Ein türkischer Vater sorgt sich um seine Tochter, eine Mutter holt ihr Kind aus der Schule, weil sie dort eine Burka trägt. Nicht nur in den Randbezirken der Hansestadt stehen Politiker und Pädagogen vor der Herausforderung, gegen einzelne Islamisten im Klassenzimmer vorzugehen.
Hamburg. Der Mann hat Angst. Als Lehrer hat Frank Grosse (alle Namen geändert) jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen, die aus sehr bildungsfernen Elternhäusern stammen oder den Unterricht zu torpedieren versuchen und pubertär pöbeln. Doch was er mittlerweile an seiner Schule in Eimsbüttel erlebt, empfindet er als andere Qualität der Bedrohung. Wenn er Ärger mit einzelnen Schülern hat, weil er ihnen wegen schwacher Leistungen eine schlechte Note gegeben hat oder einen Verweis für Störungen im Unterricht, steht in der Pause unvermittelt eine Gruppe von fünf, sechs Jugendlichen vor ihm, die sich offenbar per Handy verabredet haben, und droht: „Wir wissen, wo Sie wohnen“, „wir wissen, wo Ihre Kinder zur Schule gehen“. Und: „Wir gehen gleich in unsere Moschee und kommen mit unseren Glaubensbrüdern zu Ihnen.“
Äußerlich unterscheiden sie sich laut des Lehrers nicht von den Mitschülern, zu erkennen geben sie sich nur durch ihre islamistischen Parolen – eine lockere Gruppe, zu der vielleicht bis zu fünf Schüler eines Jahrgangs zählen. Pädagogen sprechen von religiös auffälligen Schülern. Sie treffen sich regelmäßig auf dem Schulhof oder abseits, dort wo geraucht wird, mit Jugendlichen von außen. Was sie tun, ist für Außenstehende schwer fassbar. „Man merkt aber, dass da etwas im Hintergrund brodelt“, sagt Grosse.
Es gibt keinen Hinweis darauf, dass es sich bei den Jugendlichen um Salafisten handelt oder dass sie in fest organisierten religiösen Gruppen auftreten, wie dies aus Stadtteilen im Hamburger Osten bekannt geworden ist, insbesondere aus Mümmelmannsberg. Dort registriert die Schulbehörde vermehrt „organisierte islamistische Aktivitäten“, wie ein internes Papier belegt. Aber der Fall aus dem Bezirk Eimsbüttel zeigt auch, dass das Problem islamistischer Jugendlicher keineswegs auf den Hamburger Osten beschränkt ist, wie Schulsenator Ties Rabe in der vergangenen Woche erklärt hatte.
Es sind Einzelfälle. Doch vieles deutet darauf hin, dass das Problem größer sein dürfte als bisher bekannt – auch weil manche Lehrer oder Schulleitungen die Vorfälle nicht melden, sei es aus Angst oder Unwissenheit.
So war es auch an der Schule von Frank Grosse. Der Lehrer hat nach dem letzten Vorfall eine Klassenkonferenz einberufen. Doch im allerletzten Moment trauten sich zwei Kolleginnen von ihm, die ebenfalls bedroht worden waren, nicht einmal in der Klassenkonferenz offen ihre Erlebnisse zu schildern – dort sind auch Eltern und Schüler vertreten. Zu groß war ihre Angst vor den Reaktionen der Schüler. Damit verlief das Disziplinarverfahren im Sande. Auch das Referat Gewaltprävention der Schulbehörde, an das Grosse verwiesen wurde, konnte ihm nicht helfen. „Das Bedrohungspotenzial ist groß, das System hilflos“, sagt er. „Es muss klare Regeln und Schutzmechanismen geben.“
Ortswechsel. Eine Stadtteilschule im Süden der Hansestadt. Auf den Wiesen gegenüber der Straße grasen Pferde, hinter dem modernen, lichten Schulgebäude erheben sich die Wohnblocks. Die Schüler, die hier zur Schule gehen, stammen aus vielen Ländern – rund 85 Prozent kommen aus Familien mit Einwanderergeschichten. Als es zur Pause klingelt, strömen die Kinder und Jugendlichen aus den Unterrichtsräumen. Viele Mädchen tragen ein schwarzes oder andersfarbig dunkles Tuch, das die Haare und den Hals verdeckt und über die Schultern teilweise bis zur Taille reicht. Es wird Hidschab genannt.
Michael Baumann, seit mehr als einem Jahrzehnt Lehrer an der Schule, ist beunruhigt. In letzter Zeit hat er immer häufiger beobachtet, dass ältere Schülerinnen ihr Äußeres auf einmal „stark der islamischen Kleiderordnung angepasst haben“, wie er sagt. „Diese Schülerinnen schienen mir auch im Verhalten wie umgedreht zu sein und sehen nun den ,schwarzen Witwen’ nicht unähnlich“, sagt der Pädagoge. Tschetschenische Selbstmordattentäterinnen wurden als „Schwarze Witwen“ bekannt. So sieht Baumann das. Vor einigen Monaten fiel ihm auf dem Schulhof eine tief verschleierte Person auf – ein Schlitz ließ nur die Augen frei. Während eine andere Pausenaufsicht die Frau ansprach, informierte Baumann die Schulleitung. Die erklärte sich für nicht zuständig, bei der Frau handle es sich vermutlich um eine Mutter. Baumann entschied sich fürs Wegschauen, aber „mit einem äußerst unguten Gefühl“, wie er sagt. Er wünscht sich von Schulsenator Rabe eine klare Handlungsanweisung, wie Lehrer mit solchen Fällen umgehen sollten.
„Bei allem, was sich gegen die Werte der Verfassung richtet – sei es Rechtsextremismus oder Salafismus – muss Schule tätig werden und schnell und konsequent handeln“, fordert Nebahat Güclü, Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Hamburg. Statt das Problem unter den Teppich zu kehren, auch aus Sorge um den Ruf der Schule, müsse aufgeklärt und informiert werden, um Schüler zu schützen. Die Schulen verfügten über die Instrumente, müssten diese aber auch nutzen: einerseits die islamistischen Extremisten, die die Regeln verletzten, bestrafen und andererseits das Thema zum Gegenstand im Unterricht, bei Elternabenden und bei Lehrerfortbildungen machen.
Güclü hält die Zunahme von religiös gefärbten Konflikten an Schulen aber auch für ein soziales Problem: „Wenn sich die Problemlagen in den Stadtteilen konzentrieren und gleichzeitig bei der offenen Kinder- und Jugendarbeit gekürzt wird, dann haben es die Rattenfänger sehr viel leichter“, sagt sie. „Da ist Sozialpolitik gefragt, die Jugendliche stärkt und schützt.“ Islamismus kann auch aus Langeweile oder Perspektivlosigkeit wachsen.
Das interne Papier des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung erkennt ein oft wiederkehrendes bestimmtes „biografisches Muster“ bei den bekannt gewordenen Fällen: Ein junger Mensch entwickle aus einer schwierigen familiären Lage heraus das Bedürfnis nach emotionalem und wertemäßigem Halt und wende sich der Religion zu, die in seiner Gruppe eine Rolle spiele und eine auffällige Abgrenzung zum Milieu der Eltern oder der Grundstimmung an der Schule ermögliche – durch Symbolik, Kleidung und Riten. Bei den Jungen kommt oftmals noch eine dicke Schülerakte hinzu. In einem „pubertären Pendelschlag“ würden dann Sittenstrenge und die Ausrichtung an autoritären Leitbildern zu einer radikalen Alternative.
Innerhalb der islamistischen Jugendcliquen gibt es ein klares Freund-Feind-Bild – das stärkt das Gemeinschaftsgefühl junger Menschen. Fundamentalisten bieten Muslimen weltliche Lösungen an für deren irdische Probleme. „Der Islam ist die Lösung“, so rufen es die Salafisten heraus. Aber es ist kein religiöser Ruf. Es geht um Politik. Um den Ausweg junger Muslime aus ihrer Misere in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die viele immer noch ausgrenzt. Die Botschaften der Islamisten tragen wie die Parolen von Neonazis und Linksextremen auch Kapitalismuskritik und Staatshass in sich. Der Islam ist eine Religion, der Islamismus eine politische Ideologie.
Unter dem Einfluss religiöser Eiferer sieht auch ein türkischer Vater in Hamburgs Osten seine eigene Tochter. Sie war 16 Jahre alt, als sie vor ihm stand und sagte: „Papa, ich will ein Kopftuch tragen.“ Sie interessiere sich für den Koran, für die Traditionen und Werte des Islam, habe sie erzählt. Und sie treffe sich jetzt immer mit ein paar Jungs und Mädchen auf dem Schulhof oder abends nach dem Unterricht. Es waren Sätze, die den Vater aufhorchen ließen. Anderthalb Jahre ist das her.
Ende der 1970er-Jahre war der Vater aus der Türkei nach Deutschland gekommen – geflohen vor dem Chaos in der Gesellschaft, wie er sagt. Schon damals habe er erlebt, wie sich unterschiedliche politische und religiöse Gruppen bekämpfen: Rechtextreme, Linksextreme und Islamisten. Heute lebt er mit seiner Frau in Hamburg. Er hat fünf Kinder. Selten geht er in die Moschee. Weder seine Frau noch die ältere Tochter verdecken ihre Haare. „Religion ist Privatsache“, sagt er.
Schon 2009 fiel dem Vater ein Wandel in seinem Stadtteil auf. Eines Abends, erzählt er, sei er die Straße entlang spaziert und habe laute Gebete von Männern in einer der Wohnungen gehört. Im Fußballverein gaben sich ein paar Jungs neue Namen. Sie nannten sich nun „Hamsa“ oder „Assadullah“, der Starke oder der Löwe Gottes. Mit den Namen kamen auch die langen Bärte. Sie erzählten sich von den Internet-Videos mit Pierre Vogel, dem salafistischen Prediger, der auch schon das Handabhacken für Diebe gefordert hat.
Der türkische Vater sah, wie junge Männer den Koran an Straßen-Ständen verteilten. Auch aus der Schule im Stadtteil hörte er, dass Jugendliche Druck ausüben auf andere Mädchen. „Sie nennen Mädchen ohne Kopftuch sogar Schlampe“, erzählt er. Er hörte, dass Jugendliche Gebetsräume fordern – und Lehrer verbal angreifen, wenn sie den jungen Männern das Beten in der Schule verbieten wollen.
Und der Vater glaubt, dass genau diese Jugendlichen auch Druck auf seine Tochter ausgeübt haben. Er ging schon vor Jahren zur Schulleitung, auch zum Jugendarbeitskreis des Bezirks, und warnte vor radikalen Jugendlichen. Aber es sei nichts passiert.
„Meine Kleine, es ist gut, dass du dich mit dem Islam beschäftigst, aber muss die Verschleierung sein?“, fragte er die Tochter. Sie hatte doch gerade ein Praktikum bei einer Bank gemacht, vielleicht könnte sie dort eine Ausbildung anfangen. Aber verschleiert? Der Vater hatte Angst, dass die Tochter sich abgrenzt von der Mehrheitsgesellschaft. Als die Tochter nicht auf den Vater hörte, wollte er ihr das Kopftuch verbieten. „Dann hat sie geweint und mich beschimpft.“ Dass er kein Muslim sei. Im Urlaub habe die Tochter nicht im Meer gebadet wie früher.
Der Vater sagt, manche Jugendliche seien radikal in ihren Ansichten über den Islam. Er sehe sie im Stadtteil. Sie hätten die Muslim-Feindlichkeit in der deutschen Gesellschaft nach den Attentaten von 2001 ausgenutzt und junge, perspektivlose Muslime in ihre Gruppen gelockt. Auch er sagt: Den Extremisten müsse man mit Sozialpolitik begegnen. Die Beschreibung ihrer Kleidung spricht dafür, dass es sogenannte Salafisten sind, mit denen seine Tochter in Kontakt gekommen war: junge Männer mit Häkelmütze und Gewand. Sie imitieren den Propheten auch optisch. Es sind Jugendliche aus afghanischen Familien, sagt er. Aber auch Türken, Libanesen, Russen und Deutsche seien darunter. Ihrem Fundamentalismus ordnen die Salafisten alles andere unter. Sie teilen die Welt in „gut“ und „böse“, hören auf den Koran, in seiner Originalfassung. Eine moderne Auslegung traditioneller religiöser Gebote lehnen sie strikt ab. Viele Muslime sind in Sorge über die Bewegung.
„Lass sie machen“, riet die ältere Tochter dem Vater. Und: „Wir halten alle ein Auge auf sie.“ Seitdem fährt der Vater die Tochter am Nachmittag zu ihren Freundinnen, die auch alle ihre Haare bedecken. Die Tochter geht mit ihnen in die Moschee, sie treffen sich zum Essen. Abends holt der Vater sie wieder ab. Er kenne die Familien, die seien gemäßigt. Die Tochter bete viel, sie mache aber auch ihre Schulaufgaben. Doch was auf dem Schulhof passiere, darüber habe der Vater keine Kontrolle. „Ich habe Angst, dass sie sich radikalisiert.“ Denn Missionsarbeit ist ein Kernelement der Islamisten, vor allem der Salafisten.
Auch die 17 Jahre alte Alicia ist in kurzer Zeit zur Fundamentalistin geworden. Die Eltern hatten zwar Veränderungen an der Berufsschülerin festgestellt. Doch als der Anruf aus der Schule kam, waren sie schockiert: Ob ihnen bekannt sei, dass ihre Tochter in einer Burka – also der Vollverschleierung – zur Schule komme, wollte die Schulleitung wissen. Die Eltern wurden panisch und eilten zur Schule. „Glauben Sie nicht, dass sie die einzige ist, die hier mit Burka erscheint“, hörten sie von einem Schulmitarbeiter. Die Eltern begleiteten ihre Tochter daraufhin eine Zeit lang zur Schule, brachten sie eine Zeit lang ins Ausland, um sie von den Einflüssen abzuschirmen und nahmen sie schließlich von der Schule, die im Stadtteil Horn gelegen ist – teilweise auch gegen den Widerstand des Mädchens. Es hatte sich in einen jungen Mann verliebt, der ihr die streng-religiöse Kleidung vorschrieb.
Mitarbeiter der Schulbehörde suchen derzeit das Gespräch mit allen Schulleitern über religiösen Extremismus. Denn Schulleiter wie Lehrer sind oft unsicher, wie sie mit dem Problem umgehen sollen – auch weil die Islamisten mit großem Nachdruck auf die Religionsfreiheit pochen. Und in dem weitverbreiteten Klima der Angst dürften viele Vorfälle die Schulbehörde gar nicht erreichen. Die Bürgerschaft will sich in der nächsten Sitzung des Schulausschusses am 25. März mit dem Problem der Islamisten und Salafisten an Hamburger Schulen befassen.