Sie treffen sich in Sporthallen in Barmbek, sie versteigern Schmuck oder Handys. Für Syrien. Kaum ein Thema bewegt junge Muslime mehr als der blutige Bürgerkrieg. Einige radikalisieren sich.

Hamburg. Der Deich von Wilhelmsburg ist nur 100 Meter entfernt. An diesem Januarabend parken zahlreiche Autos vor einer Halle, manche mit Hamburger Kennzeichen, andere mit Pinneberger Nummernschildern. Lampen werfen Licht auf ein Schild, in schwarzer Schrift steht dort der Name des Lokals. Ein roter Vorhang verhängt die Tür. Es gibt zwei Eingänge, getrennt nach Geschlecht, vorne für Frauen, an der Seite für Männer. An anderen Tagen finden hier im Festsaal Hochzeiten statt. Heute dringt die Stimme eines Mannes nach draußen. „1800 Euro, 1900 Euro … Gibt es ein Gebot von 2000 Euro?“, ruft er ins Mikrofon. Goldketten, Uhren, Eheringe, Parfüm – all das soll heute unter den Hammer. Der Erlös geht nach Syrien – in das Land, in dem Krieg herrscht. Die Versteigerung läuft schon seit einiger Zeit, es wird dunkel über dem Gewerbegebiet, wo Speditionen und Baufirmen ihre Büros haben.

Männer stehen vor der Tür, manche tragen zauselige Bärte und eine gehäkelte Gebetsmütze, die Frauen verstecken ihre Haare unter Kopftüchern. Sie demonstrieren Frömmigkeit.

Die Organisation Ansaar International mit Sitz in Düsseldorf hat aufgerufen, nach Wilhelmsburg zu kommen und zu spenden. „Benefiz für Syrien“ steht auf einem Plakat. Darauf ist ein Foto gedruckt: Ein Mann sitzt im Schutt eines zerstörten Hauses und hält sich die Hand vor das Gesicht. Ein Sprecher von Ansaar wird später am Telefon erzählen, dass zwischen 300 und 400 Besucher zur Benefizgala gekommen sind. Sie wollen mit dem Geld ein Waisenhaus in Syrien bauen. Welche Summe sie gesammelt haben, sagt er nicht. Der Verfassungsschutz schätzt einen hohen vierstelligen Betrag.

Denn der Geheimdienst beobachtet an diesem Tag die Gala in Hamburgs Süden. Die Ermittler suchen nach Hinweisen, ob die Spenden tatsächlich nur für Medikamente oder Babynahrung für syrische Flüchtlinge gesammelt werden – oder Ansaar gar den bewaffneten Widerstand von Islamisten finanziert.

Kaum etwas bewegt junge Muslime so stark wie der Bürgerkrieg in Syrien. Oppositionelle und Rebellen kämpfen gegen die Truppen des Diktators Baschar al-Assad. Die Zahl der Flüchtlinge könnte in diesem Jahr auf 16 Millionen steigen – fast drei Viertel aller Syrer. Bilder von zerstörten Städten, verletzten Kindern und Leichen nach Chemie-Angriffen gehen um die Welt. Für Hilfsaktionen seien 6,5 Milliarden Dollar erforderlich, so die Vereinten Nationen.

Doch längst sind nicht nur Hilfsorganisationen wie die Uno in Syrien aktiv. Neben Ansaar International ruft vor allem Helfen in Not zu Spenden auf. Es sind junge Muslime, in Deutschland groß geworden, aus Berlin, Köln, Aachen oder Hamburg, die zum Kampf gegen Assad und zu Spenden aufrufen. Die Sicherheitsbehörden zählen sie zu den Islamisten, sie sprechen von Salafisten. „Der politische Salafismus war in Hamburg bis vor Kurzem kaum vertreten“, schreibt das Landesamt für Verfassungsschutz in einem Bericht, der dem Abendblatt vorliegt. Das habe sich geändert – vor allem aufgrund der Spendenaktionen für „islamistische Gruppierungen im syrischen Widerstand“. Salafisten treten vermehrt in Hamburg auf. Ihre Organisationen wie Ansaar oder Helfen in Not haben laut Geheimdienst auch hier Gruppen aufgebaut. Sie nutzen Bilder blutender Kinder in Syrien für ihre politischen und religiösen Ziele.

Im Weltbild der Salafisten gibt es nur einen Maßstab: den „Willen Allahs“. Ihrem Fundamentalismus ordnen sie alles andere unter. Sie teilen die Welt in „gut“ und „böse“, es ist kein Platz für Graustufen. Sie hören auf den Koran, in seiner Originalfassung. Eine moderne Auslegung traditioneller religiöser Gebote lehnen sie strikt ab. Viele Muslime sind in Sorge über die Bewegung, in vielen Moscheen haben Salafisten Gebetsverbot. Wer ein gutes Leben im Sinne der Salafisten führt, kommt ins Paradies. Anderen droht die Hölle. Zum guten Leben gehört für die Bewegung von Ansaar oder Helfen in Not Opferbereitschaft für die „ muslimischen Brüder und Schwestern“ in Syrien. In der salafistischen Propaganda im Internet finden sich regelmäßig Spendenaufrufe – gleich neben Sympathiebekundungen für den bewaffneten Widerstand. Fließt das Geld aus den Benefizgalas auch an bewaffnete Kämpfer in Syrien? Der Geheimdienst sagt: „Die Grenzen zwischen dem politischen Salafismus und dem dschihadistischen Salafismus verschwimmen zunehmend.“

An einem Mittwoch vor wenigen Wochen füllt sich die Sporthalle einer Grundschule in Barmbek. Frauen tragen schwarze Gewänder, hier sind alle verhüllt. Auf einem rosa Flyer wirbt Helfen in Not – Team Hamburg für das „Benefizevent für Schwestern“. Auf dem Programm: Modenschau, Versteigerungen, Kaffee und Kuchen. Die Gruppe zeigt später Fotos im Internet. An Haken hängen Gewänder, auf Gartentischen liegt Schmuck aus, Torten stehen zum Verkauf, „halal“ gebacken, nach den Vorschriften des Islam.

„Am Ende konnte mit dieser Torte eine Spendeneinnahme von ca. 750 Euro erreicht werden, alhamdulilah“, kommentieren die Organisatoren („Allah sei Dank“). Auch ein Gastredner wird an diesem Tag live in die Sporthalle übertragen: Abu Abdullah, ein junger Mann. Er trägt Gewand und Kopftuch. In Internetvideos preist er „Allah“ an. Seine Themen: „Die Dunkelheit des Grabes“, „Was mich erwartet im Paradies“, „Die Hölle“ oder aber „Der Kampf in Syrien“. In einem Video hetzt er gegen Alewiten, eine muslimische Glaubensrichtung, der auch Diktator Assad angehört. Dabei agitiert Abdullah auch gegen Juden und Christen. „Der Krieg in Syrien ist ein Krieg der Muslime gegen die Kafir.“ Die Kafir, das sind die „Ungläubigen“. Abdullah ruft in dem Video nicht zum bewaffneten Kampf auf. Aber seine Worte machen den Syrien-Konflikt zum „Heiligen Krieg".

Und Abdullah taucht in einem Video der Vereinigung An-Nusrah auf. Wieder wirbt er in martialischer Rhetorik für Spenden. An-Nusrah wurde vor knapp einem Jahr vom Bundesinnenminister verboten. Der Verein richte sich gegen die „verfassungsmäßige Ordnung und gegen den Gedanken der Völkerverständigung“.

Abu Abdullah, Ibrahim Abou Nagie, Pierre Vogel, Abu Dajana, Ebu Tejma – sie treten als Prediger bei Benefizaktionen von Helfen in Not auf. Die Szene braucht Gesichter und Parolen. Vogel ist ihr prominentester Prediger. Im Dezember warb er vor 300 Zuhörern auf dem Hansa-Platz in Hamburg für Spenden für Syrien. In einem Video im Internet fordert er, einem Dieb als Strafe die Hand abzuhacken. Der Hassprediger Ebu Tejma ruft im Internet auf, die „Feinde Allahs“ zu verjagen. Dafür solle jeder „Muslim“ trainieren – laufen, Kampfsport, schießen. Auch das ist die Sprache der Salafisten.

2013 verzeichneten die Sicherheitsbehörden bundesweit 5500 Salafisten, 2012 waren es 3800 – eine verschwindende Minderheit unter den mehr als vier Millionen Muslimen in Deutschland. Doch auch in Hamburg stieg die Zahl der Salafisten: von 200 (2012) auf derzeit 240. Experten unterscheiden mehrere Gruppen: „Viele sind fundamentalistisch in ihrem Glauben, aber nicht politisch“, sagt Claudia Dantschke. Sie leitet die Beratungsstelle „Hayat“ in Berlin, finanziert vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Andere sogenannte Salafisten würden politisch für einen Gottesstaat werben. „Nur wenige sehen Gewalt tatsächlich als legitimes Mittel für ihre Ideologie an.“

Der Hamburger Verfassungsschutz stuft ein gutes Drittel der 240 Salafisten als „besonders Dschihad-affin“ ein. Bisher seien 25 Personen aus dem Raum Hamburg aufgebrochen. Ihr Ziel: Syrien. Nicht alle wollen in das Bürgerkriegsland, um im „Heiligen Krieg“ zu kämpfen. Manche bringen Medikamente oder Decken. Andere wollen dort leben, weil sie auf einen islamischen Gottesstaat nach dem Sturz Assads hoffen. „Manche holen ihre Familien nach Syrien“, sagt Dantschke.

So wird eines deutlich: Die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden darüber, was junge radikalisierte Muslime in Syrien machen, sind dünn. Gleiches gilt für die Empfänger der Spenden. So sagt ein Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden dem Abendblatt, dass man nicht wisse, wer die Spenden erhalte und ob damit auch Waffen gekauft würden. Alle Zahlen sind Schätzungen, die Dunkelziffern könnten deutlich höher liegen. Es bleiben Vermutungen.

Sobald die jungen Leute aus Hamburg, Köln oder Frankfurt über die Grenze gereist sind, entziehen sie sich den Beobachtern. Spuren sind oft nur Videobotschaften oder Fotos, die sie aus Syrien ins Internet stellen. Und die Videos der Prediger und Organisatoren.

Ansaar International hat Dutzende Filme auf ihre Internetseite oder bei Facebook ins Netz gestellt. Sie dokumentieren einen Brunnenbau in Afrika, Bauprojekte in Palästina oder den Transport von ausgemusterten Krankenwagen über die Türkei nach Syrien. Auf der Veranstaltung in Wilhelmsburg sollen sie den Besuchern das Video „Syrien Nothilfe Doku 5 – Teil 3“ gezeigt haben. Eine wackelige Kamera führt hinter einem Mann durch ein Flüchtlingslager bei Helfaya, im Dezember starben nach Angaben der Opposition hier 90 Menschen bei einem Luftangriff von Assads Armee. Später in dem Film verteilen junge Männer mit rheinischem Dialekt Plastiktüten mit Kuscheltieren und Windeln an Frauen und Kinder. Dann besuchen sie eine Krankenstation und zeigen Kinder mit amputierten Beinen. Und immer ruft eine Stimme hinter der Kamera auf zu spenden. Im Namen Allahs. Dazu läuft pathetische Musik: „Allah, I call you. I need you!“

200 Personen engagieren sich für Ansaar International Düsseldorf, sagt ein Sprecher der Organisation am Telefon. 50 Mitglieder arbeiten aktiv. Elf Veranstaltungen hätten sie bereits organisiert in Deutschland. Bewaffneten Kampf lehne Ansaar ab. Der Sprecher widerspricht Vorwürfen, man unterstütze Kämpfer. Es gebe zwar Reden von Predigern auf den Veranstaltungen, aber man halte sie dazu an, möglichst nicht über Syrien oder Politik zu referieren. Dennoch gibt der junge Mann zu: „Uns rufen Leute an, die nach Syrien wollen.“ Ob Ansaar sie nicht mitnehmen könne. „Manchmal sind es fünf dieser Anrufe pro Tag, manchmal meldet sich zwei Wochen niemand.“ Aber damit wolle man nichts zu tun haben. Ansaar liefere Brot, keine Waffen oder Krieger. Auch den Begriff „Salafist“ lehnt er ab. Man sei Muslim. Baschar al-Assad nennt er einen „Tyrannen, der sein Volk abschlachtet“.

Vieles aus dem Mund des Sprechers klingt nach dem, was die Sicherheitsbehörden auch von anderen extremen Jugendbewegungen kennen – Linken wie Rechten: Man selbst sei Opfer einer Kampagne der Medien, man stehe auf der Seite der Gerechten, im Kampf gegen das Böse. Und wie bei anderen Jugendlichen geht es auch radikalen Muslimen um die Suche nach Identität und Orientierung in einer Gesellschaft, in der sie meist nur mit Mühe Anschluss finden. Islamismus-Expertin Dantschke nennt das „Pop-Dschihadismus“. Dabei seien gerade die besonders religiös erzogenen Jugendlichen am wenigsten anfällig für Extreme. Für viele gehe es in den salafistischen Gruppen daher nicht so sehr um Glaube, sondern das Gemeinschaftsgefühl und die Anführer, die Autorität ausstrahlen. „Wer tatsächlich in den Krieg zieht, ist unklar.“

Gökhan C. aus Pinneberg ist in den Krieg nach Syrien gezogen. Und dort gestorben. Sein Kampfname war „Asadullah“ – der Löwe Gottes. Wie der 25-Jährige ums Leben kam, ist nicht geklärt. Mit einem Glaubensbruder soll er Ende Juli 2013 über die Schweiz und die Türkei in Richtung Syrien aufgebrochen sein. Auf eigene Faust, davon geht der Verfassungsschutz bisher aus. Der NDR berichtete, dass sich C. der al-Qaida-nahen Nusra-Front im Kampf angeschlossen hatte. Belege haben die Sicherheitsbehörden dafür nicht.

Vor seiner Ausreise war Gökhan C. Mitglied der inzwischen verbotenen Salafisten-Gruppe Millatu Ibrahim. Sie trat für den Dschihad ein. C. hatte ein Profil im Internet. Das Bild zeigt die Silhouette eines Muslims mit Bart und Gebetsmütze. Kurz vor seiner Abreise streitet er auf Facebook mit einem Nutzer über den Krieg in Syrien. Asadullah schreibt ihm: „Deine Aussage zeigt, dass dein Herz nicht brennt wenn anderen Muslimen Leid zugefügt wird ...“