Alle fünf Fraktionen der Bürgerschaft und die Volksinitiative gegen das „Turbo-Abitur“ standen sich im Verfassungsausschuss unversöhnlich gegenüber. Eine Einigung gilt derzeit als unwahrscheinlich.
Schon die Tatsache dieses diskreten Treffens ist bedeutsam, und die Beteiligten legten verständlicherweise keinen Wert darauf, es an die große Glocke zu hängen. Am Mittwochabend suchten die drei Vertrauensleute der Volksinitiative „G9-Jetzt-HH“ – Mareile Kirsch, Eva Terhalle-Aries und Ulf Ohms – und G9-Aktivistin Stefanie Krüger die Räume der SPD-Bürgerschaftsfraktion im Rathaus auf. Dort warteten SPD-Fraktionschef Andreas Dressel, der schulpolitische Sprecher Lars Holster und die Verfassungspolitikerin Barbara Duden auf die Besucher.
Zweieinhalb Stunden saßen die Sieben zusammen – zum zweiten Mal übrigens –, um mögliche Kompromisse auszuloten: Hart und unversöhnlich in der Sache stehen sich Bürgerschaft und Initiative bislang gegenüber. Die flächendeckende (Wieder-)Einführung des neunjährigen Wegs zum Abitur (G9) am Gymnasium und die Wahlfreiheit zwischen G8 („Turbo-Abitur“) und G9 an allen Standorten lehnen alle fünf Fraktionen ab. Bis Anfang März läuft die Frist, innerhalb der die Bürgerschaft erklären muss, ob sie das Anliegen der Volksinitiative übernimmt oder nicht. Derzeit spricht zwar nicht viel dafür, aber Gespräche können ja helfen. In jedem Fall wird es bei dem Treffen im Rathaus auch darum gegangen sein zu versuchen, Animositäten abzubauen.
G9-Frontfrau Mareile Kirsch hatte am Montagabend im Verfassungsausschuss der Bürgerschaft, wo die Initiative ihr Anliegen präsentierte, heftige Vorwürfe an die Adresse der Abgeordneten gerichtet. „Man spürt, dass Demokratie hier unerwünscht ist“, sagte Kirsch. Anlass für diesen erstaunlichen Vorwurf gegenüber einem Parlament war der Umstand, dass die Initiative nicht von dem fachlich zuständigen Schul-, sondern eben vom Verfassungsausschuss angehört wurde. Die G9-Initiatorin sieht sich in ihren Rechten eingeschränkt und äußerte verfassungsmäßige Bedenken, ob das Vorgehen der Bürgerschaft überhaupt zulässig sei.
Wer derart starke Geschütze auffährt, darf sich nicht wundern, dass einige Abgeordnete verschnupft reagierten. Umgekehrt empfanden die G9-Aktivisten manche Wortmeldung von Abgeordneten als pure Provokation. Alle Fragen der Politiker danach, wie sich die Initiative die Umsetzung ihrer Forderung konkret vorstelle, wiesen Kirsch und ihre Mitstreiter zurück. „Die Umsetzung ist Aufgabe der Politik. Wir vertreten die Interessen der Kinder“, sagte Mareile Kirsch knapp. „Wir sind eine Volksinitiative und werden weiter Stimmen sammeln.“
Das legt nahe, dass die Initiative selbst nicht mit einer Einigung rechnet. Die Entschlossenheit, das Volksbegehren als nächste Stufe anzugehen, dokumentierten die Initiatoren auch dadurch, dass sie bereits Unterschriftenlisten im Kaisersaal ausgelegt hatten. Dass sich Kirsch zur Sachwalterin der Interessen aller Kinder und Eltern erklärte, fand mancher Abgeordneter doch etwas anmaßend, denn bislang spricht die Initiative nur für die gut 17.000 wahlberechtigten Hamburger, die die Forderung nach G9 mit ihrer Unterschrift unterstützt haben. Aller klaren Kante der Turbo-Abi-Gegner zum Trotz gibt es noch ein kleines Problem. Die Volksinitiative bittet die Bürgerschaft per Antrag um eine Fristverlängerung, will also etwas von ihr. Es geht um die Möglichkeit, das Volksbegehren außerhalb der Sommerferien durchzuführen. Innerhalb von drei Wochen müssen rund 65.000 Unterschriften gesammelt werden. Die Chance, dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, ist erheblich höher, wenn nicht ein Großteil der Familien mit schulpflichtigen Kindern verreist ist.
Derzeit ist noch nicht entschieden, ob die Bürgerschaft dem Antrag zustimmen wird. Trotz der inhaltlichen Kontroverse wäre es allerdings politisch unklug, wenn sich das Parlament verweigern würde. Der Vorwurf, hier solle mit „Tricksereien“ eine ungeliebte Volksinitiative zum Scheitern gebracht werden, wäre sofort da. Bislang haben sich nur die FDP-Schulpolitikerin Anna von Treuenfels und Walter Scheuerl, parteiloser Abgeordneter der CDU-Fraktion und Kopf des erfolgreichen Volksentscheids gegen die Primarschule, klar für die Stimmensammlung außerhalb der Sommerferien ausgesprochen.
Pikant ist die Lage in der CDU-Fraktion: Offen wie nie zuvor sind die Differenzen zwischen Scheuerl einerseits und den Schulpolitikern Karin Prien und Robert Heinemann andererseits in dieser Woche zutage getreten. Scheuerl erklärte in der Ausschusssitzung seine Sympathie für die Rückkehr zu G9 am Gymnasium und stellte sich damit gegen die von Prien und Heinemann vertretene Fraktionslinie. Prien traf dieses „Outing“ unvorbereitet, und man konnte Überraschung und Missgefallen ihrer Miene durchaus ansehen. „Scheuerl kann man nicht wirklich einbinden, aber er ist eine Bereicherung für die CDU-Fraktion“, sagt Heinemann. „Ich finde es schade, dass es für ihn jetzt sicherlich nicht einfacher wird, auf die CDU-Liste zur nächsten Bürgerschaftswahl zu kommen.“ Scheuerl hatte intern Interesse signalisiert, erneut für das Parlament zu kandidieren.
Zumindest in einem Punkt dürften die Differenzen bald ausgeräumt sein. Es zeichnet sich ab, dass Karin Prien der Fraktion vorschlagen wird, dem Antrag auf Fristverlängerung zuzustimmen. Ein zentrales Argument könnte sein, dass über eine schulpolitische Frage nicht ausgerechnet in den Sommerferien entschieden werden sollte.
Die SPD macht eine Zustimmung zur Fristverlängerung davon abhängig, ob es substanzielle Fortschritte in den Gesprächen mit der Initiative gibt – ob eine Einigung also überhaupt denkbar ist. Die dürfte noch in weiter Ferne liegen, auch wenn die Teilnehmer des Treffens in der SPD-Fraktion Stillschweigen vereinbart haben. „Aber so verhärtet wie im Verfassungsausschuss waren die Gespräche nicht“, sagte Mareile Kirsch. Immerhin.