Michael Neumann erklärt im Abendblatt-Interview, wie die umstrittene Entscheidung zustande kam. Und er ärgert sich, dass die Angriffe auf Polizisten ohne jeden Beweis infrage gestellt werden.

Hamburg. Die Ausweisung von St.Pauli, Sternschanze und Teilen Altonas als Gefahrengebiet ist bundesweit ein großes Thema. Hinzu kam die Frage, wer die Entscheidung für diese Maßnahme eigentlich getroffen hat. Das Abendblatt sprach darüber mit Innensenator Michael Neumann (SPD).

Hamburger Abendblatt:

Wer hat entschieden, das größte Gefahrengebiet in der Geschichte der Stadt einzurichten?

Michael Neumann:

Die Polizei hat die Entscheidung getroffen, wie es ihr laut Gesetz auch obliegt. Und sie hat anschließend mich darüber informiert.

Es fällt schwer zu glauben, dass Sie bei einer so hochpolitischen Entscheidung nur informiert werden und nicht involviert waren.

Neumann:

Die Überlegungen der Polizei zur Einrichtung eines Gefahrengebietes wurden der Behördenleitung vorgestellt und von ihr bewertet. Formal ist es eine Entscheidung der Polizei. Aber natürlich unterstütze ich sie politisch.

Also war die Innenbehörde an dem Beschluss doch beteiligt?

Neumann:

Ja, aber es gab keine politische Vorgabe oder einen Arbeitsauftrag aus der Behördenleitung, ein Gefahrengebiet auszuweisen. Es war eine fachlich begründete Initiative, die aus der Polizei kam. Und das ist auch richtig so.

War der Bürgermeister involviert?

Neumann:

Nein, der Bürgermeister war nicht involviert. Aber es ist eine Nachricht an das Bürgermeisterbüro gegangen, dass die Polizei ein solches Gefahrengebiet ausweisen wird.

Warum war der Polizeipräsident Wolfgang Kopitzsch an der Entscheidung nicht beteiligt?

Neumann:

Zum einen war er beteiligt, und zum anderen hat der Polizeivizepräsident die Maßnahme vorgestellt.

Herr Kopitzsch hatte dienstfrei, als die Entscheidung getroffen wurde, und wurde lediglich informiert. Muss der Chef der Polizei in so eine weitreichende Entscheidung nicht involviert sein?

Neumann:

Er ist informiert worden und hat auch seine Meinung dazu gesagt. Er trägt die Entscheidung inhaltlich voll mit. Wie aber Telefonate zwischen ihm und seinem Vizepräsidenten verliefen, dazu kann ich nichts sagen.

Herr Kopitzsch kommt bald ins pensionsfähige Alter. Er könnte darüber hinaus noch im Amt bleiben. Wie lange wird er noch Polizeipräsident bleiben?

Neumann:

Der Polizeipräsident ist so lange Polizeipräsident, wie er Polizeipräsident ist.

Das hängt ja auch von Ihrem Wohlwollen ab.

Neumann:

Er wäre nicht Polizeipräsident, wenn ich ihn nicht haben wollte. Ich setze ihn schließlich ein.

Wird Herr Kopitzsch mit 65 Jahren in Pension gehen oder über die Altersgrenze hinaus verlängern?

Neumann:

Herr Kopitzsch ist unser Polizeipräsident.

Kommen wir zur inhaltlichen Bewertung. Die Einrichtung des Gefahrengebietes war die weitreichendste innenpolitische Entscheidung der vergangenen Jahre. Warum war sie nötig?

Neumann:

Diese weitreichende polizeiliche Maßnahme gründet sich auf eine vergleichsweise einmalige Situation, was die Gewalt und deren Eskalation in der Stadt angeht. Dass der Tod von Polizisten zumindest billigend in Kauf genommen wird, das haben wir in dieser Dimension noch nicht erlebt. Deshalb auch eine deutliche Maßnahme. Aber weder die Einrichtung noch die Reduzierung des Gefahrengebietes folgt einer politischen Erwartung. Sie ist polizeifachlich begründet.

Für Verwirrung hat eine Aussage von Ihnen im Innenausschuss gesorgt, nach der es egal sei, ob der Polizist, der mit dem Stein attackiert wurde, von einem politisch motivierten Gewalttäter oder einem betrunkenen Kiezgänger verletzt wurde. Aber es macht doch einen großen Unterscheid bei der Frage nach der Einrichtung eines Gefahrengebiets.

Neumann:

Man muss die Aussage im Kontext sehen. Ich habe gesagt, dass für den verletzten Beamten persönlich die Motivationslage des Täters keinen Unterschied macht. Und die kenne ich auch erst, wenn wir den Täter haben. Aber zerbrochene Gehwegplatten gehören selten zur Grundausstattung von Kiezgängern. Also vermuten wir zum jetzigen Zeitpunkt einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen den Ausschreitungen bei der Demonstration und den Angriffen auf die Polizeiwachen.

Was haben Sie und die Polizei sich von diesem großen Gefahrengebiet erhofft?

Neumann:

Die Polizei hatte das Ziel, Präsenz zu zeigen und die Sicherheit für die Bevölkerung und die Dienststellen und öffentliche Einrichtungen wiederherzustellen, die immer wieder Ziele von Angriffen geworden sind.

Was wurde aus Ihrer Sicht erreicht?

Neumann:

Die Ausweisung des Gefahrengebiets war ein Erfolg. Wir haben 800 Menschen kontrolliert und mussten 180 Platzverweise und Aufenthaltsverbote aussprechen. Es wurden diverse Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz festgestellt. Da ist immer verniedlichend von „Polen-Böllern“ die Rede, weil sie aus Polen kommen und dort erlaubt sind. Aber die sind extrem gefährlich, da ist richtig Sprengstoff drin. Deswegen sind sie bei uns verboten. Das zerreißt Polizei-Uniformen, und sogar Protektoren.

Und wo ist der nachhaltige Effekt für die Sicherheitslage in Hamburg? Die überprüften Menschen sind alle wieder auf der Straße, und die Böller können sie sich im Internet neu besorgen.

Neumann:

Der nachhaltige Effekt besteht darin, dass wir kaum noch Böller und Schlaginstrumente gefunden haben, je länger die Kontrollen anhielten. Attacken auf Polizeiwachen hat es auch nicht mehr gegeben. Deswegen haben wir die Gefahrengebiete auf das Umfeld der drei Wachen reduziert.

Wäre das nicht mit weniger drastischen Maßnahmen zu erreichen gewesen?

Neumann:

Was hätten wir denn machen sollen? Wir hatten die Situation, dass mehrfach Polizeiwachen überfallen und Beamte grundlos schwer verletzt worden sind. Sollen wir dann sagen, das ist halt so, dann bauen wir dickere Fenster ein und lassen die Polizisten in Panzerwagen durch die Stadt fahren? Ich verstehe die Aufregung nicht. Es hieß, wir würden 50.000 Menschen unter Generalverdacht stellen, aber kontrolliert haben wir 800. Wissen Sie, wie viele Menschen wir in der Nacht auf Montag kontrolliert haben, ohne Anlass?

Sagen Sie es uns.

Neumann:

2000 – Autofahrer. Von denen hat sich niemand aufgeregt. Wir kontrollieren in dieser Stadt ständig Autofahrer, ob sie zu schnell fahren oder getrunken haben. Und wir haben im Hauptbahnhof das Recht der Bundespolizei, Menschen jederzeit zu kontrollieren. Das gilt übrigens auf allen Strecken der Bahn AG. In diesen Fällen sehen die Menschen ihre Freiheitsrechte nicht eingeschränkt. Umso mehr wundert es mich, dass diese Maßnahme jetzt solche Wellen schlägt. Ich kann mir das nur damit erklären, dass wir eine irrationale Dynamik in geringen Teilen der Gesellschaft haben.

Was meinen Sie mit irrational?

Neumann:

Dass ein Rechtsanwalt wie Herr Beuth ohne jeden Beweis in einigen Veröffentlichungen einen höheren Stellenwert erhält als die Aussagen von Polizisten und Staatsanwälten, dass infrage gestellt wird, dass es überhaupt einen Angriff gegeben hat, das zeigt doch, dass die Maßstäbe völlig verschoben sind.

Es gibt aber nicht nur den Anwalt der Roten Flora, sondern auch die andere Seite, die nun die Einführung von Elektroschockern und Gummigeschossen bei der Polizei fordert. Was halten Sie davon?

Neumann:

Wir werden keine neuen Waffen einführen. Äußerungen, die zu einer Verschärfung der Lage führen, sind nicht hilfreich. Mein Rat: Alle mal einen Gang runterschalten.

Auch die US-Botschaft?

Neumann:

Wissen Sie, wovor die US-Botschaft warnt? Sie weist darauf hin, dass in Hamburg friedliche Demonstrationen sehr schnell unkontrolliert in gewaltsame Demonstrationen ausarten können und dass deswegen kontrolliert wird. Sie warnt nicht vor den polizeilichen Maßnahmen.

Die bundesweit veröffentlichte Meinung über die Lage in Hamburg war dennoch verheerend. Würden Sie diese Maßnahme genau so wieder ergreifen?

Neumann:

Ja, ich vertraue der Lageeinschätzung unserer Polizei.

Ist das nicht rein symbolisch? Sie mussten zeigen, dass sie sich diese Gewaltexzesse nicht gefallen lassen. Also haben Sie dieses Signal an die Öffentlichkeit gegeben, wohlwissend, dass es an der Lage auch nichts ändert.

Neumann:

Jetzt wird es fatalistisch. Mit der Argumentation bräuchten wir Schwarzfahrer, Einbrecher und Drogenhändler auch nicht mehr zu verfolgen, weil es von denen immer welche geben wird. Man kann die Kriminalität nie ganz besiegen, aber deswegen dürfen wir doch nicht aufhören, sie zu bekämpfen. Also: Nein, es geht ausdrücklich nicht um Symbole. Es geht darum, der Gewalt entgegenzutreten.

Wenn das nicht gelingt: Würden Sie das Gefahrengebiet dann wieder ausweiten?

Neumann:

Die rechtliche Möglichkeit besteht natürlich. Ich hoffe aber, dass man zu einem friedlichen Umgang zurückkehrt. Die Initiativen der Bürgerschaft und den Abendblatt-Aufruf gegen Gewalt begrüße ich ausdrücklich.

Was war aus Ihrer Sicht der Grund dafür, dass die Lage im Dezember eskaliert ist?

Neumann:

Menschen, die Gewalt ausüben wollten, haben die Diskussionen über die Esso-Häuser, über Arbeitsmigranten aus Westafrika und die Rote Flora missbraucht. Man sollte diese Menschen nicht dadurch adeln, dass man ihnen politische Motive unterstellt. Die Frage nach der tieferen Ursache, warum Menschen so voller Hass gegen Staat und Gesellschaft sind, ist eine Herausforderung.

Die SPD leidet unter dem Trauma, 2001 wegen zu lascher Innenpolitik abgewählt worden zu sein. Inwiefern prägen diese Erfahrungen Ihr heutiges Handeln?

Neumann:

Erstens: Wenn die SPD 2001 nicht wegen der Innenpolitik abgewählt worden wäre, wäre sie wegen Bildungspolitik oder anderer Themen abgewählt worden. Die SPD hatte sich in zu vielen Politikfeldern selbst überlebt. Zweitens: Ich sehe kein Trauma. Wir haben heute eine völlig andere Lage. Der Angriff auf die Polizisten ist kein Angriff auf die SPD, sondern auf unsere Gesellschaft. Und das erfordert eine Antwort der gesamten Gesellschaft.