende Februar den Grundstein für ein neues Forschungszentrum der HAW mit dem Namen CC4E, das die Funktionsfähigkeit der erneuerbaren Energien als Gesamtsystem erforschen und zeigen soll.

Küstenregion kann Kraftwerk für ganz Deutschland werden

Die Windkraft ist das Fundament der Energiewende in Deutschland. Je Quadratmeter eingesetzte Fläche erbringen moderne Windturbinen weit höhere Strom- und Energieerträge als etwa Solarstrom- oder Biomasseanlagen. Das gilt vor allem für küstennahe Standorte an Land und für die neuen Offshore-Windparks in der deutschen Nord- und Ostsee. Die Küstenregion könnte rasch zum Kraftwerk für ganz Deutschland werden – würde die Energiewende primär nach wirtschaftlichen und technologischen Gesichtspunkten organisiert werden und weniger nach politischem und regionalem Proporz.

Die Energiewende ist ähnlich komplex wie der Umbau der Sozialsysteme während der Hartz-Reformen oder die Modernisierung des Gesundheitswesens. Die Politik in Süddeutschland fürchtet künftige Energie-Abhängigkeit vom Norden. Bislang waren das Ruhrgebiet und die ostdeutsche Lausitz mit ihren Kohlevorkommen und -kraftwerken die wichtigsten Energiezentren in Deutschland. Der Süden versorgt sich zudem vor Ort mit Strom aus Atomkraftwerken. Die aber sollen bis 2022 endgültig vom Netz gehen. Zudem müssten vor allem die besonders klimaschädlichen Braunkohlekraftwerke in den kommenden Jahren zumindest teilweise abgeschaltet werden, wenn es beim Klimaschutz vorangehen soll. Ersatz für Großkraftwerke bieten vor allem küstennahe Windparks und insbesondere Offshore-Kraftwerke auf See, die mit 4500 bis 5000 Volllaststunden im Jahr fast grundlastfähig sind. Sie benötigen nur sehr geringe Kapazitäten an konventionellen Kraftwerken im Hintergrund, um schwankende Erträge aus der Windkraft auszugleichen.

Bayern will eigenen Kapazitäten behalten

Die Gewichte in der deutschen Energieversorgung werden mit der Energiewende neu verteilt. Das passt insbesondere Bayern nicht. Für den Freistaat komme es darauf an, „nicht energiepolitischer Hintersasse der Nordsee zu werden, sondern eigene Kapazitäten zur Stromerzeugung zu behalten“, sagte der neue Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) vergangene Woche dieser Zeitung. Er warb, wen wundert es, für die in Bayern besonders starke Erzeugung von Ökoenergie aus Biomasse, obwohl die weit teuerer ist als die Erzeugung von Windstrom in Norddeutschland. „Viele Landwirte sind auch Energiewirte geworden, und sie sollen das auch bleiben“, sagte Schmidt. „Sie spielen eine wichtige Rolle für die künftige Energieerzeugung.“

Energieminister Gabriel will seine Strategiewende sorgfältig austarieren. Der Kostenanstieg bei der Förderung der erneuerbaren Energien soll gestoppt, der Ausbau von Wind-, Sonnen- oder Biomassekraftwerken aber dennoch vorangetrieben werden. Das mittelfristige Ziel der Bundesregierung lautet, bis zum Jahr 2025 einen Anteil von bis zu 45 Prozent erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung in Deutschland zu erreichen, im vergangenen Jahr waren es etwa 23 Prozent. Lobbyisten aus jeder nur denkbaren Richtung wirken nun auf den neuen Superminister und Vizekanzler ein, um die Energiewende in ihrem Sinne zu beeinflussen. Wirtschaftsverbände warnen vor dem Untergang der deutschen Industrie, die gerade wieder einen neuen Exportrekord vermeldet hat, sollten die „energieintensiven“ Unternehmen aus der Befreiung von der Ökostrom-Förderung herausfallen, der sogenannten EEG-Umlage. Den Konflikt um die Zulässigkeit dieser Befreiungen muss Gabriel mit der EU-Kommission austragen, die dieses Kernstück der Energiewende als unvereinbar mit dem EU-Wettbewerbsrecht verbieten könnte. Die Verbände der erneuerbaren Energien wiederum fürchten ein Scheitern der Energiewende, etwa durch die Deckelung der Ausbauziele für die Windkraft.

Potential liegt im Repowering

„Die Küstenländer haben bei der Konferenz in Hamburg eng zusammengestanden“, behauptet ein Insider. Gabriel und die Riege der Ministerpräsidenten hätten sich gegenseitig „Botschaften vermittelt, die man auf der anderen Seite jeweils auch verstanden hat“. Vor allem der gemeinsame Widerstand gegen die Begrenzung auf jährlich 2500 Megawatt Zubau an Landstandorten fällt den Nordländern leicht. Die Ministerpräsidenten wollen dies als „Nettowert“ verstanden wissen, als reinen Zubau völlig neuer Anlagen. Denn ein riesiges Potenzial liegt an der Küste vor allem im sogenannten Repowering, dem Ersatz alter durch neue Anlagen an denselben Standorten. Allein in Niedersachsen und Schleswig-Holstein stehen rund 8400 der insgesamt etwa 23.600 deutschen Windturbinen. Hier begann schon vor mehr als 30 Jahren die Geschichte der modernen Windkraftnutzung in Deutschland. Das Repowering ist deshalb, auf der Grundlage eines umfangreichen alten Anlagenbestandes, vor allem an der deutschen Nordseeküste ein großes Thema. „Das bringt enorm viel“, sagt Andreas Nauen, der Vorstandsvorsitzende des Hamburger Windturbinenherstellers Senvion, der bis Ende 2013 Repower Systems hieß. „Die Faustformel in der Branche lautet: Mit der Hälfte der Maschinen wird die installierte Leistung verdoppelt und die Stromausbeute verdreifacht.“ Wird das Repowering allerdings – und so will es Gabriel – in die 2500-Megawatt-Begrenzung mit eingerechnet, werden leistungsstärkere Ersatzkraftwerke an der Küste wohl in weit geringem Umfang realisiert.

Extrem komplex ist auch das Thema der Offshore-Windkraft. Die beteiligten Unternehmen brauchen dringend Anschlussaufträge für neue Windparks auf der Nord- und Ostsee. Die Energieunternehmen bremsen aber, weil ihnen die Förderbedingungen für die kommenden Jahre als zu unsicher erscheinen. Seine ersten Ankündigungen nach dem Abschluss des Koalitionsvertrages im Dezember hat Gabriel mit Blick auf die Fördersätze im Januar wieder revidiert. „Die Unternehmen brauchen Planungssicherheit, sonst gehen Tausende Arbeitsplätze in der Offshore-Windkraft-Branche schnell wieder verloren“, sagt Meinhard Geiken, Leiter des IG-Metall-Bezirks Küste. Rund 16.000 Arbeitsplätze rechnet die Gewerkschaft allein der metallverarbeitenden Industrie an der Küste der Offshore-Wirtschaft zu. Die Zahl lag auch schon mal bei 18.000. Rund 2000 Arbeitsplätze seien wieder verschwunden, weil die Unternehmen wegen der diffusen Rechtslage keine Anschlussaufträge bekommen hätten, sagt Geiken.

Küstenländer sind sich uneinig

Ulrich Getsch (parteilos), Oberbürgermeister von Cuxhaven, hat das Auf und Ab mit der neuen Industrie in den vergangenen Jahren bereits erlebt. Unternehmen und Investoren kamen und gingen. Was blieb, ist vor allem die an der deutschen Nordsee beste Infrastruktur für die Bestückung von Offshore-Windparks, ein sogenannter Basishafen speziell für Schwerlastteile, obendrein eine Fabrik des Stahlbauunternehmens Ambau, das an der Elbmündung Stahltürme für Windkraftwerke fertigt: „Cuxhaven hat optimale Bedingungen für die Ansiedlung neuer Unternehmen direkt hier an der Kaikante“, sagt Getsch. „Die erneuerbaren Energien, vor allem die Windkraft, können ein Jobmotor für die gesamte Nordseeküste werden, mit Tausenden neuen Arbeitsplätzen in den kommenden Jahren. Aber nur dann, wenn für Investoren stabile Rahmenbedingungen geschaffen werden.“

Besonders bei der Offshore-Windkraft ist die Interessenlage der Küstenländer diffus. Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern haben bei der Schaffung von Industriearbeitsplätzen und Basishäfen für Offshore-Windparks in den vergangenen Jahren am stärksten zugelegt. Vor allem Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil betont die Bedeutung der Offshore-Windkraft als Energiequelle auch für Süddeutschland. Schleswig-Holstein wiederum hält sich bei dem Thema bedeckt, vor allem deshalb, weil die Energiewende dort derzeit vom grünen Landesminister Robert Habeck gesteuert wird. Auf Bundesebene agiert Bündnis 90/Die Grünen eher gegen den Ausbau der Offshore-Windkraft.

Tausende neue Jobs in Hamburg

Hamburg hat vom Boom der Windkraft in den vergangenen Jahren wohl stärker profitiert als jede andere Stadt in Deutschland, obwohl in der Hansestadt aus Mangel an Flächen selbst kaum Windstrom erzeugt wird. Aber etliche Unternehmen und Forschungsinstitute aus der Onshore- und Offshore-Windkraftbranche siedelten sich an der Elbe an und schufen Tausende neue Arbeitsplätze. Im September findet hier erstmals die neue Messe WindEnergy statt, die Leitmesse für die internationale Windkraftbranche mit fast 1000 Ausstellern, die Hamburg nach langem Streit von Husum übernommen hat. So entwickelte sich die Hansestadt zu einer europäischen Metropole der Windkraft.

Doch auch Hamburgs Politiker schwiegen eisern nach der Konferenz mit Gabriel im Rathaus, bei der es um die Zukunft der Windkraft ging – und um die Energiewende in Deutschland.

„Kraftwerk Küste. Wie der Wind den Norden stark macht“, Olaf Preuß, Wachholtz Verlag. Preis: 16,90 Euro. Als E-Book: EAN 9783529092084, 11,99 Euro